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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Frau Venus

much Sesenheini gepilgert, um die Stätte zu sehen, wo der junge Goethe zu
Friederikens Füßen gekniet hat. Man pflegt in moralisierenden Litteratur-
'wschichten den Dichter abzukanzeln, daß er mit dem Herzen der Pfarrerstochter
ein so lockeres Spiel getrieben habe. Shakespeare hatte nicht Goethes genialen
Egoismus; er machte'seine Jugendliebe auch zu seinem Weibe, und man kann
nicht sagen, daß diese Handlung sein Genie gelähmt hätte.

Mit diesen Gedanken beschäftigt war ich schon auf dein Wege nach dem
Dörfchen Shottery, wo Anne Hathaway gelebt hat. und wo ihr Häuschen wie
Heiligtum bewahrt wird." Ich mied die Landstraße und wanderte einen
anmutigen Feldweg, der von Stratford nach dem eine halbe Stunde entfernt
liegende" Dörfchen führt.


Westwärts von hier, den nahen Grund hinunter.
Bringt euch die Reih von Weiden längs den, Buch,
Laßt ihr sie rechter Hand, zum Orte hin.

Nach dieser Weisung die Cella dem Oliver in dem Lustspiel "Wie es euch
gefällt" giebt, bin ich über die Wiesen gewandert, an den verschwiegnen Erlen-
büschen und Weißdornhecken vorbei, hinter denen sich das verliebte Völkchen
aufzuhalten pflegt. Freundliche lachende Kinder kamen mir aus dem Dorfe
entgegengelaufen und brachten mir, dein fremden Manne, Feldblumen und riefen
nur zu: is tlnz occkwM, tüsrs is uns cote^s! Sie mußten es nnr wohl

anmerken, daß ich nichts andres suchte als die kleine unscheinbare, mit Stroh
bedeckte Hütte, in der Shakespeares Jugendliebe gewohnt hat. Hütte sich das
schlichte Bauernmädchen wohl jemals träumen lassen, daß ihre kleine Hütte
nach Hunderten von Jahren noch das Ziel so vieler fremder Wandrer sein
würde!

Als ich das Dorf verließ und wieder nach Stratford ziirückwandcrte. war
die Sonne schon "ntergegangen. aber der schlanke Turm über Shakespeares
Grabstätte leuchtete noch, während sich schon leichte Dämmernngsschatten über
das vor mir liegende Städtchen senkten.




Frau Venus

s giebt Frauen, die mit allem Liebreiz und jeglicher Anmut des
Geistes und Körpers geschmückt, mit stetem Frohsinn und anscheinend
mit beständiger Jugend begabt und von den irdischen Mängeln
gleichsam unberührt alles um sich her bezaubern -- und doch immer
vereinsamt und fremd im Leben stehn. Denn es fehlt ihnen, die
nur um ihrer selbst und ihrer Schönheit willen da zu sein und als
er Schmuck und zierliche Augenweide im Leben zu stehn scheinen, die Teilnahme
andre und damit die Grundbedingung unsrer christlichen, ans Pflichterfüllung


Frau Venus

much Sesenheini gepilgert, um die Stätte zu sehen, wo der junge Goethe zu
Friederikens Füßen gekniet hat. Man pflegt in moralisierenden Litteratur-
'wschichten den Dichter abzukanzeln, daß er mit dem Herzen der Pfarrerstochter
ein so lockeres Spiel getrieben habe. Shakespeare hatte nicht Goethes genialen
Egoismus; er machte'seine Jugendliebe auch zu seinem Weibe, und man kann
nicht sagen, daß diese Handlung sein Genie gelähmt hätte.

Mit diesen Gedanken beschäftigt war ich schon auf dein Wege nach dem
Dörfchen Shottery, wo Anne Hathaway gelebt hat. und wo ihr Häuschen wie
Heiligtum bewahrt wird." Ich mied die Landstraße und wanderte einen
anmutigen Feldweg, der von Stratford nach dem eine halbe Stunde entfernt
liegende» Dörfchen führt.


Westwärts von hier, den nahen Grund hinunter.
Bringt euch die Reih von Weiden längs den, Buch,
Laßt ihr sie rechter Hand, zum Orte hin.

Nach dieser Weisung die Cella dem Oliver in dem Lustspiel „Wie es euch
gefällt" giebt, bin ich über die Wiesen gewandert, an den verschwiegnen Erlen-
büschen und Weißdornhecken vorbei, hinter denen sich das verliebte Völkchen
aufzuhalten pflegt. Freundliche lachende Kinder kamen mir aus dem Dorfe
entgegengelaufen und brachten mir, dein fremden Manne, Feldblumen und riefen
nur zu: is tlnz occkwM, tüsrs is uns cote^s! Sie mußten es nnr wohl

anmerken, daß ich nichts andres suchte als die kleine unscheinbare, mit Stroh
bedeckte Hütte, in der Shakespeares Jugendliebe gewohnt hat. Hütte sich das
schlichte Bauernmädchen wohl jemals träumen lassen, daß ihre kleine Hütte
nach Hunderten von Jahren noch das Ziel so vieler fremder Wandrer sein
würde!

Als ich das Dorf verließ und wieder nach Stratford ziirückwandcrte. war
die Sonne schon »ntergegangen. aber der schlanke Turm über Shakespeares
Grabstätte leuchtete noch, während sich schon leichte Dämmernngsschatten über
das vor mir liegende Städtchen senkten.




Frau Venus

s giebt Frauen, die mit allem Liebreiz und jeglicher Anmut des
Geistes und Körpers geschmückt, mit stetem Frohsinn und anscheinend
mit beständiger Jugend begabt und von den irdischen Mängeln
gleichsam unberührt alles um sich her bezaubern — und doch immer
vereinsamt und fremd im Leben stehn. Denn es fehlt ihnen, die
nur um ihrer selbst und ihrer Schönheit willen da zu sein und als
er Schmuck und zierliche Augenweide im Leben zu stehn scheinen, die Teilnahme
andre und damit die Grundbedingung unsrer christlichen, ans Pflichterfüllung


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[0045] Frau Venus much Sesenheini gepilgert, um die Stätte zu sehen, wo der junge Goethe zu Friederikens Füßen gekniet hat. Man pflegt in moralisierenden Litteratur- 'wschichten den Dichter abzukanzeln, daß er mit dem Herzen der Pfarrerstochter ein so lockeres Spiel getrieben habe. Shakespeare hatte nicht Goethes genialen Egoismus; er machte'seine Jugendliebe auch zu seinem Weibe, und man kann nicht sagen, daß diese Handlung sein Genie gelähmt hätte. Mit diesen Gedanken beschäftigt war ich schon auf dein Wege nach dem Dörfchen Shottery, wo Anne Hathaway gelebt hat. und wo ihr Häuschen wie Heiligtum bewahrt wird." Ich mied die Landstraße und wanderte einen anmutigen Feldweg, der von Stratford nach dem eine halbe Stunde entfernt liegende» Dörfchen führt. Westwärts von hier, den nahen Grund hinunter. Bringt euch die Reih von Weiden längs den, Buch, Laßt ihr sie rechter Hand, zum Orte hin. Nach dieser Weisung die Cella dem Oliver in dem Lustspiel „Wie es euch gefällt" giebt, bin ich über die Wiesen gewandert, an den verschwiegnen Erlen- büschen und Weißdornhecken vorbei, hinter denen sich das verliebte Völkchen aufzuhalten pflegt. Freundliche lachende Kinder kamen mir aus dem Dorfe entgegengelaufen und brachten mir, dein fremden Manne, Feldblumen und riefen nur zu: is tlnz occkwM, tüsrs is uns cote^s! Sie mußten es nnr wohl anmerken, daß ich nichts andres suchte als die kleine unscheinbare, mit Stroh bedeckte Hütte, in der Shakespeares Jugendliebe gewohnt hat. Hütte sich das schlichte Bauernmädchen wohl jemals träumen lassen, daß ihre kleine Hütte nach Hunderten von Jahren noch das Ziel so vieler fremder Wandrer sein würde! Als ich das Dorf verließ und wieder nach Stratford ziirückwandcrte. war die Sonne schon »ntergegangen. aber der schlanke Turm über Shakespeares Grabstätte leuchtete noch, während sich schon leichte Dämmernngsschatten über das vor mir liegende Städtchen senkten. Frau Venus s giebt Frauen, die mit allem Liebreiz und jeglicher Anmut des Geistes und Körpers geschmückt, mit stetem Frohsinn und anscheinend mit beständiger Jugend begabt und von den irdischen Mängeln gleichsam unberührt alles um sich her bezaubern — und doch immer vereinsamt und fremd im Leben stehn. Denn es fehlt ihnen, die nur um ihrer selbst und ihrer Schönheit willen da zu sein und als er Schmuck und zierliche Augenweide im Leben zu stehn scheinen, die Teilnahme andre und damit die Grundbedingung unsrer christlichen, ans Pflichterfüllung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/45>, abgerufen am 30.06.2024.