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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Hilty

pikt
et hat in Übereinstimmung mit dem ganzen klassischen Alter¬
tum die Philosophen für eine besondre Menschenklasse erklärt,
die sich von den "Uneingeweihten" deutlich unterschieden, u. a,
dadurch, daß sie jeden Nutzen und Schaden von sich selbst, diese
aber jeden Vorteil und Nachteil nur von äußern Dingen er¬
warteten. Hilty, der dieses alten Stoikers Handbüchlein übersetzt und in das
erste Bändchen seines berühmten Werkchens") aufgenommen hat, stimmt ihm
darin bei und meint, die heutigen Philosophen seien nicht die Männer, die sich
so nennen, sondern andre, meist unbekannte Leute, nicht wenige trügen Uniform;
die heute sogenannten Philosophen verbauten den Zugang zur Wahrheit dnrch
unerträgliches Theoretisieren; sie erdrückten den Suchenden mit einem Wust
von Beweisen und Spitzfindigkeiten, und das Wesentliche, die Antwort auf die
Frage, was der Mensch zu thun habe, brächten sie zu spät oder gar nicht;
jedenfalls aber fehle es an der Hauptsache, am Beispiel. Darin berührt er
sich nun mit seinem Antipoden Nietzsche, der auch meint, wir hätten wohl genug
Leute, die philosophische Bücher schrieben, aber keine Philosophen mehr. Freilich
hat gerade Nietzsche den Zugang zur Wahrheit ärger verbaut als irgend ein
andrer Philosoph; und hat er anders gelebt als die gewöhnlichen Menschen,
so ist doch seine Lebensweise nicht als Beispiel zu empfehlen. Hilty dagegen
zeigt einen gangbaren Weg zur Wahrheit, und seine Schriften machen nicht
den Eindruck des Theoretisierens; mau gewinnt beim Lesen die Überzeugung,
daß man persönliche Lebenserfahrung vor sich hat, und daß der Verfasser ein
wirklicher Philosoph ist. Als solcher muß er zu den bedeutendsten Erscheinungen
unsrer Zeit gerechnet werden, um so mehr, als der Weg, den er zeigt, ein
christlicher ist. Heute fragen die Geister nicht mehr mit Strauß: sind Nur
noch Christen? sondern: Wie werden wir Christen? oder wenigstens: Wie



*) Glück. Vom ersten Bändchen licmilze ich die zweite, von den andern beiden die erste
Auflage.
Grenzboten I 1900 8


Hilty

pikt
et hat in Übereinstimmung mit dem ganzen klassischen Alter¬
tum die Philosophen für eine besondre Menschenklasse erklärt,
die sich von den „Uneingeweihten" deutlich unterschieden, u. a,
dadurch, daß sie jeden Nutzen und Schaden von sich selbst, diese
aber jeden Vorteil und Nachteil nur von äußern Dingen er¬
warteten. Hilty, der dieses alten Stoikers Handbüchlein übersetzt und in das
erste Bändchen seines berühmten Werkchens") aufgenommen hat, stimmt ihm
darin bei und meint, die heutigen Philosophen seien nicht die Männer, die sich
so nennen, sondern andre, meist unbekannte Leute, nicht wenige trügen Uniform;
die heute sogenannten Philosophen verbauten den Zugang zur Wahrheit dnrch
unerträgliches Theoretisieren; sie erdrückten den Suchenden mit einem Wust
von Beweisen und Spitzfindigkeiten, und das Wesentliche, die Antwort auf die
Frage, was der Mensch zu thun habe, brächten sie zu spät oder gar nicht;
jedenfalls aber fehle es an der Hauptsache, am Beispiel. Darin berührt er
sich nun mit seinem Antipoden Nietzsche, der auch meint, wir hätten wohl genug
Leute, die philosophische Bücher schrieben, aber keine Philosophen mehr. Freilich
hat gerade Nietzsche den Zugang zur Wahrheit ärger verbaut als irgend ein
andrer Philosoph; und hat er anders gelebt als die gewöhnlichen Menschen,
so ist doch seine Lebensweise nicht als Beispiel zu empfehlen. Hilty dagegen
zeigt einen gangbaren Weg zur Wahrheit, und seine Schriften machen nicht
den Eindruck des Theoretisierens; mau gewinnt beim Lesen die Überzeugung,
daß man persönliche Lebenserfahrung vor sich hat, und daß der Verfasser ein
wirklicher Philosoph ist. Als solcher muß er zu den bedeutendsten Erscheinungen
unsrer Zeit gerechnet werden, um so mehr, als der Weg, den er zeigt, ein
christlicher ist. Heute fragen die Geister nicht mehr mit Strauß: sind Nur
noch Christen? sondern: Wie werden wir Christen? oder wenigstens: Wie



*) Glück. Vom ersten Bändchen licmilze ich die zweite, von den andern beiden die erste
Auflage.
Grenzboten I 1900 8
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[0065] [Abbildung] Hilty pikt et hat in Übereinstimmung mit dem ganzen klassischen Alter¬ tum die Philosophen für eine besondre Menschenklasse erklärt, die sich von den „Uneingeweihten" deutlich unterschieden, u. a, dadurch, daß sie jeden Nutzen und Schaden von sich selbst, diese aber jeden Vorteil und Nachteil nur von äußern Dingen er¬ warteten. Hilty, der dieses alten Stoikers Handbüchlein übersetzt und in das erste Bändchen seines berühmten Werkchens") aufgenommen hat, stimmt ihm darin bei und meint, die heutigen Philosophen seien nicht die Männer, die sich so nennen, sondern andre, meist unbekannte Leute, nicht wenige trügen Uniform; die heute sogenannten Philosophen verbauten den Zugang zur Wahrheit dnrch unerträgliches Theoretisieren; sie erdrückten den Suchenden mit einem Wust von Beweisen und Spitzfindigkeiten, und das Wesentliche, die Antwort auf die Frage, was der Mensch zu thun habe, brächten sie zu spät oder gar nicht; jedenfalls aber fehle es an der Hauptsache, am Beispiel. Darin berührt er sich nun mit seinem Antipoden Nietzsche, der auch meint, wir hätten wohl genug Leute, die philosophische Bücher schrieben, aber keine Philosophen mehr. Freilich hat gerade Nietzsche den Zugang zur Wahrheit ärger verbaut als irgend ein andrer Philosoph; und hat er anders gelebt als die gewöhnlichen Menschen, so ist doch seine Lebensweise nicht als Beispiel zu empfehlen. Hilty dagegen zeigt einen gangbaren Weg zur Wahrheit, und seine Schriften machen nicht den Eindruck des Theoretisierens; mau gewinnt beim Lesen die Überzeugung, daß man persönliche Lebenserfahrung vor sich hat, und daß der Verfasser ein wirklicher Philosoph ist. Als solcher muß er zu den bedeutendsten Erscheinungen unsrer Zeit gerechnet werden, um so mehr, als der Weg, den er zeigt, ein christlicher ist. Heute fragen die Geister nicht mehr mit Strauß: sind Nur noch Christen? sondern: Wie werden wir Christen? oder wenigstens: Wie *) Glück. Vom ersten Bändchen licmilze ich die zweite, von den andern beiden die erste Auflage. Grenzboten I 1900 8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/65>, abgerufen am 02.07.2024.