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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Äer Sinn des Christentums

Sophie stand, sodaß sich in ihr das Volk mit den Gebildeten wieder zusammen¬
finden konnte. Die Religion ist, wie Hartmnnn richtig gesagt hat, die
einzige Form, in der das Ideale allen ohne Ausnahme dargeboten werden
kann, und Hilty sagt ebenso richtig, daß es wohl ein christliches Volk, aber
kein Volk von Philosophen geben könne. Nicht im Inhalt liegt das Hindernis,
sondern in der Form. Die Religion, allerdings nur die christliche, bietet den
Inhalt dar in einfachen, verständlichen Sätzen, in anmutigen Erzählungen, in
Gleichnissen, die der Fassungskraft des Kindes angemessen und doch von un¬
endlicher Tiefe sind, und in schönen Sinnbildern; die Philosophie dagegen
spricht eine Sprache, die nicht einmal allen Gebildeten verständlich ist, und
kein Philosoph verträgt sich mit den andern. Der zweite Dienst, den das
Christentum der Menschheit erwies, bestand darin, daß es durch die Stiftung
der Kirche eine von den wandelbaren politischen Gebilden unabhängige Gemein¬
schaft zur Verbreitung, Fortpflanzung und Erhaltung der Religion schuf. Der
dritte darin, daß es im Gemeindeleben und im Gottesdienst einen Schatz von
Hilfsmitteln zur Veredlung, Erhebung und Tröstung der Seelen bereitete.
Der vierte darin, daß es durch die Person Christi und durch seine Auferstehung
die Vermutungen über das Jenseits zur Gewißheit erhob. Die Behandlung
der Auferstehungsfrage gehört zu den Stücken, in denen ich mit Hilty voll¬
ständig übereinstimme. Auch er ist der Ansicht, daß wir den Glauben an die
Fortdauer im Jenseits wegen der nngesnhnten Ungerechtigkeiten des Diesseits
uicht entbehren können; seiner Ansicht nach würde ohne diesen Glauben das
Schicksal von unzähligen Ehefrauen, und zwar gerade von guten Frauen,
"klein schon hinreichen, die Gerechtigkeit Gottes oder Gott selbst zu leugnen.
kann nun nicht bezweifelt werden, daß Jesus durch seine Auferstehung, die
bon zahlreichen Augenzeugen verkündigt wurde, einen Glanben an das jenseitige
Leben erzeugt hat, den keine heidnische Philosophie jemals in den Massen zu
Zeugen vermocht hat, und dieser Glaube ist es, der den christlichen Völkern
^dren Optimismus und ihre Thatkraft erhält und sie vor dem Versinken in
schläfst Resignation und lähmenden Pessimismus bewahrt. Um den Glauben
an die Auferstehung Christi kommen auch wir trotz aller Proteste der modernen
Wissenschaft nicht herum, denn es hieße, wie Hilty ebenfalls richtig bemerkt,
^ ganze sittliche Weltordnung umstürzen, wenn man annehmen wollte, die
^vßte und wohlthätigste Erscheinung der Weltgeschichte beruhe auf einer Lüge
"der ans Halluzinationen abergläubischer Leute.

Der Lauf der Weltgeschichte ist durch das Christentum nicht geändert und
^ Menschheit nicht umgeschaffen worden. Wie vor Christus giebt es auch
^ der christlichen Zeit Gute und Böse, Weise und Thoren, Kluge und Dumme,
^'te und Rohe. Nach wie vor walten Liebe und Haß, Selbstsucht und Ge-
Ulemsinu, edle und unedle Leidenschaften. Nach wie vor genießen die einen
old entbehren die andern, wollen die Besitzenden immer mehr haben und die
"^besitzenden den Besitzenden ihr Eigentum entreißen, wird im Kampf uns
^ "sein gerungen mit den Waffen des Geistes, mit Zunge und Feder und mit


^enzboten I 1900 57
Äer Sinn des Christentums

Sophie stand, sodaß sich in ihr das Volk mit den Gebildeten wieder zusammen¬
finden konnte. Die Religion ist, wie Hartmnnn richtig gesagt hat, die
einzige Form, in der das Ideale allen ohne Ausnahme dargeboten werden
kann, und Hilty sagt ebenso richtig, daß es wohl ein christliches Volk, aber
kein Volk von Philosophen geben könne. Nicht im Inhalt liegt das Hindernis,
sondern in der Form. Die Religion, allerdings nur die christliche, bietet den
Inhalt dar in einfachen, verständlichen Sätzen, in anmutigen Erzählungen, in
Gleichnissen, die der Fassungskraft des Kindes angemessen und doch von un¬
endlicher Tiefe sind, und in schönen Sinnbildern; die Philosophie dagegen
spricht eine Sprache, die nicht einmal allen Gebildeten verständlich ist, und
kein Philosoph verträgt sich mit den andern. Der zweite Dienst, den das
Christentum der Menschheit erwies, bestand darin, daß es durch die Stiftung
der Kirche eine von den wandelbaren politischen Gebilden unabhängige Gemein¬
schaft zur Verbreitung, Fortpflanzung und Erhaltung der Religion schuf. Der
dritte darin, daß es im Gemeindeleben und im Gottesdienst einen Schatz von
Hilfsmitteln zur Veredlung, Erhebung und Tröstung der Seelen bereitete.
Der vierte darin, daß es durch die Person Christi und durch seine Auferstehung
die Vermutungen über das Jenseits zur Gewißheit erhob. Die Behandlung
der Auferstehungsfrage gehört zu den Stücken, in denen ich mit Hilty voll¬
ständig übereinstimme. Auch er ist der Ansicht, daß wir den Glauben an die
Fortdauer im Jenseits wegen der nngesnhnten Ungerechtigkeiten des Diesseits
uicht entbehren können; seiner Ansicht nach würde ohne diesen Glauben das
Schicksal von unzähligen Ehefrauen, und zwar gerade von guten Frauen,
"klein schon hinreichen, die Gerechtigkeit Gottes oder Gott selbst zu leugnen.
kann nun nicht bezweifelt werden, daß Jesus durch seine Auferstehung, die
bon zahlreichen Augenzeugen verkündigt wurde, einen Glanben an das jenseitige
Leben erzeugt hat, den keine heidnische Philosophie jemals in den Massen zu
Zeugen vermocht hat, und dieser Glaube ist es, der den christlichen Völkern
^dren Optimismus und ihre Thatkraft erhält und sie vor dem Versinken in
schläfst Resignation und lähmenden Pessimismus bewahrt. Um den Glauben
an die Auferstehung Christi kommen auch wir trotz aller Proteste der modernen
Wissenschaft nicht herum, denn es hieße, wie Hilty ebenfalls richtig bemerkt,
^ ganze sittliche Weltordnung umstürzen, wenn man annehmen wollte, die
^vßte und wohlthätigste Erscheinung der Weltgeschichte beruhe auf einer Lüge
"der ans Halluzinationen abergläubischer Leute.

Der Lauf der Weltgeschichte ist durch das Christentum nicht geändert und
^ Menschheit nicht umgeschaffen worden. Wie vor Christus giebt es auch
^ der christlichen Zeit Gute und Böse, Weise und Thoren, Kluge und Dumme,
^'te und Rohe. Nach wie vor walten Liebe und Haß, Selbstsucht und Ge-
Ulemsinu, edle und unedle Leidenschaften. Nach wie vor genießen die einen
old entbehren die andern, wollen die Besitzenden immer mehr haben und die
"^besitzenden den Besitzenden ihr Eigentum entreißen, wird im Kampf uns
^ "sein gerungen mit den Waffen des Geistes, mit Zunge und Feder und mit


^enzboten I 1900 57
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[0457] Äer Sinn des Christentums Sophie stand, sodaß sich in ihr das Volk mit den Gebildeten wieder zusammen¬ finden konnte. Die Religion ist, wie Hartmnnn richtig gesagt hat, die einzige Form, in der das Ideale allen ohne Ausnahme dargeboten werden kann, und Hilty sagt ebenso richtig, daß es wohl ein christliches Volk, aber kein Volk von Philosophen geben könne. Nicht im Inhalt liegt das Hindernis, sondern in der Form. Die Religion, allerdings nur die christliche, bietet den Inhalt dar in einfachen, verständlichen Sätzen, in anmutigen Erzählungen, in Gleichnissen, die der Fassungskraft des Kindes angemessen und doch von un¬ endlicher Tiefe sind, und in schönen Sinnbildern; die Philosophie dagegen spricht eine Sprache, die nicht einmal allen Gebildeten verständlich ist, und kein Philosoph verträgt sich mit den andern. Der zweite Dienst, den das Christentum der Menschheit erwies, bestand darin, daß es durch die Stiftung der Kirche eine von den wandelbaren politischen Gebilden unabhängige Gemein¬ schaft zur Verbreitung, Fortpflanzung und Erhaltung der Religion schuf. Der dritte darin, daß es im Gemeindeleben und im Gottesdienst einen Schatz von Hilfsmitteln zur Veredlung, Erhebung und Tröstung der Seelen bereitete. Der vierte darin, daß es durch die Person Christi und durch seine Auferstehung die Vermutungen über das Jenseits zur Gewißheit erhob. Die Behandlung der Auferstehungsfrage gehört zu den Stücken, in denen ich mit Hilty voll¬ ständig übereinstimme. Auch er ist der Ansicht, daß wir den Glauben an die Fortdauer im Jenseits wegen der nngesnhnten Ungerechtigkeiten des Diesseits uicht entbehren können; seiner Ansicht nach würde ohne diesen Glauben das Schicksal von unzähligen Ehefrauen, und zwar gerade von guten Frauen, "klein schon hinreichen, die Gerechtigkeit Gottes oder Gott selbst zu leugnen. kann nun nicht bezweifelt werden, daß Jesus durch seine Auferstehung, die bon zahlreichen Augenzeugen verkündigt wurde, einen Glanben an das jenseitige Leben erzeugt hat, den keine heidnische Philosophie jemals in den Massen zu Zeugen vermocht hat, und dieser Glaube ist es, der den christlichen Völkern ^dren Optimismus und ihre Thatkraft erhält und sie vor dem Versinken in schläfst Resignation und lähmenden Pessimismus bewahrt. Um den Glauben an die Auferstehung Christi kommen auch wir trotz aller Proteste der modernen Wissenschaft nicht herum, denn es hieße, wie Hilty ebenfalls richtig bemerkt, ^ ganze sittliche Weltordnung umstürzen, wenn man annehmen wollte, die ^vßte und wohlthätigste Erscheinung der Weltgeschichte beruhe auf einer Lüge "der ans Halluzinationen abergläubischer Leute. Der Lauf der Weltgeschichte ist durch das Christentum nicht geändert und ^ Menschheit nicht umgeschaffen worden. Wie vor Christus giebt es auch ^ der christlichen Zeit Gute und Böse, Weise und Thoren, Kluge und Dumme, ^'te und Rohe. Nach wie vor walten Liebe und Haß, Selbstsucht und Ge- Ulemsinu, edle und unedle Leidenschaften. Nach wie vor genießen die einen old entbehren die andern, wollen die Besitzenden immer mehr haben und die "^besitzenden den Besitzenden ihr Eigentum entreißen, wird im Kampf uns ^ "sein gerungen mit den Waffen des Geistes, mit Zunge und Feder und mit ^enzboten I 1900 57

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/457>, abgerufen am 30.06.2024.