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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Böhmische Wirren

ein Tscheche sei, und in welchem Winkel Europas man ihn zu suchen habe.
Sogar über die geographische Lage und die Staatszugehörigkeit Böhmens
glaubten einige der ans Prag nach Paris Gekommnen bei ihren französischen
Gönnern sehr unbestimmte und schwankende Begriffe bemerkt zu haben.

Merkwürdige Ironie der Thatsachen. Französische und russische Publi¬
zisten verdammen in den härtesten Ausdrücken Österreich, weil es aus Böhmen
kein selbständiges Königreich machen will; wie es mit der Bretagne, mit den
baltischen Provinzen, mit Livland aussieht, kommt ihnen dabei nicht in
den Sinn.

War die Bretagne, um unter allen nur dieses eine Beispiel herauszugreifen,
nicht als selbständiges Herzogtum an .Karl VIII. gekommen? War sie nicht von
Franz I. flottweg annektiert worden? Hat sich die französische Revolution,
deren Verfahren nun en divo gutheißt, nicht für berechtigt gehalten, sogar das
zuletzt noch zurückgebliebne Band einstiger Selbständigkeit zu vernichten, indem
sie an die Stelle der einstmaligen Einheit des Herzogtums und der Provinz
die Einteilung in fünf voneinander unabhängige Departements setzte? Wo ist
heutzutage der Bretagner, der an einem nur französisch sprechenden Richter
Anstoß nähme oder sich unterfinge, beim Namensaufrufe der Rekruten anstatt
mit dem vorschriftsmäßigen xrö8fut! keltisch zu antworten?

Und doch hat die französische Zentralisierung Volksart, Kleidung, Sprache
und Litteratur der Bretagner völlig unberührt gelassen, und deren heimatlicher
Zauber ist so ungebrochen, daß sich in Paris alljährlich mehreremale die berühmten
und unberühmter Sohne des armorischen Küstenlands zu Agapen vereinigen,
bei denen im Prinzip keltisch gesprochen wird, und daß die Bezeichnung der
Bretagner, die ihre alte Sprache und die Sitten ihrer Vorfahren beibehalten
haben, der Lrstous drötouiuuits nach wie vor in ganz Frankreich ein Ehren¬
titel ist.

Für eine Germanisierung Böhmens in dein Sinne, daß man auf den Ge¬
danken kommen könnte, tschechische Kultur und tschechische Art auszurotten, um
an deren Stelle deutsche Kultur und deutsches Wesen zu setzen, könnten wir
uns nicht begeistern. Auch die Regierung denkt nicht ein dergleichen.

Wer dies bezweifelt, unternehme einen vierzehntügigen Abstecher in eine
der Gegenden Böhmens, wo keine deutschen Niederlassungen siud: ob er auch
nur die entfernteste Spur einer von der Negierung versuchten Germanisierung
entdecken wird. Alles ist tschechisch geblieben, als wenn es nie ein Deutsch-
Österreich auf der Welt gegeben hätte. Es ist sogar kaum möglich, ein an¬
mutigeres Bild ungestörten, friedlichen und geradezu idyllischen Dorflebeus
zu sehen. Nichts, das auch nur im entferntesten an aufgezwungnes fremdes
Wesen erinnerte, außer vielleicht hie und da ein Stück schlecht passender, fix
und fertig gekaufter städtischer Kleidung, das sich inmitten der vom Dorf¬
schneider nach Maß gearbeiteten solidern Landestracht nicht besonders gut
ausnimmt. Die Leute alle -- so hat es den Anschein -- sind zufrieden, gastlich
und heiter, für Musik und Tanz mit Lust, Talent und arkadischer Grazie in


Böhmische Wirren

ein Tscheche sei, und in welchem Winkel Europas man ihn zu suchen habe.
Sogar über die geographische Lage und die Staatszugehörigkeit Böhmens
glaubten einige der ans Prag nach Paris Gekommnen bei ihren französischen
Gönnern sehr unbestimmte und schwankende Begriffe bemerkt zu haben.

Merkwürdige Ironie der Thatsachen. Französische und russische Publi¬
zisten verdammen in den härtesten Ausdrücken Österreich, weil es aus Böhmen
kein selbständiges Königreich machen will; wie es mit der Bretagne, mit den
baltischen Provinzen, mit Livland aussieht, kommt ihnen dabei nicht in
den Sinn.

War die Bretagne, um unter allen nur dieses eine Beispiel herauszugreifen,
nicht als selbständiges Herzogtum an .Karl VIII. gekommen? War sie nicht von
Franz I. flottweg annektiert worden? Hat sich die französische Revolution,
deren Verfahren nun en divo gutheißt, nicht für berechtigt gehalten, sogar das
zuletzt noch zurückgebliebne Band einstiger Selbständigkeit zu vernichten, indem
sie an die Stelle der einstmaligen Einheit des Herzogtums und der Provinz
die Einteilung in fünf voneinander unabhängige Departements setzte? Wo ist
heutzutage der Bretagner, der an einem nur französisch sprechenden Richter
Anstoß nähme oder sich unterfinge, beim Namensaufrufe der Rekruten anstatt
mit dem vorschriftsmäßigen xrö8fut! keltisch zu antworten?

Und doch hat die französische Zentralisierung Volksart, Kleidung, Sprache
und Litteratur der Bretagner völlig unberührt gelassen, und deren heimatlicher
Zauber ist so ungebrochen, daß sich in Paris alljährlich mehreremale die berühmten
und unberühmter Sohne des armorischen Küstenlands zu Agapen vereinigen,
bei denen im Prinzip keltisch gesprochen wird, und daß die Bezeichnung der
Bretagner, die ihre alte Sprache und die Sitten ihrer Vorfahren beibehalten
haben, der Lrstous drötouiuuits nach wie vor in ganz Frankreich ein Ehren¬
titel ist.

Für eine Germanisierung Böhmens in dein Sinne, daß man auf den Ge¬
danken kommen könnte, tschechische Kultur und tschechische Art auszurotten, um
an deren Stelle deutsche Kultur und deutsches Wesen zu setzen, könnten wir
uns nicht begeistern. Auch die Regierung denkt nicht ein dergleichen.

Wer dies bezweifelt, unternehme einen vierzehntügigen Abstecher in eine
der Gegenden Böhmens, wo keine deutschen Niederlassungen siud: ob er auch
nur die entfernteste Spur einer von der Negierung versuchten Germanisierung
entdecken wird. Alles ist tschechisch geblieben, als wenn es nie ein Deutsch-
Österreich auf der Welt gegeben hätte. Es ist sogar kaum möglich, ein an¬
mutigeres Bild ungestörten, friedlichen und geradezu idyllischen Dorflebeus
zu sehen. Nichts, das auch nur im entferntesten an aufgezwungnes fremdes
Wesen erinnerte, außer vielleicht hie und da ein Stück schlecht passender, fix
und fertig gekaufter städtischer Kleidung, das sich inmitten der vom Dorf¬
schneider nach Maß gearbeiteten solidern Landestracht nicht besonders gut
ausnimmt. Die Leute alle — so hat es den Anschein — sind zufrieden, gastlich
und heiter, für Musik und Tanz mit Lust, Talent und arkadischer Grazie in


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[0296] Böhmische Wirren ein Tscheche sei, und in welchem Winkel Europas man ihn zu suchen habe. Sogar über die geographische Lage und die Staatszugehörigkeit Böhmens glaubten einige der ans Prag nach Paris Gekommnen bei ihren französischen Gönnern sehr unbestimmte und schwankende Begriffe bemerkt zu haben. Merkwürdige Ironie der Thatsachen. Französische und russische Publi¬ zisten verdammen in den härtesten Ausdrücken Österreich, weil es aus Böhmen kein selbständiges Königreich machen will; wie es mit der Bretagne, mit den baltischen Provinzen, mit Livland aussieht, kommt ihnen dabei nicht in den Sinn. War die Bretagne, um unter allen nur dieses eine Beispiel herauszugreifen, nicht als selbständiges Herzogtum an .Karl VIII. gekommen? War sie nicht von Franz I. flottweg annektiert worden? Hat sich die französische Revolution, deren Verfahren nun en divo gutheißt, nicht für berechtigt gehalten, sogar das zuletzt noch zurückgebliebne Band einstiger Selbständigkeit zu vernichten, indem sie an die Stelle der einstmaligen Einheit des Herzogtums und der Provinz die Einteilung in fünf voneinander unabhängige Departements setzte? Wo ist heutzutage der Bretagner, der an einem nur französisch sprechenden Richter Anstoß nähme oder sich unterfinge, beim Namensaufrufe der Rekruten anstatt mit dem vorschriftsmäßigen xrö8fut! keltisch zu antworten? Und doch hat die französische Zentralisierung Volksart, Kleidung, Sprache und Litteratur der Bretagner völlig unberührt gelassen, und deren heimatlicher Zauber ist so ungebrochen, daß sich in Paris alljährlich mehreremale die berühmten und unberühmter Sohne des armorischen Küstenlands zu Agapen vereinigen, bei denen im Prinzip keltisch gesprochen wird, und daß die Bezeichnung der Bretagner, die ihre alte Sprache und die Sitten ihrer Vorfahren beibehalten haben, der Lrstous drötouiuuits nach wie vor in ganz Frankreich ein Ehren¬ titel ist. Für eine Germanisierung Böhmens in dein Sinne, daß man auf den Ge¬ danken kommen könnte, tschechische Kultur und tschechische Art auszurotten, um an deren Stelle deutsche Kultur und deutsches Wesen zu setzen, könnten wir uns nicht begeistern. Auch die Regierung denkt nicht ein dergleichen. Wer dies bezweifelt, unternehme einen vierzehntügigen Abstecher in eine der Gegenden Böhmens, wo keine deutschen Niederlassungen siud: ob er auch nur die entfernteste Spur einer von der Negierung versuchten Germanisierung entdecken wird. Alles ist tschechisch geblieben, als wenn es nie ein Deutsch- Österreich auf der Welt gegeben hätte. Es ist sogar kaum möglich, ein an¬ mutigeres Bild ungestörten, friedlichen und geradezu idyllischen Dorflebeus zu sehen. Nichts, das auch nur im entferntesten an aufgezwungnes fremdes Wesen erinnerte, außer vielleicht hie und da ein Stück schlecht passender, fix und fertig gekaufter städtischer Kleidung, das sich inmitten der vom Dorf¬ schneider nach Maß gearbeiteten solidern Landestracht nicht besonders gut ausnimmt. Die Leute alle — so hat es den Anschein — sind zufrieden, gastlich und heiter, für Musik und Tanz mit Lust, Talent und arkadischer Grazie in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/296>, abgerufen am 04.07.2024.