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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Der Siiui des Christentums

In Beziehling auf Möglichkeiten scheint ihn seine persönliche Lage manchmal
irre zu führen, so z. B. wenn er einmal schreibt, den Leuten, die behaupteten,
sie könnten eine vernünftige, die Gesundheit erhaltende Tagesordnung nicht
inne halten, fehle es nur am guten Willen. Ja, wenn alle Leute Universitüts-
professoren wären! Aber es giebt auch Zeitungsreporter, Eisenbahnbeamte,
Kellner und hunderterlei andre Leute, deren Leben notwendig ein Hohn ist
auf die beiden Bestandteile des Wortes Tagesordnung.

Hören wir nun aber uach dem kirchlich voreingenommnen Hilty den un¬
befangnen Hilty, der die Erfahrung befragt hat! "Solche Leser, die wir nicht
zu haben hoffen, mögen sich gütigst einmal die nllercinfachsten Codices der
Moral, die zehn Gebote oder die Bergpredigt ansehen; wenn sie dann noch
sagen können, wie jener reiche Jüngling: Dies alles habe ich gehalten von
Jugend auf, nun dann wird es ihnen gehn wie diesem, es wird eine Forderung
an sie herantreten, der sie nicht ausweichen können, und die sie gründlich zu
Schanden macht" (I, 190). Man müsse, mahnt er öfter, um jeden Preis ver¬
suchen, gewohnheitsmäßig alle Menschen zu lieben. Aber, meint er, wenn
Paulus es für möglich hält, daß sich einer für die Menschheit verbrennen ließe,
ohne die Liebe zu haben (1. Kor. 13), so zeige dies besser als alle weitern
Worte, was die Liebe sei: ein Stück göttlichen Wesens, das in keines Menschen
Herzen wachse. Er will deshalb auch für diese von Gott verliehene Empfindung
oder besser Gesinnung auch gar nicht das Wort Liebe anwenden; man solle
lieber Wohlwollen, Freundlichkeit gegen alle sagen; das klinge nach weniger
und bedeute mehr. Daß dieses höhere Leben, das man Liebe oder Heiligkeit
oder sonstwie nennen kann -- und dem, erlaube ich mir hinzuzufügen, mancher
Mensch in seinem ganzen Leben mich nicht ein einzigesmal begegnet; ich glaube
es vor vierzig und etlichen Jahren, einmal in einem Manne gefunden zu
haben --, daß dieses höhere Leben von außen komme und eine Wirkuug der
Gnade sei, betont er oft. Und er bezeichnet den Durchgang zu diesem neuen
Leben als einen Tod, deun der Mensch müsse dabei allem entsagen, was er
vorher erstrebt habe; immer wiederholt er, auf Reichtum, Ehre und Genuß
müsse der Mensch unbedingt verzichten. Daß solcher Verzicht über die natür¬
liche Kraft geht, sieht jeder ohne weiteres ein. Der natürliche Mensch kann
wohl um der Ehre willen auf Reichtum und Genuß oder um Reichtums und
Genusses willen auf die Ehre, unter Umstünden um des Genusses willen auf
den Reichtum verzichten (z. B. wenn sich ein Jüngling enterben läßt, um die
arme Geliebte zu heiraten), aber nicht ans alle drei Güter zusammen. Man kann
auch aus die Bestandteile des irdischen Glücks sein ganzes Leben lang in jedem
einzelnen Falle verzichten, wenn sie einem gar nicht oder nur durch ein Un¬
recht erreichbar sind, aber man kann nicht grundsätzlich verzichten; erzwungne
Resignation ist nicht Verdienst, sondern Schwäche. Darin also wird alle Welt
mit Hilty einig sein, daß solcher Verzicht, wenn er möglich wäre, es nur durch
eine übernatürliche Kraft sein könnte, und nur die Existenz dieser Kraft werden
die "leisten bestreiten, weil sie weder in sich noch in andern etwas davon


Der Siiui des Christentums

In Beziehling auf Möglichkeiten scheint ihn seine persönliche Lage manchmal
irre zu führen, so z. B. wenn er einmal schreibt, den Leuten, die behaupteten,
sie könnten eine vernünftige, die Gesundheit erhaltende Tagesordnung nicht
inne halten, fehle es nur am guten Willen. Ja, wenn alle Leute Universitüts-
professoren wären! Aber es giebt auch Zeitungsreporter, Eisenbahnbeamte,
Kellner und hunderterlei andre Leute, deren Leben notwendig ein Hohn ist
auf die beiden Bestandteile des Wortes Tagesordnung.

Hören wir nun aber uach dem kirchlich voreingenommnen Hilty den un¬
befangnen Hilty, der die Erfahrung befragt hat! „Solche Leser, die wir nicht
zu haben hoffen, mögen sich gütigst einmal die nllercinfachsten Codices der
Moral, die zehn Gebote oder die Bergpredigt ansehen; wenn sie dann noch
sagen können, wie jener reiche Jüngling: Dies alles habe ich gehalten von
Jugend auf, nun dann wird es ihnen gehn wie diesem, es wird eine Forderung
an sie herantreten, der sie nicht ausweichen können, und die sie gründlich zu
Schanden macht" (I, 190). Man müsse, mahnt er öfter, um jeden Preis ver¬
suchen, gewohnheitsmäßig alle Menschen zu lieben. Aber, meint er, wenn
Paulus es für möglich hält, daß sich einer für die Menschheit verbrennen ließe,
ohne die Liebe zu haben (1. Kor. 13), so zeige dies besser als alle weitern
Worte, was die Liebe sei: ein Stück göttlichen Wesens, das in keines Menschen
Herzen wachse. Er will deshalb auch für diese von Gott verliehene Empfindung
oder besser Gesinnung auch gar nicht das Wort Liebe anwenden; man solle
lieber Wohlwollen, Freundlichkeit gegen alle sagen; das klinge nach weniger
und bedeute mehr. Daß dieses höhere Leben, das man Liebe oder Heiligkeit
oder sonstwie nennen kann — und dem, erlaube ich mir hinzuzufügen, mancher
Mensch in seinem ganzen Leben mich nicht ein einzigesmal begegnet; ich glaube
es vor vierzig und etlichen Jahren, einmal in einem Manne gefunden zu
haben —, daß dieses höhere Leben von außen komme und eine Wirkuug der
Gnade sei, betont er oft. Und er bezeichnet den Durchgang zu diesem neuen
Leben als einen Tod, deun der Mensch müsse dabei allem entsagen, was er
vorher erstrebt habe; immer wiederholt er, auf Reichtum, Ehre und Genuß
müsse der Mensch unbedingt verzichten. Daß solcher Verzicht über die natür¬
liche Kraft geht, sieht jeder ohne weiteres ein. Der natürliche Mensch kann
wohl um der Ehre willen auf Reichtum und Genuß oder um Reichtums und
Genusses willen auf die Ehre, unter Umstünden um des Genusses willen auf
den Reichtum verzichten (z. B. wenn sich ein Jüngling enterben läßt, um die
arme Geliebte zu heiraten), aber nicht ans alle drei Güter zusammen. Man kann
auch aus die Bestandteile des irdischen Glücks sein ganzes Leben lang in jedem
einzelnen Falle verzichten, wenn sie einem gar nicht oder nur durch ein Un¬
recht erreichbar sind, aber man kann nicht grundsätzlich verzichten; erzwungne
Resignation ist nicht Verdienst, sondern Schwäche. Darin also wird alle Welt
mit Hilty einig sein, daß solcher Verzicht, wenn er möglich wäre, es nur durch
eine übernatürliche Kraft sein könnte, und nur die Existenz dieser Kraft werden
die »leisten bestreiten, weil sie weder in sich noch in andern etwas davon


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/390>, abgerufen am 03.07.2024.