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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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null deshalb auch das Verhältnis des Mensche" zu Gott nicht unter dem
Bilde des kindlichen oder des bräutlichen Verhältnisses dargestellt wissen, sondern
als das Verhältnis des treuen Knechts zum Herrn, was gar kein Bild mehr
ist, und in diesem Sinne kann auch wirklich jeder gewöhnliche Christ, der nicht
im mindesten mystisch begabt ist, sein Verhältnis zu Gott auffassen und im
Leben festhalten. Dasselbe Johannesevangelium, das so bedenkliche Anklänge
an die Gnostik enthält, zeigt doch andrerseits wieder den für die ungeheure
Mehrzahl der Menschen allein gangbaren Weg zu Gott. An das "fleisch-
gewordne Wort" ist schon erinnert worden; nehmen wir hinzu, was Jesus auf
die Bitte des Philippus: Zeige uns den Vater, antwortet: "Solange bin ich
bei euch, und ihr kennt mich noch nicht! Philippus, wer mich sieht, der sieht
den Vater; wie kannst du sagen, zeige uns den Vater!" Und das Wort des
ersten Johannesbriefes: "Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott, und hasset doch
seinen Bruder, der ist ein Lügner; denn wenn er seinen Bruder nicht liebt,
den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er uicht sieht?" Diese Stellen zu¬
sammengenommen besagen, daß wir Gott nur im Menschen zu erkennen, nnr
im Meuschen zu lieben vermögen, und daß der Gott, den wir zwar anbeten
sollen, der aber ein reiner Geist und unsrer Erkenntnis unzugänglich ist, weder
ein Gegenstand der Betrachtung noch der eigentlichen Liebe für uns sein tan".
Wenn er für die Mystiker beides ist, so muß ihnen ein für die Wahrnehmung
der jenseitigen Dinge eingerichteter innerer Sinn zu teil geworden sein, der
uns gewöhnlichen Menschen abgeht, und es wäre eine eitle Mühe und ein
sündhaftes Unterfangen, wenn wir versuchen wollten, etwas wahrzunehmen,
wofür uns das Organ fehlt.

Wenn ich nun meine Ansicht, die ich bruchstückweise bei verschiednen Ge¬
legenheiten verraten habe, hier einmal kurz aber vollständig zusammenfasse, so
wird sie nach dieser Auseinandersetzung mit Hilty verständlicher und hoffentlich
auch annehmbarer erscheinen. Den Völkern unsers Kulturkreises -- um die
andern kümmern wir uns nicht -- ist die Gabe verliehen, das Dasein Gottes
und seine Weltordnung zu erkennen, sich in diese mit Bewußtsein einzufügen
und an der Verwirklichung des göttlichen Weltplans verständnisvoll mit zu
arbeiten. Die sittliche Weltordnung haben die Griechen schon in der honw-
rischen Zeit erkannt. Ihre Auffassung des Göttlichen war kindlich, mitunter
kindisch, aber die Juden hatten wenig Grund, sich ihrer würdigern und reiner"
Gotteserkenntnis zu rühmen, denn es war gar nicht die ihre, sondern nnr die
ihrer Propheten, die eigentlich erst in der christlichen Zeit verstanden worde"
sind und zu wirken angefangen haben; und als sich in den letzten Jahrhunderte"
vor Christus das ganze Volk zum Monotheismus bekehrt hatte, war aus ihrer
Religion ein pedantischer, engherziger und kleinlicher Zeremonicndienst geworden-
Mittlerweile war die monotheistische Idee auch den griechischen Weisen auf¬
gegangen, und aus der Verbindung der griechischen Weisheit mit der jüdischen
Religion entstand das Christentum, das den Völkern fortan folgende Dienste
leistete. Es bot ihnen eine Religion dar, die nicht im Widerspruch zur Philo-


null deshalb auch das Verhältnis des Mensche» zu Gott nicht unter dem
Bilde des kindlichen oder des bräutlichen Verhältnisses dargestellt wissen, sondern
als das Verhältnis des treuen Knechts zum Herrn, was gar kein Bild mehr
ist, und in diesem Sinne kann auch wirklich jeder gewöhnliche Christ, der nicht
im mindesten mystisch begabt ist, sein Verhältnis zu Gott auffassen und im
Leben festhalten. Dasselbe Johannesevangelium, das so bedenkliche Anklänge
an die Gnostik enthält, zeigt doch andrerseits wieder den für die ungeheure
Mehrzahl der Menschen allein gangbaren Weg zu Gott. An das „fleisch-
gewordne Wort" ist schon erinnert worden; nehmen wir hinzu, was Jesus auf
die Bitte des Philippus: Zeige uns den Vater, antwortet: „Solange bin ich
bei euch, und ihr kennt mich noch nicht! Philippus, wer mich sieht, der sieht
den Vater; wie kannst du sagen, zeige uns den Vater!" Und das Wort des
ersten Johannesbriefes: „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott, und hasset doch
seinen Bruder, der ist ein Lügner; denn wenn er seinen Bruder nicht liebt,
den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er uicht sieht?" Diese Stellen zu¬
sammengenommen besagen, daß wir Gott nur im Menschen zu erkennen, nnr
im Meuschen zu lieben vermögen, und daß der Gott, den wir zwar anbeten
sollen, der aber ein reiner Geist und unsrer Erkenntnis unzugänglich ist, weder
ein Gegenstand der Betrachtung noch der eigentlichen Liebe für uns sein tan».
Wenn er für die Mystiker beides ist, so muß ihnen ein für die Wahrnehmung
der jenseitigen Dinge eingerichteter innerer Sinn zu teil geworden sein, der
uns gewöhnlichen Menschen abgeht, und es wäre eine eitle Mühe und ein
sündhaftes Unterfangen, wenn wir versuchen wollten, etwas wahrzunehmen,
wofür uns das Organ fehlt.

Wenn ich nun meine Ansicht, die ich bruchstückweise bei verschiednen Ge¬
legenheiten verraten habe, hier einmal kurz aber vollständig zusammenfasse, so
wird sie nach dieser Auseinandersetzung mit Hilty verständlicher und hoffentlich
auch annehmbarer erscheinen. Den Völkern unsers Kulturkreises — um die
andern kümmern wir uns nicht — ist die Gabe verliehen, das Dasein Gottes
und seine Weltordnung zu erkennen, sich in diese mit Bewußtsein einzufügen
und an der Verwirklichung des göttlichen Weltplans verständnisvoll mit zu
arbeiten. Die sittliche Weltordnung haben die Griechen schon in der honw-
rischen Zeit erkannt. Ihre Auffassung des Göttlichen war kindlich, mitunter
kindisch, aber die Juden hatten wenig Grund, sich ihrer würdigern und reiner»
Gotteserkenntnis zu rühmen, denn es war gar nicht die ihre, sondern nnr die
ihrer Propheten, die eigentlich erst in der christlichen Zeit verstanden worde»
sind und zu wirken angefangen haben; und als sich in den letzten Jahrhunderte»
vor Christus das ganze Volk zum Monotheismus bekehrt hatte, war aus ihrer
Religion ein pedantischer, engherziger und kleinlicher Zeremonicndienst geworden-
Mittlerweile war die monotheistische Idee auch den griechischen Weisen auf¬
gegangen, und aus der Verbindung der griechischen Weisheit mit der jüdischen
Religion entstand das Christentum, das den Völkern fortan folgende Dienste
leistete. Es bot ihnen eine Religion dar, die nicht im Widerspruch zur Philo-


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[0456] null deshalb auch das Verhältnis des Mensche» zu Gott nicht unter dem Bilde des kindlichen oder des bräutlichen Verhältnisses dargestellt wissen, sondern als das Verhältnis des treuen Knechts zum Herrn, was gar kein Bild mehr ist, und in diesem Sinne kann auch wirklich jeder gewöhnliche Christ, der nicht im mindesten mystisch begabt ist, sein Verhältnis zu Gott auffassen und im Leben festhalten. Dasselbe Johannesevangelium, das so bedenkliche Anklänge an die Gnostik enthält, zeigt doch andrerseits wieder den für die ungeheure Mehrzahl der Menschen allein gangbaren Weg zu Gott. An das „fleisch- gewordne Wort" ist schon erinnert worden; nehmen wir hinzu, was Jesus auf die Bitte des Philippus: Zeige uns den Vater, antwortet: „Solange bin ich bei euch, und ihr kennt mich noch nicht! Philippus, wer mich sieht, der sieht den Vater; wie kannst du sagen, zeige uns den Vater!" Und das Wort des ersten Johannesbriefes: „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott, und hasset doch seinen Bruder, der ist ein Lügner; denn wenn er seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er uicht sieht?" Diese Stellen zu¬ sammengenommen besagen, daß wir Gott nur im Menschen zu erkennen, nnr im Meuschen zu lieben vermögen, und daß der Gott, den wir zwar anbeten sollen, der aber ein reiner Geist und unsrer Erkenntnis unzugänglich ist, weder ein Gegenstand der Betrachtung noch der eigentlichen Liebe für uns sein tan». Wenn er für die Mystiker beides ist, so muß ihnen ein für die Wahrnehmung der jenseitigen Dinge eingerichteter innerer Sinn zu teil geworden sein, der uns gewöhnlichen Menschen abgeht, und es wäre eine eitle Mühe und ein sündhaftes Unterfangen, wenn wir versuchen wollten, etwas wahrzunehmen, wofür uns das Organ fehlt. Wenn ich nun meine Ansicht, die ich bruchstückweise bei verschiednen Ge¬ legenheiten verraten habe, hier einmal kurz aber vollständig zusammenfasse, so wird sie nach dieser Auseinandersetzung mit Hilty verständlicher und hoffentlich auch annehmbarer erscheinen. Den Völkern unsers Kulturkreises — um die andern kümmern wir uns nicht — ist die Gabe verliehen, das Dasein Gottes und seine Weltordnung zu erkennen, sich in diese mit Bewußtsein einzufügen und an der Verwirklichung des göttlichen Weltplans verständnisvoll mit zu arbeiten. Die sittliche Weltordnung haben die Griechen schon in der honw- rischen Zeit erkannt. Ihre Auffassung des Göttlichen war kindlich, mitunter kindisch, aber die Juden hatten wenig Grund, sich ihrer würdigern und reiner» Gotteserkenntnis zu rühmen, denn es war gar nicht die ihre, sondern nnr die ihrer Propheten, die eigentlich erst in der christlichen Zeit verstanden worde» sind und zu wirken angefangen haben; und als sich in den letzten Jahrhunderte» vor Christus das ganze Volk zum Monotheismus bekehrt hatte, war aus ihrer Religion ein pedantischer, engherziger und kleinlicher Zeremonicndienst geworden- Mittlerweile war die monotheistische Idee auch den griechischen Weisen auf¬ gegangen, und aus der Verbindung der griechischen Weisheit mit der jüdischen Religion entstand das Christentum, das den Völkern fortan folgende Dienste leistete. Es bot ihnen eine Religion dar, die nicht im Widerspruch zur Philo-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/456>, abgerufen am 28.06.2024.