Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Im ersten Augenblick wollten Herr und Frau Noberjot aufsteigen und fliehn,
sie waren aber erst einige Schritte gegangen, als nichts mehr deutlich zu hören
war. Das machte den Minister andern Sinnes. Er sagte seiner Frau, es sei
wohl nichts vorgefallen -- wahrscheinlich sei man aufgestiegen, um die Brücke
zu passieren, es sei nichts zu fürchten, und sie könnten zum Wagen zurückkehren.
Das geschah denn auch -- während sie aber noch vor dem Wagen standen,
kamen Husaren herbei, die sie umringten, ihnen ihre Uhren und ihr Geld ab¬
forderten und dasselbe von dem Diener und dem Kutscher verlangten, indem
sie sie zugleich fragten, wo der Minister Noberjot sei. Dann zeigten sie auf
diesen hin und richteten die Frage: "Minister? Minister?" an ihn. Noberjot
antwortete: "Ja meine Freunde, ich bin der Minister Noberjot." Sie ließen
ihn sodann wiederholen, daß er der Minister sei, als sie dessen aber sicher ge¬
worden waren, rissen sie ihn aus den Armen seiner Fran, die ihn nicht ver¬
lassen hatte, packten ihn am Kragen und an den Haaren, um ihn zwei Schritte
fortzuschleppen und sodann unbarmherzig niederznsübeln. Noberjot stieß keinen
andern Laut als den Ruf: "Meine Frau, meine Frau" aus, und wiederholte
das bis zu seinem letzten Atemzuge. Als er in Blut gebadet aus der Erde
lag, stürzten sich die Barbaren auf ihn, um auf ihn loszuhacken, bis er zu
atmen aufgehört hatte. In höchster Verzweiflung verlangte Frau Noberjot
das Los ihres Mannes zu teilen, und mit dem wenigen Deutsch, das sie
konnte, bat sie die Ungeheuer zu wiederholten malen, sie zu töten. Der
Postillon lind der Diener haben das ausdrücklich bezeugt. Der Diener, der
seine Herrin nicht verlassen wollte, zerrte sie in den Wagen, sprang selbst hinein
und schloß den Wagenschlag zu, während die Nicdermetzlung des Münsters
noch fortdauerte. Er hielt ihr die Ohren zu, damit sie die gegen den Leichnam
geführten Hiebe nicht höre. Frau Noberjot rief immer wieder, sie wolle sterben --
"Laßt uns gemeinsam den Tod erleiden!" Nach beendeter Blutthat ließ mau
indessen den Wagen umwenden, der unter dein Geleit derselben Leute eintraf,
die den Mord begangen hatten. -- Diese Aussage habe ich mir von dem Diener
viermal wiederholen lassen, ohne daß er an derselben das geringste verändert
hätte. Seine Uhren und sein Gepäck hatte man ihm abgenommen.

Ich blieb bei der unglücklichen Frau, obgleich sie alle ihr angebotne Hilf¬
leistung ablehnte. Sie glaubte, daß auch die Brüder Boccardi umgekommen
seien, erfuhr durch mich aber, daß diese am Leben seien -- einige Augenblicke
später traten die Herren ein. Inmitten ihrer entsetzlichen Seclenqunlen sprach die
großherzige und seltne Frau kein Wort von Rache und keine Verwünschung
gegen die Mörder aus -- sie wiederholte immer nur, daß sie bedaure, nicht
auch den Tod erlitten zu haben. "Wenn ich auch tot wäre, würde ich ihm
folgen und glücklich sein -- was wird aus mir werden? Bis zuletzt hat
er meinen Namen gerufen -- ich werde ihm folgen und dann Ruhe finden." . . -
Die beiden Boccardi sagten in Übercinstimnulng mit dem Diener aus, daß ihr
Wagen, der der letzte gewesen war, etwa dreihundert Schritt von der Stadt
entfernt gewesen sei, als sie das Geschrei hörten.


Im ersten Augenblick wollten Herr und Frau Noberjot aufsteigen und fliehn,
sie waren aber erst einige Schritte gegangen, als nichts mehr deutlich zu hören
war. Das machte den Minister andern Sinnes. Er sagte seiner Frau, es sei
wohl nichts vorgefallen — wahrscheinlich sei man aufgestiegen, um die Brücke
zu passieren, es sei nichts zu fürchten, und sie könnten zum Wagen zurückkehren.
Das geschah denn auch — während sie aber noch vor dem Wagen standen,
kamen Husaren herbei, die sie umringten, ihnen ihre Uhren und ihr Geld ab¬
forderten und dasselbe von dem Diener und dem Kutscher verlangten, indem
sie sie zugleich fragten, wo der Minister Noberjot sei. Dann zeigten sie auf
diesen hin und richteten die Frage: „Minister? Minister?" an ihn. Noberjot
antwortete: „Ja meine Freunde, ich bin der Minister Noberjot." Sie ließen
ihn sodann wiederholen, daß er der Minister sei, als sie dessen aber sicher ge¬
worden waren, rissen sie ihn aus den Armen seiner Fran, die ihn nicht ver¬
lassen hatte, packten ihn am Kragen und an den Haaren, um ihn zwei Schritte
fortzuschleppen und sodann unbarmherzig niederznsübeln. Noberjot stieß keinen
andern Laut als den Ruf: „Meine Frau, meine Frau" aus, und wiederholte
das bis zu seinem letzten Atemzuge. Als er in Blut gebadet aus der Erde
lag, stürzten sich die Barbaren auf ihn, um auf ihn loszuhacken, bis er zu
atmen aufgehört hatte. In höchster Verzweiflung verlangte Frau Noberjot
das Los ihres Mannes zu teilen, und mit dem wenigen Deutsch, das sie
konnte, bat sie die Ungeheuer zu wiederholten malen, sie zu töten. Der
Postillon lind der Diener haben das ausdrücklich bezeugt. Der Diener, der
seine Herrin nicht verlassen wollte, zerrte sie in den Wagen, sprang selbst hinein
und schloß den Wagenschlag zu, während die Nicdermetzlung des Münsters
noch fortdauerte. Er hielt ihr die Ohren zu, damit sie die gegen den Leichnam
geführten Hiebe nicht höre. Frau Noberjot rief immer wieder, sie wolle sterben —
„Laßt uns gemeinsam den Tod erleiden!" Nach beendeter Blutthat ließ mau
indessen den Wagen umwenden, der unter dein Geleit derselben Leute eintraf,
die den Mord begangen hatten. — Diese Aussage habe ich mir von dem Diener
viermal wiederholen lassen, ohne daß er an derselben das geringste verändert
hätte. Seine Uhren und sein Gepäck hatte man ihm abgenommen.

Ich blieb bei der unglücklichen Frau, obgleich sie alle ihr angebotne Hilf¬
leistung ablehnte. Sie glaubte, daß auch die Brüder Boccardi umgekommen
seien, erfuhr durch mich aber, daß diese am Leben seien — einige Augenblicke
später traten die Herren ein. Inmitten ihrer entsetzlichen Seclenqunlen sprach die
großherzige und seltne Frau kein Wort von Rache und keine Verwünschung
gegen die Mörder aus — sie wiederholte immer nur, daß sie bedaure, nicht
auch den Tod erlitten zu haben. „Wenn ich auch tot wäre, würde ich ihm
folgen und glücklich sein — was wird aus mir werden? Bis zuletzt hat
er meinen Namen gerufen — ich werde ihm folgen und dann Ruhe finden." . . -
Die beiden Boccardi sagten in Übercinstimnulng mit dem Diener aus, daß ihr
Wagen, der der letzte gewesen war, etwa dreihundert Schritt von der Stadt
entfernt gewesen sei, als sie das Geschrei hörten.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0584" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/233136"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1899" prev="#ID_1898"> Im ersten Augenblick wollten Herr und Frau Noberjot aufsteigen und fliehn,<lb/>
sie waren aber erst einige Schritte gegangen, als nichts mehr deutlich zu hören<lb/>
war. Das machte den Minister andern Sinnes. Er sagte seiner Frau, es sei<lb/>
wohl nichts vorgefallen &#x2014; wahrscheinlich sei man aufgestiegen, um die Brücke<lb/>
zu passieren, es sei nichts zu fürchten, und sie könnten zum Wagen zurückkehren.<lb/>
Das geschah denn auch &#x2014; während sie aber noch vor dem Wagen standen,<lb/>
kamen Husaren herbei, die sie umringten, ihnen ihre Uhren und ihr Geld ab¬<lb/>
forderten und dasselbe von dem Diener und dem Kutscher verlangten, indem<lb/>
sie sie zugleich fragten, wo der Minister Noberjot sei. Dann zeigten sie auf<lb/>
diesen hin und richteten die Frage: &#x201E;Minister? Minister?" an ihn. Noberjot<lb/>
antwortete: &#x201E;Ja meine Freunde, ich bin der Minister Noberjot." Sie ließen<lb/>
ihn sodann wiederholen, daß er der Minister sei, als sie dessen aber sicher ge¬<lb/>
worden waren, rissen sie ihn aus den Armen seiner Fran, die ihn nicht ver¬<lb/>
lassen hatte, packten ihn am Kragen und an den Haaren, um ihn zwei Schritte<lb/>
fortzuschleppen und sodann unbarmherzig niederznsübeln. Noberjot stieß keinen<lb/>
andern Laut als den Ruf: &#x201E;Meine Frau, meine Frau" aus, und wiederholte<lb/>
das bis zu seinem letzten Atemzuge. Als er in Blut gebadet aus der Erde<lb/>
lag, stürzten sich die Barbaren auf ihn, um auf ihn loszuhacken, bis er zu<lb/>
atmen aufgehört hatte. In höchster Verzweiflung verlangte Frau Noberjot<lb/>
das Los ihres Mannes zu teilen, und mit dem wenigen Deutsch, das sie<lb/>
konnte, bat sie die Ungeheuer zu wiederholten malen, sie zu töten. Der<lb/>
Postillon lind der Diener haben das ausdrücklich bezeugt. Der Diener, der<lb/>
seine Herrin nicht verlassen wollte, zerrte sie in den Wagen, sprang selbst hinein<lb/>
und schloß den Wagenschlag zu, während die Nicdermetzlung des Münsters<lb/>
noch fortdauerte. Er hielt ihr die Ohren zu, damit sie die gegen den Leichnam<lb/>
geführten Hiebe nicht höre. Frau Noberjot rief immer wieder, sie wolle sterben &#x2014;<lb/>
&#x201E;Laßt uns gemeinsam den Tod erleiden!" Nach beendeter Blutthat ließ mau<lb/>
indessen den Wagen umwenden, der unter dein Geleit derselben Leute eintraf,<lb/>
die den Mord begangen hatten. &#x2014; Diese Aussage habe ich mir von dem Diener<lb/>
viermal wiederholen lassen, ohne daß er an derselben das geringste verändert<lb/>
hätte.  Seine Uhren und sein Gepäck hatte man ihm abgenommen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1900"> Ich blieb bei der unglücklichen Frau, obgleich sie alle ihr angebotne Hilf¬<lb/>
leistung ablehnte. Sie glaubte, daß auch die Brüder Boccardi umgekommen<lb/>
seien, erfuhr durch mich aber, daß diese am Leben seien &#x2014; einige Augenblicke<lb/>
später traten die Herren ein. Inmitten ihrer entsetzlichen Seclenqunlen sprach die<lb/>
großherzige und seltne Frau kein Wort von Rache und keine Verwünschung<lb/>
gegen die Mörder aus &#x2014; sie wiederholte immer nur, daß sie bedaure, nicht<lb/>
auch den Tod erlitten zu haben. &#x201E;Wenn ich auch tot wäre, würde ich ihm<lb/>
folgen und glücklich sein &#x2014; was wird aus mir werden? Bis zuletzt hat<lb/>
er meinen Namen gerufen &#x2014; ich werde ihm folgen und dann Ruhe finden." . . -<lb/>
Die beiden Boccardi sagten in Übercinstimnulng mit dem Diener aus, daß ihr<lb/>
Wagen, der der letzte gewesen war, etwa dreihundert Schritt von der Stadt<lb/>
entfernt gewesen sei, als sie das Geschrei hörten.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0584] Im ersten Augenblick wollten Herr und Frau Noberjot aufsteigen und fliehn, sie waren aber erst einige Schritte gegangen, als nichts mehr deutlich zu hören war. Das machte den Minister andern Sinnes. Er sagte seiner Frau, es sei wohl nichts vorgefallen — wahrscheinlich sei man aufgestiegen, um die Brücke zu passieren, es sei nichts zu fürchten, und sie könnten zum Wagen zurückkehren. Das geschah denn auch — während sie aber noch vor dem Wagen standen, kamen Husaren herbei, die sie umringten, ihnen ihre Uhren und ihr Geld ab¬ forderten und dasselbe von dem Diener und dem Kutscher verlangten, indem sie sie zugleich fragten, wo der Minister Noberjot sei. Dann zeigten sie auf diesen hin und richteten die Frage: „Minister? Minister?" an ihn. Noberjot antwortete: „Ja meine Freunde, ich bin der Minister Noberjot." Sie ließen ihn sodann wiederholen, daß er der Minister sei, als sie dessen aber sicher ge¬ worden waren, rissen sie ihn aus den Armen seiner Fran, die ihn nicht ver¬ lassen hatte, packten ihn am Kragen und an den Haaren, um ihn zwei Schritte fortzuschleppen und sodann unbarmherzig niederznsübeln. Noberjot stieß keinen andern Laut als den Ruf: „Meine Frau, meine Frau" aus, und wiederholte das bis zu seinem letzten Atemzuge. Als er in Blut gebadet aus der Erde lag, stürzten sich die Barbaren auf ihn, um auf ihn loszuhacken, bis er zu atmen aufgehört hatte. In höchster Verzweiflung verlangte Frau Noberjot das Los ihres Mannes zu teilen, und mit dem wenigen Deutsch, das sie konnte, bat sie die Ungeheuer zu wiederholten malen, sie zu töten. Der Postillon lind der Diener haben das ausdrücklich bezeugt. Der Diener, der seine Herrin nicht verlassen wollte, zerrte sie in den Wagen, sprang selbst hinein und schloß den Wagenschlag zu, während die Nicdermetzlung des Münsters noch fortdauerte. Er hielt ihr die Ohren zu, damit sie die gegen den Leichnam geführten Hiebe nicht höre. Frau Noberjot rief immer wieder, sie wolle sterben — „Laßt uns gemeinsam den Tod erleiden!" Nach beendeter Blutthat ließ mau indessen den Wagen umwenden, der unter dein Geleit derselben Leute eintraf, die den Mord begangen hatten. — Diese Aussage habe ich mir von dem Diener viermal wiederholen lassen, ohne daß er an derselben das geringste verändert hätte. Seine Uhren und sein Gepäck hatte man ihm abgenommen. Ich blieb bei der unglücklichen Frau, obgleich sie alle ihr angebotne Hilf¬ leistung ablehnte. Sie glaubte, daß auch die Brüder Boccardi umgekommen seien, erfuhr durch mich aber, daß diese am Leben seien — einige Augenblicke später traten die Herren ein. Inmitten ihrer entsetzlichen Seclenqunlen sprach die großherzige und seltne Frau kein Wort von Rache und keine Verwünschung gegen die Mörder aus — sie wiederholte immer nur, daß sie bedaure, nicht auch den Tod erlitten zu haben. „Wenn ich auch tot wäre, würde ich ihm folgen und glücklich sein — was wird aus mir werden? Bis zuletzt hat er meinen Namen gerufen — ich werde ihm folgen und dann Ruhe finden." . . - Die beiden Boccardi sagten in Übercinstimnulng mit dem Diener aus, daß ihr Wagen, der der letzte gewesen war, etwa dreihundert Schritt von der Stadt entfernt gewesen sei, als sie das Geschrei hörten.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/584
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/584>, abgerufen am 04.07.2024.