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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Der Sinn des Christentums

durchblicken, daß, wenn ihm nicht die Jugend leid thäte, er sich keinen mit der
Einrichtung eines neuen Kirchenwesens abplagen würde, da an der rohen Masse
der Erwachsenen doch Hopfen und Malz verdorben sei. Warum wird nun
diese Scheidung, die einmal besteht, nicht amtlich anerkannt? Warum gesteht
man nicht offen ein, daß die Vorschriften der Bergpredigt nur für die Jünger
gelten, daß man aber bei der großen Masse der Christen schon zufrieden sein
müsse, wen" sie wenigstens wie rechtschaffne Heiden leben? Die Bergpredigt
muß natürlich trotzdem in der Kirche verkündigt werden, für die wenigen Aus-
erwählten unter den Zuhörern als Gebot, für die andern als ein Ideal, an
dessen Uncrreichbnrkeit sie zwar nicht zu zweifeln brauchen, das aber wenigstens
ihre Roheit und Selbstsucht beschämt lind ihnen einen Begriff von dem über-
natürlichen Leben giebt, das für sie im Jenseits liegt. Der Geistliche mag
ihnen bei der Verkündigung sagen: So seid ihr nicht, und Gott verlangt es
auch nicht von euch; aber es giebt solche Menschen, habt Ehrfurcht vor ihnen,
und laßt den Abstand zwischen ihnen und euch wenigstens nicht gar zu groß
sein! Heute wird entweder den Leuten gesagt, daß sie in die Hölle kommen,
wenn sie nicht alle Gebote des Neuen Testaments beobachten, und das wird
ihnen von Geistlichen gesagt, die im besten Falle ebenso weltlich gesinnt und
mit denselben Schwächen und Leidenschaften behaftet sind wie die Zuhörer,
"der man sagt ihnen ähnlich wie bei der Gottheit Christi und bei der Auf¬
erstehung, sie müßten solche unmöglich klingenden Aussprüche nicht wörtlich ver¬
steh", sodaß das Neue Testament seiner ganzen Kraft und Bedeutung entleert
wird und nichts davon übrig bleibt als die ganz gewöhnliche bürgerliche
Sittenlehre. Beide Methoden machen die Kirche lächerlich und verächtlich.
Bei dem derblustigcn, von keiner Reflexion beirrten Geschlecht des fünfzehnten
""d sechzehnten Jahrhunderts konnte man ein wüstes Leben mit einem ganz
ehrlichen Glauben zusammenreimen, weil dieser Glaube eben nur ein gedanken¬
loser Buchstabenglaube war, nicht "der Mut zu einem idealen Leben," wie
Hilty den Glauben definiert, und da konnten in den Kirchen Grabschriften
gesetzt werden wie die im Kloster zu Doberan, von denen Moltke für seine
Fran einige abgeschrieben hat.") Aber in unsrer kritischen und grüblerischen
Zeit ist das nicht mehr möglich; da verfällt eine Kirche, die sich solcher Wider¬
sprüche schuldig macht, rettungslos dem Spott nicht bloß der Gebildeten,



') Im zweiten Bande der Briefe an seine Frau S. ils> Der schönste ist der auf dem
cnkinal eines Herrn von Bülow:
Der Sinn des Christentums

durchblicken, daß, wenn ihm nicht die Jugend leid thäte, er sich keinen mit der
Einrichtung eines neuen Kirchenwesens abplagen würde, da an der rohen Masse
der Erwachsenen doch Hopfen und Malz verdorben sei. Warum wird nun
diese Scheidung, die einmal besteht, nicht amtlich anerkannt? Warum gesteht
man nicht offen ein, daß die Vorschriften der Bergpredigt nur für die Jünger
gelten, daß man aber bei der großen Masse der Christen schon zufrieden sein
müsse, wen» sie wenigstens wie rechtschaffne Heiden leben? Die Bergpredigt
muß natürlich trotzdem in der Kirche verkündigt werden, für die wenigen Aus-
erwählten unter den Zuhörern als Gebot, für die andern als ein Ideal, an
dessen Uncrreichbnrkeit sie zwar nicht zu zweifeln brauchen, das aber wenigstens
ihre Roheit und Selbstsucht beschämt lind ihnen einen Begriff von dem über-
natürlichen Leben giebt, das für sie im Jenseits liegt. Der Geistliche mag
ihnen bei der Verkündigung sagen: So seid ihr nicht, und Gott verlangt es
auch nicht von euch; aber es giebt solche Menschen, habt Ehrfurcht vor ihnen,
und laßt den Abstand zwischen ihnen und euch wenigstens nicht gar zu groß
sein! Heute wird entweder den Leuten gesagt, daß sie in die Hölle kommen,
wenn sie nicht alle Gebote des Neuen Testaments beobachten, und das wird
ihnen von Geistlichen gesagt, die im besten Falle ebenso weltlich gesinnt und
mit denselben Schwächen und Leidenschaften behaftet sind wie die Zuhörer,
"der man sagt ihnen ähnlich wie bei der Gottheit Christi und bei der Auf¬
erstehung, sie müßten solche unmöglich klingenden Aussprüche nicht wörtlich ver¬
steh», sodaß das Neue Testament seiner ganzen Kraft und Bedeutung entleert
wird und nichts davon übrig bleibt als die ganz gewöhnliche bürgerliche
Sittenlehre. Beide Methoden machen die Kirche lächerlich und verächtlich.
Bei dem derblustigcn, von keiner Reflexion beirrten Geschlecht des fünfzehnten
""d sechzehnten Jahrhunderts konnte man ein wüstes Leben mit einem ganz
ehrlichen Glauben zusammenreimen, weil dieser Glaube eben nur ein gedanken¬
loser Buchstabenglaube war, nicht „der Mut zu einem idealen Leben," wie
Hilty den Glauben definiert, und da konnten in den Kirchen Grabschriften
gesetzt werden wie die im Kloster zu Doberan, von denen Moltke für seine
Fran einige abgeschrieben hat.") Aber in unsrer kritischen und grüblerischen
Zeit ist das nicht mehr möglich; da verfällt eine Kirche, die sich solcher Wider¬
sprüche schuldig macht, rettungslos dem Spott nicht bloß der Gebildeten,



') Im zweiten Bande der Briefe an seine Frau S. ils> Der schönste ist der auf dem
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[0461] Der Sinn des Christentums durchblicken, daß, wenn ihm nicht die Jugend leid thäte, er sich keinen mit der Einrichtung eines neuen Kirchenwesens abplagen würde, da an der rohen Masse der Erwachsenen doch Hopfen und Malz verdorben sei. Warum wird nun diese Scheidung, die einmal besteht, nicht amtlich anerkannt? Warum gesteht man nicht offen ein, daß die Vorschriften der Bergpredigt nur für die Jünger gelten, daß man aber bei der großen Masse der Christen schon zufrieden sein müsse, wen» sie wenigstens wie rechtschaffne Heiden leben? Die Bergpredigt muß natürlich trotzdem in der Kirche verkündigt werden, für die wenigen Aus- erwählten unter den Zuhörern als Gebot, für die andern als ein Ideal, an dessen Uncrreichbnrkeit sie zwar nicht zu zweifeln brauchen, das aber wenigstens ihre Roheit und Selbstsucht beschämt lind ihnen einen Begriff von dem über- natürlichen Leben giebt, das für sie im Jenseits liegt. Der Geistliche mag ihnen bei der Verkündigung sagen: So seid ihr nicht, und Gott verlangt es auch nicht von euch; aber es giebt solche Menschen, habt Ehrfurcht vor ihnen, und laßt den Abstand zwischen ihnen und euch wenigstens nicht gar zu groß sein! Heute wird entweder den Leuten gesagt, daß sie in die Hölle kommen, wenn sie nicht alle Gebote des Neuen Testaments beobachten, und das wird ihnen von Geistlichen gesagt, die im besten Falle ebenso weltlich gesinnt und mit denselben Schwächen und Leidenschaften behaftet sind wie die Zuhörer, "der man sagt ihnen ähnlich wie bei der Gottheit Christi und bei der Auf¬ erstehung, sie müßten solche unmöglich klingenden Aussprüche nicht wörtlich ver¬ steh», sodaß das Neue Testament seiner ganzen Kraft und Bedeutung entleert wird und nichts davon übrig bleibt als die ganz gewöhnliche bürgerliche Sittenlehre. Beide Methoden machen die Kirche lächerlich und verächtlich. Bei dem derblustigcn, von keiner Reflexion beirrten Geschlecht des fünfzehnten ""d sechzehnten Jahrhunderts konnte man ein wüstes Leben mit einem ganz ehrlichen Glauben zusammenreimen, weil dieser Glaube eben nur ein gedanken¬ loser Buchstabenglaube war, nicht „der Mut zu einem idealen Leben," wie Hilty den Glauben definiert, und da konnten in den Kirchen Grabschriften gesetzt werden wie die im Kloster zu Doberan, von denen Moltke für seine Fran einige abgeschrieben hat.") Aber in unsrer kritischen und grüblerischen Zeit ist das nicht mehr möglich; da verfällt eine Kirche, die sich solcher Wider¬ sprüche schuldig macht, rettungslos dem Spott nicht bloß der Gebildeten, ') Im zweiten Bande der Briefe an seine Frau S. ils> Der schönste ist der auf dem cnkinal eines Herrn von Bülow:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/461>, abgerufen am 30.06.2024.