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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Der romanische und der germanische Grenzbegriff

den Hauptkamm der Zeutralalpen als Nordgrenze Italiens erkannte und fest¬
setzte, und daß bis in die späte Kaiserzeit hinein die Westalpen in drei Distrikte
zerfielen, die sich ebenso zu beiden Seiten des Gebirgs hillüberstreckten, wie in
spätern Jahrhunderten das Königreich Navarra hinabreichte nach Sndfrnnkrcich
und Hvcharagonien.

Diese römische Verwaltungspraxis aber lebt heute noch in gewissen Dingen
fort. Wie in den Gemarkungen der italienischen Städte die Flnrgrenzen der
alten oivitatöZ wiederkehren, so hat vor allem die katholische Kirche in ihrer
Provinzialeinteilung vielfach hartnäckig an den nltrömischen Prvviuzgrenzcn fest¬
gehalten. Noch jetzt fallen oft die Grenzen der Bistumssprengel mit den
kaiserlich römischen zusammen. So trennt noch heute der obengenannte Vinxt-
bach die Erzdiözesen Köln und Trier, wie einst Ober- und Niedergermanicn,
und einen besonders augenfälligen Beleg bietet der Zillerfluß in Tirol, der
ursprünglich Rätier von Noricum trennte und jetzt die Bistümer Brixen und
Salzburg voneinander abgrenzt. Dort wird man heute noch die alte Römer¬
grenze dadurch gewahr, daß westlich vom Ziller und seinem Quellbnch, der
Zaum, rote Kirchtürme über den Häusern emporragen, während östlich lauter
grün gedeckte Türme die Zugehörigkeit zum Salzburger Sprengel bezeugen.
Also römisches Wesen und Denken auf einem Boden, auf dem seit mehr als
einem Jahrtausend Deutsche sitzen, und mit der unbegreiflichen, mir den Römern
möglichen Zähigkeit an einer Stelle eingewurzelt, wo man deutsches Wesen und
Empfinden vor allem erwarten sollte.

Denn auch in seiner Empfindung von Grenze und Grenzabteiluug trennt
den Deutschen eine weite Kluft von dem Römer und Romanen. Weit entfernt
von der ängstlich auch das Geringe ausnützcudcn, systematischen Weise der
Römer war die Art unsrer Vorfahren, als sie mit jenen zusammenstießen. Auch
als sie, von der schnell wachsenden Bevölkerungszahl und der daraus folgenden
Laudnot getrieben, auszogen, um neue Sitze zu finden und den Überschuß der
Bolkskraft unterzubringen, kam ihnen nicht der Gedanke, sorglich zu erwägen,
ob das Land, das sie bewohnten, auch bis auf das letzte Fleckchen ausgenutzt
sei. Von jeher hatten sie daran festgehalten, daß sie keine bloße Linie, sei sie
auch noch so hoch oder tief gelegen, weder der Kamm eines himmelragenden
Gebirgs, noch die Rinne eines reißenden Flusses von ihren Nachbarn trennen
könne. Sie kannten nicht einmal ein Wort dafür. Denn der jetzt in diesem
Sinn gewöhnlich angewandte Ausdruck "Grenze" ist ein Lehnwort, das wir
erst im fünfzehnten Jahrhundert unsern slawischen Nachbarn entnommen haben.
Vielmehr war ihnen in hervorragender Weise der Begriff der Flächengreuze,
des Grenzsaums eigen, den sie "Mark," oder um mit Ludwig Jnhu zu reden,
"Hamme" nannten. Eine breite, sich womöglich mehrere Tagereisen erstreckende
Sumpf- oder Waldfläche wurde gewählt, um den eignen Sitz von dem des
Nachbarn abzutrennen. Nur dann fühlten sie sich Wohl, wenn sie, wie die
angelsächsischen Squatter im amerikanischen Urwald, mindestens einen Tage-
marsch bis zur Niederlassung des nächsten Volks oder Stammes hatten.


Der romanische und der germanische Grenzbegriff

den Hauptkamm der Zeutralalpen als Nordgrenze Italiens erkannte und fest¬
setzte, und daß bis in die späte Kaiserzeit hinein die Westalpen in drei Distrikte
zerfielen, die sich ebenso zu beiden Seiten des Gebirgs hillüberstreckten, wie in
spätern Jahrhunderten das Königreich Navarra hinabreichte nach Sndfrnnkrcich
und Hvcharagonien.

Diese römische Verwaltungspraxis aber lebt heute noch in gewissen Dingen
fort. Wie in den Gemarkungen der italienischen Städte die Flnrgrenzen der
alten oivitatöZ wiederkehren, so hat vor allem die katholische Kirche in ihrer
Provinzialeinteilung vielfach hartnäckig an den nltrömischen Prvviuzgrenzcn fest¬
gehalten. Noch jetzt fallen oft die Grenzen der Bistumssprengel mit den
kaiserlich römischen zusammen. So trennt noch heute der obengenannte Vinxt-
bach die Erzdiözesen Köln und Trier, wie einst Ober- und Niedergermanicn,
und einen besonders augenfälligen Beleg bietet der Zillerfluß in Tirol, der
ursprünglich Rätier von Noricum trennte und jetzt die Bistümer Brixen und
Salzburg voneinander abgrenzt. Dort wird man heute noch die alte Römer¬
grenze dadurch gewahr, daß westlich vom Ziller und seinem Quellbnch, der
Zaum, rote Kirchtürme über den Häusern emporragen, während östlich lauter
grün gedeckte Türme die Zugehörigkeit zum Salzburger Sprengel bezeugen.
Also römisches Wesen und Denken auf einem Boden, auf dem seit mehr als
einem Jahrtausend Deutsche sitzen, und mit der unbegreiflichen, mir den Römern
möglichen Zähigkeit an einer Stelle eingewurzelt, wo man deutsches Wesen und
Empfinden vor allem erwarten sollte.

Denn auch in seiner Empfindung von Grenze und Grenzabteiluug trennt
den Deutschen eine weite Kluft von dem Römer und Romanen. Weit entfernt
von der ängstlich auch das Geringe ausnützcudcn, systematischen Weise der
Römer war die Art unsrer Vorfahren, als sie mit jenen zusammenstießen. Auch
als sie, von der schnell wachsenden Bevölkerungszahl und der daraus folgenden
Laudnot getrieben, auszogen, um neue Sitze zu finden und den Überschuß der
Bolkskraft unterzubringen, kam ihnen nicht der Gedanke, sorglich zu erwägen,
ob das Land, das sie bewohnten, auch bis auf das letzte Fleckchen ausgenutzt
sei. Von jeher hatten sie daran festgehalten, daß sie keine bloße Linie, sei sie
auch noch so hoch oder tief gelegen, weder der Kamm eines himmelragenden
Gebirgs, noch die Rinne eines reißenden Flusses von ihren Nachbarn trennen
könne. Sie kannten nicht einmal ein Wort dafür. Denn der jetzt in diesem
Sinn gewöhnlich angewandte Ausdruck „Grenze" ist ein Lehnwort, das wir
erst im fünfzehnten Jahrhundert unsern slawischen Nachbarn entnommen haben.
Vielmehr war ihnen in hervorragender Weise der Begriff der Flächengreuze,
des Grenzsaums eigen, den sie „Mark," oder um mit Ludwig Jnhu zu reden,
„Hamme" nannten. Eine breite, sich womöglich mehrere Tagereisen erstreckende
Sumpf- oder Waldfläche wurde gewählt, um den eignen Sitz von dem des
Nachbarn abzutrennen. Nur dann fühlten sie sich Wohl, wenn sie, wie die
angelsächsischen Squatter im amerikanischen Urwald, mindestens einen Tage-
marsch bis zur Niederlassung des nächsten Volks oder Stammes hatten.


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[0028] Der romanische und der germanische Grenzbegriff den Hauptkamm der Zeutralalpen als Nordgrenze Italiens erkannte und fest¬ setzte, und daß bis in die späte Kaiserzeit hinein die Westalpen in drei Distrikte zerfielen, die sich ebenso zu beiden Seiten des Gebirgs hillüberstreckten, wie in spätern Jahrhunderten das Königreich Navarra hinabreichte nach Sndfrnnkrcich und Hvcharagonien. Diese römische Verwaltungspraxis aber lebt heute noch in gewissen Dingen fort. Wie in den Gemarkungen der italienischen Städte die Flnrgrenzen der alten oivitatöZ wiederkehren, so hat vor allem die katholische Kirche in ihrer Provinzialeinteilung vielfach hartnäckig an den nltrömischen Prvviuzgrenzcn fest¬ gehalten. Noch jetzt fallen oft die Grenzen der Bistumssprengel mit den kaiserlich römischen zusammen. So trennt noch heute der obengenannte Vinxt- bach die Erzdiözesen Köln und Trier, wie einst Ober- und Niedergermanicn, und einen besonders augenfälligen Beleg bietet der Zillerfluß in Tirol, der ursprünglich Rätier von Noricum trennte und jetzt die Bistümer Brixen und Salzburg voneinander abgrenzt. Dort wird man heute noch die alte Römer¬ grenze dadurch gewahr, daß westlich vom Ziller und seinem Quellbnch, der Zaum, rote Kirchtürme über den Häusern emporragen, während östlich lauter grün gedeckte Türme die Zugehörigkeit zum Salzburger Sprengel bezeugen. Also römisches Wesen und Denken auf einem Boden, auf dem seit mehr als einem Jahrtausend Deutsche sitzen, und mit der unbegreiflichen, mir den Römern möglichen Zähigkeit an einer Stelle eingewurzelt, wo man deutsches Wesen und Empfinden vor allem erwarten sollte. Denn auch in seiner Empfindung von Grenze und Grenzabteiluug trennt den Deutschen eine weite Kluft von dem Römer und Romanen. Weit entfernt von der ängstlich auch das Geringe ausnützcudcn, systematischen Weise der Römer war die Art unsrer Vorfahren, als sie mit jenen zusammenstießen. Auch als sie, von der schnell wachsenden Bevölkerungszahl und der daraus folgenden Laudnot getrieben, auszogen, um neue Sitze zu finden und den Überschuß der Bolkskraft unterzubringen, kam ihnen nicht der Gedanke, sorglich zu erwägen, ob das Land, das sie bewohnten, auch bis auf das letzte Fleckchen ausgenutzt sei. Von jeher hatten sie daran festgehalten, daß sie keine bloße Linie, sei sie auch noch so hoch oder tief gelegen, weder der Kamm eines himmelragenden Gebirgs, noch die Rinne eines reißenden Flusses von ihren Nachbarn trennen könne. Sie kannten nicht einmal ein Wort dafür. Denn der jetzt in diesem Sinn gewöhnlich angewandte Ausdruck „Grenze" ist ein Lehnwort, das wir erst im fünfzehnten Jahrhundert unsern slawischen Nachbarn entnommen haben. Vielmehr war ihnen in hervorragender Weise der Begriff der Flächengreuze, des Grenzsaums eigen, den sie „Mark," oder um mit Ludwig Jnhu zu reden, „Hamme" nannten. Eine breite, sich womöglich mehrere Tagereisen erstreckende Sumpf- oder Waldfläche wurde gewählt, um den eignen Sitz von dem des Nachbarn abzutrennen. Nur dann fühlten sie sich Wohl, wenn sie, wie die angelsächsischen Squatter im amerikanischen Urwald, mindestens einen Tage- marsch bis zur Niederlassung des nächsten Volks oder Stammes hatten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/28>, abgerufen am 30.06.2024.