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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Der Sinn des Christentums

Kriegswaffen, die unendlich viel mörderischer und grausamer sind als die
Schwerter und Bogen der homerischen Helden, Nach wie vor gilt das Sitten¬
gesetz, das im Morgenlande Moses und die Propheten, in Europa die Staats¬
männer, Philosophen und Dichter Griechenlands und Italiens verkündigt haben.
Nicht also eine andre und höhere Sittlichkeit unterscheidet die Christenheit von
den alten Heiden -- wie Luther im Hinblick auf die Sitten seiner Zeit oft
seufzte: Wollte Gott, wir lebten alle wenigstens wie rechtschaffne Heiden, so
haben wir auch heute noch Anlaß genug zu seufzen --, sondern daß wir
Stützen dieser Sittlichkeit haben, die den Alten abgingen, und die sich in Zeiten
eines allgemeinen politischen Zusammenbruchs, der die Polizeistützen wegnimmt,
bewähren, und daß wir eine unerschütterliche Hoffnung haben. Bei dieser Ge¬
legenheit wollen wir doch kurz die Frage beantworten, was das Böse sei.
Hilty hält das Wesen des Bösen für ein unergründliches Geheimnis; gerade
darin aber sehe ich gar nichts Geheimnisvolles, denu die Mythologie aller
Völker hat es erkannt. Das Gute an sich ist Gott, und das Gute in Be¬
ziehung auf die Welt ist Gottes Schöpferwille und seine Verwirklichung in
der Welt: das Gute ist wohlgeordnetes Dasein und Leben, gesundes und glück¬
liches Leben. Das Böse ist also die Verneinung, Verderbnis und Zerstörung
des Lebens, der Tod und die Tötung, weshalb "?ro^ex-lo (Apokalypse 9, 11)
der einzige richtige Name des Teufels ist. Während nun aber die alten
Mythologien das Böse auf ein Gott feindliches Wesen zurückführen, lehrt uns
die tiefere moderne Natur- und Lebcnsbetrachtung, daß es Bedingung der Welt,
also des Guten ist. Ob es eine andre Welt geben könnte, wissen wir nicht;
jedenfalls haben wir keine Vorstellung von einer solchen; in unsrer Welt,
der einzigen, die wir kennen, beruht alle Verbindung auf vorhergehender
Trennung und Lösung, alle Gestaltung auf dem Spiel einander anziehender
und abstoßender Elemente, das Leben der einen Geschöpfe auf der Vernichtung
andrer, und das Leben der spätern Generationen auf dem Tode der frühern.
Dem Menschen ist nun das schwierige und verantwortungsvolle Amt zugefallen,
in diesen Prozeß mit Bewußtsein einzugreifen, bald Leben zu spenden oder zu
fördern und zu beschützen, bald zu töten, Leben zu vernichten oder wenigstens
zu beeinträchtigen. In der Ausübung dieses Amts bewährt er seine Sittlich¬
keit. Daß er mitunter gezwungen ist, andre zu schädigen, darin besteht der
Zwang zur Sünde, dem keiner ganz entgehn kann, also die Sündhaftigkeit der
Menschennatur. Daß dieser Zwang oft teils durch die Naturanlage seiner
Eltern und Voreltern, teils durch die ohne sein Zuthun von den frühern
schlechter,: geschaffnen Einrichtungen und gesellschaftlichen Verhältnisse vermehrt
wird, darin besteht die Erbsünde. Seine sittliche Natur hat nun der Mensch
dadurch zu bewähren, daß er, soviel in seinen Kräften steht, das Leben fördert,
daß er im Zerstören nie über das Maß des unbedingt notwendigen hinaus¬
geht, und daß ihn diese Notwendigkeit betrübt. Bei solcher Gesinnung thut
er nur objektiv Böses (hier ist der Ausdruck "objektiv," den Herr von Freg>'
in Mißkredit gebracht hat, zweifellos berechtigt). Geht er aus Selbstsucht


Der Sinn des Christentums

Kriegswaffen, die unendlich viel mörderischer und grausamer sind als die
Schwerter und Bogen der homerischen Helden, Nach wie vor gilt das Sitten¬
gesetz, das im Morgenlande Moses und die Propheten, in Europa die Staats¬
männer, Philosophen und Dichter Griechenlands und Italiens verkündigt haben.
Nicht also eine andre und höhere Sittlichkeit unterscheidet die Christenheit von
den alten Heiden — wie Luther im Hinblick auf die Sitten seiner Zeit oft
seufzte: Wollte Gott, wir lebten alle wenigstens wie rechtschaffne Heiden, so
haben wir auch heute noch Anlaß genug zu seufzen —, sondern daß wir
Stützen dieser Sittlichkeit haben, die den Alten abgingen, und die sich in Zeiten
eines allgemeinen politischen Zusammenbruchs, der die Polizeistützen wegnimmt,
bewähren, und daß wir eine unerschütterliche Hoffnung haben. Bei dieser Ge¬
legenheit wollen wir doch kurz die Frage beantworten, was das Böse sei.
Hilty hält das Wesen des Bösen für ein unergründliches Geheimnis; gerade
darin aber sehe ich gar nichts Geheimnisvolles, denu die Mythologie aller
Völker hat es erkannt. Das Gute an sich ist Gott, und das Gute in Be¬
ziehung auf die Welt ist Gottes Schöpferwille und seine Verwirklichung in
der Welt: das Gute ist wohlgeordnetes Dasein und Leben, gesundes und glück¬
liches Leben. Das Böse ist also die Verneinung, Verderbnis und Zerstörung
des Lebens, der Tod und die Tötung, weshalb «?ro^ex-lo (Apokalypse 9, 11)
der einzige richtige Name des Teufels ist. Während nun aber die alten
Mythologien das Böse auf ein Gott feindliches Wesen zurückführen, lehrt uns
die tiefere moderne Natur- und Lebcnsbetrachtung, daß es Bedingung der Welt,
also des Guten ist. Ob es eine andre Welt geben könnte, wissen wir nicht;
jedenfalls haben wir keine Vorstellung von einer solchen; in unsrer Welt,
der einzigen, die wir kennen, beruht alle Verbindung auf vorhergehender
Trennung und Lösung, alle Gestaltung auf dem Spiel einander anziehender
und abstoßender Elemente, das Leben der einen Geschöpfe auf der Vernichtung
andrer, und das Leben der spätern Generationen auf dem Tode der frühern.
Dem Menschen ist nun das schwierige und verantwortungsvolle Amt zugefallen,
in diesen Prozeß mit Bewußtsein einzugreifen, bald Leben zu spenden oder zu
fördern und zu beschützen, bald zu töten, Leben zu vernichten oder wenigstens
zu beeinträchtigen. In der Ausübung dieses Amts bewährt er seine Sittlich¬
keit. Daß er mitunter gezwungen ist, andre zu schädigen, darin besteht der
Zwang zur Sünde, dem keiner ganz entgehn kann, also die Sündhaftigkeit der
Menschennatur. Daß dieser Zwang oft teils durch die Naturanlage seiner
Eltern und Voreltern, teils durch die ohne sein Zuthun von den frühern
schlechter,: geschaffnen Einrichtungen und gesellschaftlichen Verhältnisse vermehrt
wird, darin besteht die Erbsünde. Seine sittliche Natur hat nun der Mensch
dadurch zu bewähren, daß er, soviel in seinen Kräften steht, das Leben fördert,
daß er im Zerstören nie über das Maß des unbedingt notwendigen hinaus¬
geht, und daß ihn diese Notwendigkeit betrübt. Bei solcher Gesinnung thut
er nur objektiv Böses (hier ist der Ausdruck „objektiv," den Herr von Freg>'
in Mißkredit gebracht hat, zweifellos berechtigt). Geht er aus Selbstsucht


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[0458] Der Sinn des Christentums Kriegswaffen, die unendlich viel mörderischer und grausamer sind als die Schwerter und Bogen der homerischen Helden, Nach wie vor gilt das Sitten¬ gesetz, das im Morgenlande Moses und die Propheten, in Europa die Staats¬ männer, Philosophen und Dichter Griechenlands und Italiens verkündigt haben. Nicht also eine andre und höhere Sittlichkeit unterscheidet die Christenheit von den alten Heiden — wie Luther im Hinblick auf die Sitten seiner Zeit oft seufzte: Wollte Gott, wir lebten alle wenigstens wie rechtschaffne Heiden, so haben wir auch heute noch Anlaß genug zu seufzen —, sondern daß wir Stützen dieser Sittlichkeit haben, die den Alten abgingen, und die sich in Zeiten eines allgemeinen politischen Zusammenbruchs, der die Polizeistützen wegnimmt, bewähren, und daß wir eine unerschütterliche Hoffnung haben. Bei dieser Ge¬ legenheit wollen wir doch kurz die Frage beantworten, was das Böse sei. Hilty hält das Wesen des Bösen für ein unergründliches Geheimnis; gerade darin aber sehe ich gar nichts Geheimnisvolles, denu die Mythologie aller Völker hat es erkannt. Das Gute an sich ist Gott, und das Gute in Be¬ ziehung auf die Welt ist Gottes Schöpferwille und seine Verwirklichung in der Welt: das Gute ist wohlgeordnetes Dasein und Leben, gesundes und glück¬ liches Leben. Das Böse ist also die Verneinung, Verderbnis und Zerstörung des Lebens, der Tod und die Tötung, weshalb «?ro^ex-lo (Apokalypse 9, 11) der einzige richtige Name des Teufels ist. Während nun aber die alten Mythologien das Böse auf ein Gott feindliches Wesen zurückführen, lehrt uns die tiefere moderne Natur- und Lebcnsbetrachtung, daß es Bedingung der Welt, also des Guten ist. Ob es eine andre Welt geben könnte, wissen wir nicht; jedenfalls haben wir keine Vorstellung von einer solchen; in unsrer Welt, der einzigen, die wir kennen, beruht alle Verbindung auf vorhergehender Trennung und Lösung, alle Gestaltung auf dem Spiel einander anziehender und abstoßender Elemente, das Leben der einen Geschöpfe auf der Vernichtung andrer, und das Leben der spätern Generationen auf dem Tode der frühern. Dem Menschen ist nun das schwierige und verantwortungsvolle Amt zugefallen, in diesen Prozeß mit Bewußtsein einzugreifen, bald Leben zu spenden oder zu fördern und zu beschützen, bald zu töten, Leben zu vernichten oder wenigstens zu beeinträchtigen. In der Ausübung dieses Amts bewährt er seine Sittlich¬ keit. Daß er mitunter gezwungen ist, andre zu schädigen, darin besteht der Zwang zur Sünde, dem keiner ganz entgehn kann, also die Sündhaftigkeit der Menschennatur. Daß dieser Zwang oft teils durch die Naturanlage seiner Eltern und Voreltern, teils durch die ohne sein Zuthun von den frühern schlechter,: geschaffnen Einrichtungen und gesellschaftlichen Verhältnisse vermehrt wird, darin besteht die Erbsünde. Seine sittliche Natur hat nun der Mensch dadurch zu bewähren, daß er, soviel in seinen Kräften steht, das Leben fördert, daß er im Zerstören nie über das Maß des unbedingt notwendigen hinaus¬ geht, und daß ihn diese Notwendigkeit betrübt. Bei solcher Gesinnung thut er nur objektiv Böses (hier ist der Ausdruck „objektiv," den Herr von Freg>' in Mißkredit gebracht hat, zweifellos berechtigt). Geht er aus Selbstsucht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/458>, abgerufen am 02.07.2024.