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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Gunst unsrer geographischen Lage. Wie oft haben wir geklagt über unsre
kurze Nordseeküste, über unsre gefährliche Situation zwischen drei Großmächten^
weil wir im Herzen von Europa wohnen! Jetzt erst sehen wir recht klar,
wieviel es bedeutet, daß alle unsre großen Seestädte, da sie an schiffbaren
Strömen liege", die bequemste und billigste Verbindung mit einem ausgedehnten
reichen Hinterkante haben und zugleich Binnenhandelsplätze sind, weil sie dort
entstanden sind, wo die Flußschiffahrt aufhört und die Seeschiffahrt beginnt,
einen Vorzug, der den großen Hafenstädten Englands bei der geringen Aus¬
dehnung des' Landes fehlt. Aber noch wichtiger ist ein zweiter Umstand. Die
Stellung Deutschlands zu den großen Wclthaudelsstraßen hat bis jetzt dreimal
Wen Grund ans gewechselt. Bis etwa 1200 wurde es von ihnen umgangen,
blieb daher in seiner wirtschaftlichen Entwicklung hinter seinen Nachbarländer"
zurück, ein Land der Bauern und des Adels, der Dörfer, Burgen und Klöster.
Als kurz nach 1200 Venedig mit der Eroberung Konstantinopels die bisherige
zentrale Stellung dieser Welthandelsstadt selbst gewann, führten die großen
Handelsstraßen mitten dnrch Deutschland, und mit reißender Schnelligkeit er¬
wuchsen die deutschen Städte. Als drei Jahrhunderte später die türkische Er¬
oberung die alten natürlichen Straßen nach Süd- und Ostasien sperrte und
die iberische" Völker die direkten, aber sehr viel längern Seewege dorthin
fanden, träte" erst Spanien und Portugal, dann Holland "ut England ans
ihrer alten peripherischen Stellung in den Mittelpunkt des Welthandels,
das zerklüftete Deutschland wurde beiseite geschoben und verfiel der wirt¬
schaftliche" wie der politischen Verkümmerung. Jetzt stehn wir am Anfange
einer vierten Periode. Sie wurde eröffnet mit dem Bau des Suezkanals
(1869), der dem Mittelmeer seine alte zentrale Bedeutung wiedergab; daran
schloß sich der Bau der Brenner- und der Gotthardbahn, die für Deutschland
die alten Verbindungswege nach Italien mit neuen Mitteln wieder belebten.
Mit der Vollendung der sibirischen Eisenbahn wird die kürzeste Linie nach
Ostasien, mit dem Ausbau der Bagdadbahn auch die kürzeste Linie nach Ost¬
indien für den ganzen Westen und Norden Europas durch Deutschland führen,
jene über Berlin, diese über München. Ein seltsamer, zunächst fast verblüffender
Gedanke, an den sich aber "ach zehn oder zwanzig Jahren die Welt ebenso
gewöhnt haben wird, wie um die Pacifiebahuen und den Suezkanal. Damit
gewinnt Deutschland seine mittelalterliche Zentrnlftellung im Welthandel in er¬
weitertem Maße zurück und einen Vorsprung vor England, der ganz natürlich
wuner größer werden muß, je mehr sich die neuen Verkehrslinie" beleben.

Schon sind wir anch an der Arbeit, uns von der englischen Vermittlung
zu befreien. Hamburg beginnt, wie die Denkschrift hervorhebt, den englischen
Zwischenhandel zwischen Deutschland und dem überseeischen Ländern zurückzu-
^wgm, deutsche Geldinstitute lösen unsre Abhängigkeit von der Londoner
^"'rse, und auch die bisher unbedingte Alleinherrschaft Englands über die Welt-
kabellinien hat die längste Zeit gedauert, denn Deutschland wird nächstens
^"igstcns mit Nordamerika seine eigne Kabelverbindung haben.


Gunst unsrer geographischen Lage. Wie oft haben wir geklagt über unsre
kurze Nordseeküste, über unsre gefährliche Situation zwischen drei Großmächten^
weil wir im Herzen von Europa wohnen! Jetzt erst sehen wir recht klar,
wieviel es bedeutet, daß alle unsre großen Seestädte, da sie an schiffbaren
Strömen liege», die bequemste und billigste Verbindung mit einem ausgedehnten
reichen Hinterkante haben und zugleich Binnenhandelsplätze sind, weil sie dort
entstanden sind, wo die Flußschiffahrt aufhört und die Seeschiffahrt beginnt,
einen Vorzug, der den großen Hafenstädten Englands bei der geringen Aus¬
dehnung des' Landes fehlt. Aber noch wichtiger ist ein zweiter Umstand. Die
Stellung Deutschlands zu den großen Wclthaudelsstraßen hat bis jetzt dreimal
Wen Grund ans gewechselt. Bis etwa 1200 wurde es von ihnen umgangen,
blieb daher in seiner wirtschaftlichen Entwicklung hinter seinen Nachbarländer»
zurück, ein Land der Bauern und des Adels, der Dörfer, Burgen und Klöster.
Als kurz nach 1200 Venedig mit der Eroberung Konstantinopels die bisherige
zentrale Stellung dieser Welthandelsstadt selbst gewann, führten die großen
Handelsstraßen mitten dnrch Deutschland, und mit reißender Schnelligkeit er¬
wuchsen die deutschen Städte. Als drei Jahrhunderte später die türkische Er¬
oberung die alten natürlichen Straßen nach Süd- und Ostasien sperrte und
die iberische» Völker die direkten, aber sehr viel längern Seewege dorthin
fanden, träte» erst Spanien und Portugal, dann Holland »ut England ans
ihrer alten peripherischen Stellung in den Mittelpunkt des Welthandels,
das zerklüftete Deutschland wurde beiseite geschoben und verfiel der wirt¬
schaftliche» wie der politischen Verkümmerung. Jetzt stehn wir am Anfange
einer vierten Periode. Sie wurde eröffnet mit dem Bau des Suezkanals
(1869), der dem Mittelmeer seine alte zentrale Bedeutung wiedergab; daran
schloß sich der Bau der Brenner- und der Gotthardbahn, die für Deutschland
die alten Verbindungswege nach Italien mit neuen Mitteln wieder belebten.
Mit der Vollendung der sibirischen Eisenbahn wird die kürzeste Linie nach
Ostasien, mit dem Ausbau der Bagdadbahn auch die kürzeste Linie nach Ost¬
indien für den ganzen Westen und Norden Europas durch Deutschland führen,
jene über Berlin, diese über München. Ein seltsamer, zunächst fast verblüffender
Gedanke, an den sich aber »ach zehn oder zwanzig Jahren die Welt ebenso
gewöhnt haben wird, wie um die Pacifiebahuen und den Suezkanal. Damit
gewinnt Deutschland seine mittelalterliche Zentrnlftellung im Welthandel in er¬
weitertem Maße zurück und einen Vorsprung vor England, der ganz natürlich
wuner größer werden muß, je mehr sich die neuen Verkehrslinie» beleben.

Schon sind wir anch an der Arbeit, uns von der englischen Vermittlung
zu befreien. Hamburg beginnt, wie die Denkschrift hervorhebt, den englischen
Zwischenhandel zwischen Deutschland und dem überseeischen Ländern zurückzu-
^wgm, deutsche Geldinstitute lösen unsre Abhängigkeit von der Londoner
^"'rse, und auch die bisher unbedingte Alleinherrschaft Englands über die Welt-
kabellinien hat die längste Zeit gedauert, denn Deutschland wird nächstens
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[0317] Gunst unsrer geographischen Lage. Wie oft haben wir geklagt über unsre kurze Nordseeküste, über unsre gefährliche Situation zwischen drei Großmächten^ weil wir im Herzen von Europa wohnen! Jetzt erst sehen wir recht klar, wieviel es bedeutet, daß alle unsre großen Seestädte, da sie an schiffbaren Strömen liege», die bequemste und billigste Verbindung mit einem ausgedehnten reichen Hinterkante haben und zugleich Binnenhandelsplätze sind, weil sie dort entstanden sind, wo die Flußschiffahrt aufhört und die Seeschiffahrt beginnt, einen Vorzug, der den großen Hafenstädten Englands bei der geringen Aus¬ dehnung des' Landes fehlt. Aber noch wichtiger ist ein zweiter Umstand. Die Stellung Deutschlands zu den großen Wclthaudelsstraßen hat bis jetzt dreimal Wen Grund ans gewechselt. Bis etwa 1200 wurde es von ihnen umgangen, blieb daher in seiner wirtschaftlichen Entwicklung hinter seinen Nachbarländer» zurück, ein Land der Bauern und des Adels, der Dörfer, Burgen und Klöster. Als kurz nach 1200 Venedig mit der Eroberung Konstantinopels die bisherige zentrale Stellung dieser Welthandelsstadt selbst gewann, führten die großen Handelsstraßen mitten dnrch Deutschland, und mit reißender Schnelligkeit er¬ wuchsen die deutschen Städte. Als drei Jahrhunderte später die türkische Er¬ oberung die alten natürlichen Straßen nach Süd- und Ostasien sperrte und die iberische» Völker die direkten, aber sehr viel längern Seewege dorthin fanden, träte» erst Spanien und Portugal, dann Holland »ut England ans ihrer alten peripherischen Stellung in den Mittelpunkt des Welthandels, das zerklüftete Deutschland wurde beiseite geschoben und verfiel der wirt¬ schaftliche» wie der politischen Verkümmerung. Jetzt stehn wir am Anfange einer vierten Periode. Sie wurde eröffnet mit dem Bau des Suezkanals (1869), der dem Mittelmeer seine alte zentrale Bedeutung wiedergab; daran schloß sich der Bau der Brenner- und der Gotthardbahn, die für Deutschland die alten Verbindungswege nach Italien mit neuen Mitteln wieder belebten. Mit der Vollendung der sibirischen Eisenbahn wird die kürzeste Linie nach Ostasien, mit dem Ausbau der Bagdadbahn auch die kürzeste Linie nach Ost¬ indien für den ganzen Westen und Norden Europas durch Deutschland führen, jene über Berlin, diese über München. Ein seltsamer, zunächst fast verblüffender Gedanke, an den sich aber »ach zehn oder zwanzig Jahren die Welt ebenso gewöhnt haben wird, wie um die Pacifiebahuen und den Suezkanal. Damit gewinnt Deutschland seine mittelalterliche Zentrnlftellung im Welthandel in er¬ weitertem Maße zurück und einen Vorsprung vor England, der ganz natürlich wuner größer werden muß, je mehr sich die neuen Verkehrslinie» beleben. Schon sind wir anch an der Arbeit, uns von der englischen Vermittlung zu befreien. Hamburg beginnt, wie die Denkschrift hervorhebt, den englischen Zwischenhandel zwischen Deutschland und dem überseeischen Ländern zurückzu- ^wgm, deutsche Geldinstitute lösen unsre Abhängigkeit von der Londoner ^"'rse, und auch die bisher unbedingte Alleinherrschaft Englands über die Welt- kabellinien hat die längste Zeit gedauert, denn Deutschland wird nächstens ^"igstcns mit Nordamerika seine eigne Kabelverbindung haben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/317>, abgerufen am 04.07.2024.