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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Der Sinn dos Christentums

spüren. Glaubt mein aber auch an diese Kraft, so entsteht doch w der ge¬
wöhnlichen Auffassung des Christentums die Frage, warum sie Gott nicht allen
verleihe? Weil nicht alle, weil die meisten sie nicht wollen, antwortet yilty
mit den Semipelagiaucrn und Katholiken. Und er äußert einmal, wenn
man leugne, daß der Wille in unsrer Macht stehe, so höre leder Begriff von
Moral ans. In diesem Punkte giebt aber die neuere Psychologie nicht zu-
folge neuer Entdeckungen, fondern nur infolge der bis zum Grunde vorge
drunquen Untersuchung des Gegenstands. deu Reformatoren gegen den Katho-
lizismus Recht; ans die Frage, wie sich der Determinismus mit Moral und
Verantwortung vertrage, können wir hier nicht abschweifen; es muß die Be¬
merkung genügen, daß der Ausdruck, der Wille stehe in "no Macht, gar
keinen Sinn hat. namentlich für Hilty nicht, der II. 220 deu Willen für tap
Wesen des Menschen erklärt. Wer ist denn der ..Wir." in dessen Macht der
Wille stehn soll? Kein andrer als der Wille selbst; so haben wir die sinnlose
Tautologie: der Wille wird durch sich selbst bestimmt. Einen Sen,. hat dieser
Satz allenfalls, wenn wir damit meinen: der Wille ist ein für allemal dnrch
seine Natur in der Weise bestimmt, daß er seine eigne Befriedigung erstrebt,
die die Empfindung der Zufriedenheit oder Glückseligkeit erzeugt. Für M
einzelne Willensäußerung aber muß die Vorstellung eines Gegenstands hinzu¬
kommen, dessen Besitz Befriedigung verspricht, sonst bleibt es bei einem dumpfe"
Sehnen und kommt es zu keinem Entschluß und zu keiner Handlung. Was
den Willen bestimmt, das sind also die mit ihm verbundnen Vorstellungen
vom Beglückenden. Nun sind aber viele Menschen von Natur so geartet, daß
in ihnen die Vorstellung eiues beglückenden geistigen Guts gar nicht entsteh,,
kann, andre sind dessen zwar nicht von Natur unfähig, aber ihre Umgebung
ist derart, daß sie solche Vorstellungen nicht darin finden, und aus sich selbst
vermag der Mensch überhaupt keine Vorstellung zu erzengen, die vom Schönen.
Wahren und Guten so wenig, wie die vom Blauen oder vom Glockenklang;
alle Vorstellungen ohne Ausnahme werden durch äußere Einwirkungen in unsrer
Seele erzeugt.' Diese Thatsache ist es, und nicht der Umstand, daß die meisten
ihren selbstsüchtigen Willen nicht aufgeben mögen, weil das zu schwer sei. wie
Hilty II, 269 meint, was die Prädestination so wahrscheinlich macht. ..daß
man oft in große Versuchung gerät, sie für wahr zu halten." In seinem Urteil
über das wlvinische Prüdestinativnsdogma, das die Dordrechter Synode ,.zu
einem förmlichen Widersinn gesteigert" habe, stimme ich ihm natürlich bei. Das
würde, meint er. ..die wirklichste und zugleich die furchtbarste Weltordnung
sein, die man sich denken könnte, gegen die'
, eine Empörung der Rechtlosen
wenigstens sehr entschuldbar sein müßte"; ich würde das noch stärker ausdrücken:
Gott wäre dann der Teufel, und gegen diesen sich zu empören wäre Pflicht.
Etwas andres ist es. wenn man die Höllenfragc beiseite läßt und nur das.
was auf Erden thatsächlich geschieht, ins Auge faßt; da kann nicht geleugnet
werden, daß Gott die Mittel zu gewöhnlicher Rechtschaffenheit sehr vielen und
die Kraft zu einer übernatürlichen Vollkommenheit der ungeheuern Mehrzahl


Der Sinn dos Christentums

spüren. Glaubt mein aber auch an diese Kraft, so entsteht doch w der ge¬
wöhnlichen Auffassung des Christentums die Frage, warum sie Gott nicht allen
verleihe? Weil nicht alle, weil die meisten sie nicht wollen, antwortet yilty
mit den Semipelagiaucrn und Katholiken. Und er äußert einmal, wenn
man leugne, daß der Wille in unsrer Macht stehe, so höre leder Begriff von
Moral ans. In diesem Punkte giebt aber die neuere Psychologie nicht zu-
folge neuer Entdeckungen, fondern nur infolge der bis zum Grunde vorge
drunquen Untersuchung des Gegenstands. deu Reformatoren gegen den Katho-
lizismus Recht; ans die Frage, wie sich der Determinismus mit Moral und
Verantwortung vertrage, können wir hier nicht abschweifen; es muß die Be¬
merkung genügen, daß der Ausdruck, der Wille stehe in »no Macht, gar
keinen Sinn hat. namentlich für Hilty nicht, der II. 220 deu Willen für tap
Wesen des Menschen erklärt. Wer ist denn der ..Wir." in dessen Macht der
Wille stehn soll? Kein andrer als der Wille selbst; so haben wir die sinnlose
Tautologie: der Wille wird durch sich selbst bestimmt. Einen Sen,. hat dieser
Satz allenfalls, wenn wir damit meinen: der Wille ist ein für allemal dnrch
seine Natur in der Weise bestimmt, daß er seine eigne Befriedigung erstrebt,
die die Empfindung der Zufriedenheit oder Glückseligkeit erzeugt. Für M
einzelne Willensäußerung aber muß die Vorstellung eines Gegenstands hinzu¬
kommen, dessen Besitz Befriedigung verspricht, sonst bleibt es bei einem dumpfe»
Sehnen und kommt es zu keinem Entschluß und zu keiner Handlung. Was
den Willen bestimmt, das sind also die mit ihm verbundnen Vorstellungen
vom Beglückenden. Nun sind aber viele Menschen von Natur so geartet, daß
in ihnen die Vorstellung eiues beglückenden geistigen Guts gar nicht entsteh,,
kann, andre sind dessen zwar nicht von Natur unfähig, aber ihre Umgebung
ist derart, daß sie solche Vorstellungen nicht darin finden, und aus sich selbst
vermag der Mensch überhaupt keine Vorstellung zu erzengen, die vom Schönen.
Wahren und Guten so wenig, wie die vom Blauen oder vom Glockenklang;
alle Vorstellungen ohne Ausnahme werden durch äußere Einwirkungen in unsrer
Seele erzeugt.' Diese Thatsache ist es, und nicht der Umstand, daß die meisten
ihren selbstsüchtigen Willen nicht aufgeben mögen, weil das zu schwer sei. wie
Hilty II, 269 meint, was die Prädestination so wahrscheinlich macht. ..daß
man oft in große Versuchung gerät, sie für wahr zu halten." In seinem Urteil
über das wlvinische Prüdestinativnsdogma, das die Dordrechter Synode ,.zu
einem förmlichen Widersinn gesteigert" habe, stimme ich ihm natürlich bei. Das
würde, meint er. ..die wirklichste und zugleich die furchtbarste Weltordnung
sein, die man sich denken könnte, gegen die'
, eine Empörung der Rechtlosen
wenigstens sehr entschuldbar sein müßte"; ich würde das noch stärker ausdrücken:
Gott wäre dann der Teufel, und gegen diesen sich zu empören wäre Pflicht.
Etwas andres ist es. wenn man die Höllenfragc beiseite läßt und nur das.
was auf Erden thatsächlich geschieht, ins Auge faßt; da kann nicht geleugnet
werden, daß Gott die Mittel zu gewöhnlicher Rechtschaffenheit sehr vielen und
die Kraft zu einer übernatürlichen Vollkommenheit der ungeheuern Mehrzahl


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[0391] Der Sinn dos Christentums spüren. Glaubt mein aber auch an diese Kraft, so entsteht doch w der ge¬ wöhnlichen Auffassung des Christentums die Frage, warum sie Gott nicht allen verleihe? Weil nicht alle, weil die meisten sie nicht wollen, antwortet yilty mit den Semipelagiaucrn und Katholiken. Und er äußert einmal, wenn man leugne, daß der Wille in unsrer Macht stehe, so höre leder Begriff von Moral ans. In diesem Punkte giebt aber die neuere Psychologie nicht zu- folge neuer Entdeckungen, fondern nur infolge der bis zum Grunde vorge drunquen Untersuchung des Gegenstands. deu Reformatoren gegen den Katho- lizismus Recht; ans die Frage, wie sich der Determinismus mit Moral und Verantwortung vertrage, können wir hier nicht abschweifen; es muß die Be¬ merkung genügen, daß der Ausdruck, der Wille stehe in »no Macht, gar keinen Sinn hat. namentlich für Hilty nicht, der II. 220 deu Willen für tap Wesen des Menschen erklärt. Wer ist denn der ..Wir." in dessen Macht der Wille stehn soll? Kein andrer als der Wille selbst; so haben wir die sinnlose Tautologie: der Wille wird durch sich selbst bestimmt. Einen Sen,. hat dieser Satz allenfalls, wenn wir damit meinen: der Wille ist ein für allemal dnrch seine Natur in der Weise bestimmt, daß er seine eigne Befriedigung erstrebt, die die Empfindung der Zufriedenheit oder Glückseligkeit erzeugt. Für M einzelne Willensäußerung aber muß die Vorstellung eines Gegenstands hinzu¬ kommen, dessen Besitz Befriedigung verspricht, sonst bleibt es bei einem dumpfe» Sehnen und kommt es zu keinem Entschluß und zu keiner Handlung. Was den Willen bestimmt, das sind also die mit ihm verbundnen Vorstellungen vom Beglückenden. Nun sind aber viele Menschen von Natur so geartet, daß in ihnen die Vorstellung eiues beglückenden geistigen Guts gar nicht entsteh,, kann, andre sind dessen zwar nicht von Natur unfähig, aber ihre Umgebung ist derart, daß sie solche Vorstellungen nicht darin finden, und aus sich selbst vermag der Mensch überhaupt keine Vorstellung zu erzengen, die vom Schönen. Wahren und Guten so wenig, wie die vom Blauen oder vom Glockenklang; alle Vorstellungen ohne Ausnahme werden durch äußere Einwirkungen in unsrer Seele erzeugt.' Diese Thatsache ist es, und nicht der Umstand, daß die meisten ihren selbstsüchtigen Willen nicht aufgeben mögen, weil das zu schwer sei. wie Hilty II, 269 meint, was die Prädestination so wahrscheinlich macht. ..daß man oft in große Versuchung gerät, sie für wahr zu halten." In seinem Urteil über das wlvinische Prüdestinativnsdogma, das die Dordrechter Synode ,.zu einem förmlichen Widersinn gesteigert" habe, stimme ich ihm natürlich bei. Das würde, meint er. ..die wirklichste und zugleich die furchtbarste Weltordnung sein, die man sich denken könnte, gegen die' , eine Empörung der Rechtlosen wenigstens sehr entschuldbar sein müßte"; ich würde das noch stärker ausdrücken: Gott wäre dann der Teufel, und gegen diesen sich zu empören wäre Pflicht. Etwas andres ist es. wenn man die Höllenfragc beiseite läßt und nur das. was auf Erden thatsächlich geschieht, ins Auge faßt; da kann nicht geleugnet werden, daß Gott die Mittel zu gewöhnlicher Rechtschaffenheit sehr vielen und die Kraft zu einer übernatürlichen Vollkommenheit der ungeheuern Mehrzahl

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/391>, abgerufen am 02.10.2024.