Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.Eine Pilgerfahrt nach Stratford am Avon aus dem gegenwärtig ja auch manche deutschen Baumeister ihre Motive zu Mir war der Dichter durch dieses Denkmal in meiner Phantasie nicht Ich trete an die kleine Mauer, die den Kirchhof begrenzt; ich schaue Eine Pilgerfahrt nach Stratford am Avon aus dem gegenwärtig ja auch manche deutschen Baumeister ihre Motive zu Mir war der Dichter durch dieses Denkmal in meiner Phantasie nicht Ich trete an die kleine Mauer, die den Kirchhof begrenzt; ich schaue <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0043" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/232595"/> <fw type="header" place="top"> Eine Pilgerfahrt nach Stratford am Avon</fw><lb/> <p xml:id="ID_110" prev="#ID_109"> aus dem gegenwärtig ja auch manche deutschen Baumeister ihre Motive zu<lb/> nehmen scheinen; es enthält ein Theater, einen Aussichtsturm, eine Bibliothek<lb/> und eine Kunstgalerie mit den üblichen, an derartigen Weihestütten aufgestellten<lb/> Effektstücken, die der Wandrer für sechs Pence bewundern kann. Interessanter<lb/> war mir das vor dein Gebäude stehende Denkmal Shakespeares, das der<lb/> reiche Lord Ronald Gvwer selbst gemeißelt und der Stadt geschenkt hat. Eine<lb/> größere Geschmacklosigkeit kaun man sich kaum vorstellen; das Postament hat<lb/> fast die Form einer alten .fmulntzgrauate, und oben auf der Spitze steht em<lb/> Sessel, gerade so gestellt, daß man fürchtet, er müsse jeden Augenblick mit dem<lb/> ängstlich daraufsitzenden Dichter herunterstürzen; man hat sogar die Täuschung.<lb/> als hebe er sich° schon etwas von seinem Sitz, um rechtzeitig abzuspringen.<lb/> Auch die Gestalten am Sockel sind sehr armselig; sie sollen die Tragödie, die<lb/> Philosophie, die Geschichte und die Komödie darstellen, und dazu hat man die<lb/> Lady Maebeth. Hamlet. den Prinzen Hat und Falstaff ausgewählt. Das<lb/> Denkmal wirkt wie ein Fastnnchtsscherz; die Führer unterlasse nicht, aus den<lb/> geistvollen Einfall aufmerksam zu machen, der Bildhauer habe sem Werk so<lb/> aufgestellt, daß Shakespeare gedankenvoll nach der Kirche schaue, in der seine<lb/> Gebeine ruhen (^RA xsnÄveli tue olluien in nlnoll lie bis rsmANs).</p><lb/> <p xml:id="ID_111"> Mir war der Dichter durch dieses Denkmal in meiner Phantasie nicht<lb/> lebendig geworden, und so wanderte ich lieber den Pfad hinunter nach seiner<lb/> Grabstätte durch eine prächtige schattenreiche Lindenallee, die auf deu freund¬<lb/> lichen Kirchhof der 'I'Ani^ 0hackt führt. In der Kirche war noch<lb/> Nachniittaggottesdienft; der Küster bat mich deshalb, nach einer Viertelstunde<lb/> wieder zu kommen, er wolle mir dann Shakespeares Grab zeigen. Ich be¬<lb/> nutzte diese p>eit. ging zwischen den Gräbern umher und las die Inschriften<lb/> a>'f den verwitterten, von Epheu umrankten Steinen. Es ist ja natürlich, daß<lb/> einem hier, mo Shakespeare seine ersten Kirchhofstudien gemacht und sich mit<lb/> den Totengräbern unterhalten hat, die berühmte Szene aus Hamlet in der<lb/> Seele auftaucht: die Philosophie der Totengräber, die Gedanken Hamlets über<lb/> den Schädel des Spaßmachers Yorik und die Betrachtungen über w Ver¬<lb/> gänglichkeit und den Wechsel alles Irdischem Zu was für schnöden Bestim¬<lb/> mungen wir kommen, Horatio! Warum sollte die Einbildungskraft Nicht den<lb/> edeln Staub Alexanders verfolgen können, bis sie ihn findet, wo er em<lb/> Spundloch verstopft? — Ich sehe das offne Grab der armen Ophelia vor mir<lb/> und sehe, wie Laertes in wahnsinnigem Schmerz in das Grab springt, wie<lb/> Hamlet ihm folgt und mit dem Bruder seiner Geliebten ringt. Und ich höre<lb/> Hamlets düstre'Verzweiflung: Ich liebte Ophelia; vierzigtausend Brüder mit<lb/> ihrem ganzen Maß von Liebe reichen nicht an meine Liebe!</p><lb/> <p xml:id="ID_112" next="#ID_113"> Ich trete an die kleine Mauer, die den Kirchhof begrenzt; ich schaue<lb/> hinunter und sehe unter mir den Avon fließen, murmelnd und plätschernd in<lb/> behaglicher Strömung. In frischem, fast leuchtendem Grün erstreckt sich an<lb/> dem andern Ufer eine weite Wiesenfläche, die rechts zu einem mit einzelnen<lb/> Erlen und Ulmen besetzten hügligen Gelände aufsteigt. Ein wolkenfreier, bläulich</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0043]
Eine Pilgerfahrt nach Stratford am Avon
aus dem gegenwärtig ja auch manche deutschen Baumeister ihre Motive zu
nehmen scheinen; es enthält ein Theater, einen Aussichtsturm, eine Bibliothek
und eine Kunstgalerie mit den üblichen, an derartigen Weihestütten aufgestellten
Effektstücken, die der Wandrer für sechs Pence bewundern kann. Interessanter
war mir das vor dein Gebäude stehende Denkmal Shakespeares, das der
reiche Lord Ronald Gvwer selbst gemeißelt und der Stadt geschenkt hat. Eine
größere Geschmacklosigkeit kaun man sich kaum vorstellen; das Postament hat
fast die Form einer alten .fmulntzgrauate, und oben auf der Spitze steht em
Sessel, gerade so gestellt, daß man fürchtet, er müsse jeden Augenblick mit dem
ängstlich daraufsitzenden Dichter herunterstürzen; man hat sogar die Täuschung.
als hebe er sich° schon etwas von seinem Sitz, um rechtzeitig abzuspringen.
Auch die Gestalten am Sockel sind sehr armselig; sie sollen die Tragödie, die
Philosophie, die Geschichte und die Komödie darstellen, und dazu hat man die
Lady Maebeth. Hamlet. den Prinzen Hat und Falstaff ausgewählt. Das
Denkmal wirkt wie ein Fastnnchtsscherz; die Führer unterlasse nicht, aus den
geistvollen Einfall aufmerksam zu machen, der Bildhauer habe sem Werk so
aufgestellt, daß Shakespeare gedankenvoll nach der Kirche schaue, in der seine
Gebeine ruhen (^RA xsnÄveli tue olluien in nlnoll lie bis rsmANs).
Mir war der Dichter durch dieses Denkmal in meiner Phantasie nicht
lebendig geworden, und so wanderte ich lieber den Pfad hinunter nach seiner
Grabstätte durch eine prächtige schattenreiche Lindenallee, die auf deu freund¬
lichen Kirchhof der 'I'Ani^ 0hackt führt. In der Kirche war noch
Nachniittaggottesdienft; der Küster bat mich deshalb, nach einer Viertelstunde
wieder zu kommen, er wolle mir dann Shakespeares Grab zeigen. Ich be¬
nutzte diese p>eit. ging zwischen den Gräbern umher und las die Inschriften
a>'f den verwitterten, von Epheu umrankten Steinen. Es ist ja natürlich, daß
einem hier, mo Shakespeare seine ersten Kirchhofstudien gemacht und sich mit
den Totengräbern unterhalten hat, die berühmte Szene aus Hamlet in der
Seele auftaucht: die Philosophie der Totengräber, die Gedanken Hamlets über
den Schädel des Spaßmachers Yorik und die Betrachtungen über w Ver¬
gänglichkeit und den Wechsel alles Irdischem Zu was für schnöden Bestim¬
mungen wir kommen, Horatio! Warum sollte die Einbildungskraft Nicht den
edeln Staub Alexanders verfolgen können, bis sie ihn findet, wo er em
Spundloch verstopft? — Ich sehe das offne Grab der armen Ophelia vor mir
und sehe, wie Laertes in wahnsinnigem Schmerz in das Grab springt, wie
Hamlet ihm folgt und mit dem Bruder seiner Geliebten ringt. Und ich höre
Hamlets düstre'Verzweiflung: Ich liebte Ophelia; vierzigtausend Brüder mit
ihrem ganzen Maß von Liebe reichen nicht an meine Liebe!
Ich trete an die kleine Mauer, die den Kirchhof begrenzt; ich schaue
hinunter und sehe unter mir den Avon fließen, murmelnd und plätschernd in
behaglicher Strömung. In frischem, fast leuchtendem Grün erstreckt sich an
dem andern Ufer eine weite Wiesenfläche, die rechts zu einem mit einzelnen
Erlen und Ulmen besetzten hügligen Gelände aufsteigt. Ein wolkenfreier, bläulich
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