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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Der Sinn des Lhristentmns

habe wenig zu bedeuten, genug, daß das Böse thatsächlich da sei. Die wissen¬
schaftliche Genauigkeit gebietet jedoch festzustellen, daß der Mensch zwar ur¬
sprünglich weder gut noch böse, sondern zu beidem angelegt ist, daß ihm aber
das Gute näher liegt und lieber ist als das Böse, dn ja das Gute Leben,
Gesundheit und Freude bedeutet. Daher zeigt sich erfahrungsgemäß der Mensch
in einer Umgebung, die ihm das Gute nicht übermäßig erschwert, gewöhnlich
gut. Lüge das "radikale Böse" nicht in den Verhältnissen, sondern in der
Seele, so würden die Menschen nach Perioden, wo alle Teufel los siud, wie
nach dem Dreißigjährigen Kriege, niemals wieder vernünftig werden; sie wären
ja dann in ihrem Element; in Wirklichkeit empfindet die Mehrheit solche Zu¬
stände als einen unangenehmen Zwang und atmet auf, wenn sie davon be¬
freit wird.

Christ im weitern Sinne ist jeder, der an den persönlichen Gott, an dessen
Offenbarung in Christus und an das persönliche Fortleben im Jenseits glaubt,
und der sich ehrlich bemüht, das natürliche Sittengesetz zu erfüllen. Einen
engern Kreis bilden die Personen, die entweder inne werden, daß sie, als
Werkzeuge für gewisse Zwecke, Gegenstand einer besondern Fürsorge Gottes
und Führung durch ihn siud, oder die ein lebhaftes Bedürfnis haben, mit Gott
zu verkehren, seinen Wegen nachzuspüren, seine Werke zu bewundern und ihn
zu preisen, oder bei denen beides zutrifft, also die Frommen. Sie sind keines¬
wegs immer Tugendmuster, erfreuen sich aber trotzdem in hohem Grade des
göttlichen Wohlgefallens, wie z. B. David, an den Hills öfter erinnert. Der
engste Kreis endlich besteht ans den Jüngern Jesu, die das göttliche Leben
des Meisters, die Gott selbst in ihre Seelen aufgenommen und "keine eignen
Angelegenheiten mehr haben." Diese leben nach den Worten der Bergpredigt,
und sie sind den übrigen Christen notwendig als lebendige Zeugen eines iibcr-
natürlichen Lebens; ohne sie würde der Glaube an die Auferstehung Christi
wankend geworden sein, sobald die letzten Augenzeugen dieses Wunders ge¬
storben waren. Daß diese Scheidung immer bestehn bleiben soll, ist im Neuen
Testament deutlich ausgesprochen, und daß sie thatsächlich besteht, haben die
Einsichtigen nnter den Frommen jederzeit anerkannt. In der katholischen
Kirche hat diese Anerkennung das Ordenswcsen geschaffen, bei den mittelalter¬
lichen Ketzern und den spätern Protestanten die Lehre von der unsichtbaren
Kirche erzeugt, zu der sich auch Hills bekennt. Jenes leidet an vielen Übel¬
stünden, besonders aber daran, daß das Allerinuerste, Unsichtbarste und Un¬
faßbarste zum Gegenstand eines nach rohen, nicht einmal durchweg zweckmäßigen,
äußern Vorschriften betriebnen Handwerks gemacht wird, und daß nicht die
Hälfte derer, die in einen Orden eintreten, wirklich berufen sind, aber, durch
das Gelübde gebunden, drin bleiben und die Rolle von Heiligen spielen müssen,
während sie keine sind. Die Lehre von der unsichtbaren Kirche dagegen ver¬
leitet die Frommen, sich zu separieren und die Massen sich selbst zu überlassen,
sodaß die evangelischen Kirchen längst zerfallen wären, wenn sie nicht von
den Staatsregierungen zusammengehalten würden; Luther selbst läßt manchmal


Der Sinn des Lhristentmns

habe wenig zu bedeuten, genug, daß das Böse thatsächlich da sei. Die wissen¬
schaftliche Genauigkeit gebietet jedoch festzustellen, daß der Mensch zwar ur¬
sprünglich weder gut noch böse, sondern zu beidem angelegt ist, daß ihm aber
das Gute näher liegt und lieber ist als das Böse, dn ja das Gute Leben,
Gesundheit und Freude bedeutet. Daher zeigt sich erfahrungsgemäß der Mensch
in einer Umgebung, die ihm das Gute nicht übermäßig erschwert, gewöhnlich
gut. Lüge das „radikale Böse" nicht in den Verhältnissen, sondern in der
Seele, so würden die Menschen nach Perioden, wo alle Teufel los siud, wie
nach dem Dreißigjährigen Kriege, niemals wieder vernünftig werden; sie wären
ja dann in ihrem Element; in Wirklichkeit empfindet die Mehrheit solche Zu¬
stände als einen unangenehmen Zwang und atmet auf, wenn sie davon be¬
freit wird.

Christ im weitern Sinne ist jeder, der an den persönlichen Gott, an dessen
Offenbarung in Christus und an das persönliche Fortleben im Jenseits glaubt,
und der sich ehrlich bemüht, das natürliche Sittengesetz zu erfüllen. Einen
engern Kreis bilden die Personen, die entweder inne werden, daß sie, als
Werkzeuge für gewisse Zwecke, Gegenstand einer besondern Fürsorge Gottes
und Führung durch ihn siud, oder die ein lebhaftes Bedürfnis haben, mit Gott
zu verkehren, seinen Wegen nachzuspüren, seine Werke zu bewundern und ihn
zu preisen, oder bei denen beides zutrifft, also die Frommen. Sie sind keines¬
wegs immer Tugendmuster, erfreuen sich aber trotzdem in hohem Grade des
göttlichen Wohlgefallens, wie z. B. David, an den Hills öfter erinnert. Der
engste Kreis endlich besteht ans den Jüngern Jesu, die das göttliche Leben
des Meisters, die Gott selbst in ihre Seelen aufgenommen und „keine eignen
Angelegenheiten mehr haben." Diese leben nach den Worten der Bergpredigt,
und sie sind den übrigen Christen notwendig als lebendige Zeugen eines iibcr-
natürlichen Lebens; ohne sie würde der Glaube an die Auferstehung Christi
wankend geworden sein, sobald die letzten Augenzeugen dieses Wunders ge¬
storben waren. Daß diese Scheidung immer bestehn bleiben soll, ist im Neuen
Testament deutlich ausgesprochen, und daß sie thatsächlich besteht, haben die
Einsichtigen nnter den Frommen jederzeit anerkannt. In der katholischen
Kirche hat diese Anerkennung das Ordenswcsen geschaffen, bei den mittelalter¬
lichen Ketzern und den spätern Protestanten die Lehre von der unsichtbaren
Kirche erzeugt, zu der sich auch Hills bekennt. Jenes leidet an vielen Übel¬
stünden, besonders aber daran, daß das Allerinuerste, Unsichtbarste und Un¬
faßbarste zum Gegenstand eines nach rohen, nicht einmal durchweg zweckmäßigen,
äußern Vorschriften betriebnen Handwerks gemacht wird, und daß nicht die
Hälfte derer, die in einen Orden eintreten, wirklich berufen sind, aber, durch
das Gelübde gebunden, drin bleiben und die Rolle von Heiligen spielen müssen,
während sie keine sind. Die Lehre von der unsichtbaren Kirche dagegen ver¬
leitet die Frommen, sich zu separieren und die Massen sich selbst zu überlassen,
sodaß die evangelischen Kirchen längst zerfallen wären, wenn sie nicht von
den Staatsregierungen zusammengehalten würden; Luther selbst läßt manchmal


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[0460] Der Sinn des Lhristentmns habe wenig zu bedeuten, genug, daß das Böse thatsächlich da sei. Die wissen¬ schaftliche Genauigkeit gebietet jedoch festzustellen, daß der Mensch zwar ur¬ sprünglich weder gut noch böse, sondern zu beidem angelegt ist, daß ihm aber das Gute näher liegt und lieber ist als das Böse, dn ja das Gute Leben, Gesundheit und Freude bedeutet. Daher zeigt sich erfahrungsgemäß der Mensch in einer Umgebung, die ihm das Gute nicht übermäßig erschwert, gewöhnlich gut. Lüge das „radikale Böse" nicht in den Verhältnissen, sondern in der Seele, so würden die Menschen nach Perioden, wo alle Teufel los siud, wie nach dem Dreißigjährigen Kriege, niemals wieder vernünftig werden; sie wären ja dann in ihrem Element; in Wirklichkeit empfindet die Mehrheit solche Zu¬ stände als einen unangenehmen Zwang und atmet auf, wenn sie davon be¬ freit wird. Christ im weitern Sinne ist jeder, der an den persönlichen Gott, an dessen Offenbarung in Christus und an das persönliche Fortleben im Jenseits glaubt, und der sich ehrlich bemüht, das natürliche Sittengesetz zu erfüllen. Einen engern Kreis bilden die Personen, die entweder inne werden, daß sie, als Werkzeuge für gewisse Zwecke, Gegenstand einer besondern Fürsorge Gottes und Führung durch ihn siud, oder die ein lebhaftes Bedürfnis haben, mit Gott zu verkehren, seinen Wegen nachzuspüren, seine Werke zu bewundern und ihn zu preisen, oder bei denen beides zutrifft, also die Frommen. Sie sind keines¬ wegs immer Tugendmuster, erfreuen sich aber trotzdem in hohem Grade des göttlichen Wohlgefallens, wie z. B. David, an den Hills öfter erinnert. Der engste Kreis endlich besteht ans den Jüngern Jesu, die das göttliche Leben des Meisters, die Gott selbst in ihre Seelen aufgenommen und „keine eignen Angelegenheiten mehr haben." Diese leben nach den Worten der Bergpredigt, und sie sind den übrigen Christen notwendig als lebendige Zeugen eines iibcr- natürlichen Lebens; ohne sie würde der Glaube an die Auferstehung Christi wankend geworden sein, sobald die letzten Augenzeugen dieses Wunders ge¬ storben waren. Daß diese Scheidung immer bestehn bleiben soll, ist im Neuen Testament deutlich ausgesprochen, und daß sie thatsächlich besteht, haben die Einsichtigen nnter den Frommen jederzeit anerkannt. In der katholischen Kirche hat diese Anerkennung das Ordenswcsen geschaffen, bei den mittelalter¬ lichen Ketzern und den spätern Protestanten die Lehre von der unsichtbaren Kirche erzeugt, zu der sich auch Hills bekennt. Jenes leidet an vielen Übel¬ stünden, besonders aber daran, daß das Allerinuerste, Unsichtbarste und Un¬ faßbarste zum Gegenstand eines nach rohen, nicht einmal durchweg zweckmäßigen, äußern Vorschriften betriebnen Handwerks gemacht wird, und daß nicht die Hälfte derer, die in einen Orden eintreten, wirklich berufen sind, aber, durch das Gelübde gebunden, drin bleiben und die Rolle von Heiligen spielen müssen, während sie keine sind. Die Lehre von der unsichtbaren Kirche dagegen ver¬ leitet die Frommen, sich zu separieren und die Massen sich selbst zu überlassen, sodaß die evangelischen Kirchen längst zerfallen wären, wenn sie nicht von den Staatsregierungen zusammengehalten würden; Luther selbst läßt manchmal

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/460>, abgerufen am 02.07.2024.