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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Der romanische und der germanische Grenzbegriff

zu"! erstenmal ausführlich erläutert und dahin klar gemacht hat, das; es zwei
Arten der Grenze giebt, die eine als eine Linie im mathematischen Sinne,
also als etwas unfaßbares, betrachtet, und die andre als eine Fläche, die niemand
gehört und nur dazu dient, zweier Herren Länder zu scheiden. Jede dieser
beiden Auffnssuugen stellt nach Ratzel einen Völkerbegriff dar, d. h. sie herrscht
unbewußt im Vorstellungskreise eines ganzen Volkes, sodaß dieses allemal,
wenn es die Macht hat, seine Auffassung von der Grenze zur Geltung zu
bringen sucht. Das einzelne Individuum aber, sei es noch so mächtig oder
gedankengewaltig, vermag sich diesem Völkcrbegriff auf die Dauer nicht zu
entziehn.

Diese beiden Definitionen der Grenze haben, wie sich leicht erweisen läßt,
nicht nur für den heutigen Tag Geltung, sondern finden auf alle Völker zu
allen Zeiten ebenfalls ihre Anwendung, soweit unsre Kenntnis reicht. Von
den Griechen können wir in dieser Hinsicht freilich wenig lernen. "Grenze"
und "Ende" verschwammen ihnen in eins. Ihr auf ein Jnselmeer gerichteter
Blick zeigte ihnen das politische Ganze meist auch als ein geographisches.
Größere Festlandräume standen ihnen kaum im Mutterlande zur Verfügung.
Auch ihre Ansiedlungen in der Ferne, soweit sie über den Faktoreibetrieb
hinausgingen, zeigen dieselbe Eigenschaft. Die "Jntercssenspäre" war ihnen,
wenn schon das Wort dafür fehlte, als Begriff durchaus geläufig. Im all¬
gemeinen genügte ihnen, auch im Mutterlande, als Grenze das natürliche
Hindernis, wobei es zweifelhaft blieb, wessen Eigentum diese natürlichen Hinder¬
nisse waren. Im ganzen also scheint ihnen der Begriff der Flächengrenze oder
des Grenzsanins vorgeschwebt zu haben. Die wilden Bergriesen des Parnon
und der Khllene waren ebenso gut niemands Land, wie die Bergstöcke des
Tymphrestos lind des Oda. Es ist sicher kein bloßer Zufall, daß der Begriff
des Festlands (Nvsiros) zu allen Zeiten von der naiven griechischen Volks¬
etymologie als etwas erklärt worden ist, was keine "Enden" oder "Grenzen"
hat. Nur die Tyrannen, wie Getön, und späterhin einzelne politische Köpfe
strebten über den Begriff des "Endes" einerseits und den der Flächengrenze
andrerseits hinweg und suchten feste Linien zu gewinnen. Das Volk aber
blieb bei seinen unbestimmten Anschauungen von Grenze und Grenzabteilung
stehn und ließ nur den Meeressaum als Grenzlinie gelten. Es ist ein Beweis
von der unzerstörbaren Kraft solcher Völteranschaunngen, daß auch uoch der
moderne Grieche genau so empfindet, wie einst seine Ahnen zur Zeit des
Perikles. Noch hente bleibt ihm die Befreiung Griechenlands das höchste und
herrlichste Ziel. Aber auf die Frage, was ihm denu eigentlich noch gebühre,
wie weit das "geknechtete Griechenland" noch reiche, wird er uns in der Regel
eine Antwort geben, die uns zeigt, daß ihm nicht ein bestimmtes geographisches
Bild, sondern nur eine ziemlich unbestimmte "Interessensphäre" vorschwebt.

Wie ganz anders die Römer! Weit langsamer entwickelte sich der latei¬
nische Bauernstaat am Tiber als die griechischen Gebilde, aber weit stetiger
war sein Fortschritt. Erst im Kampfe mit den stammverwandten Nachbarn,


Der romanische und der germanische Grenzbegriff

zu»! erstenmal ausführlich erläutert und dahin klar gemacht hat, das; es zwei
Arten der Grenze giebt, die eine als eine Linie im mathematischen Sinne,
also als etwas unfaßbares, betrachtet, und die andre als eine Fläche, die niemand
gehört und nur dazu dient, zweier Herren Länder zu scheiden. Jede dieser
beiden Auffnssuugen stellt nach Ratzel einen Völkerbegriff dar, d. h. sie herrscht
unbewußt im Vorstellungskreise eines ganzen Volkes, sodaß dieses allemal,
wenn es die Macht hat, seine Auffassung von der Grenze zur Geltung zu
bringen sucht. Das einzelne Individuum aber, sei es noch so mächtig oder
gedankengewaltig, vermag sich diesem Völkcrbegriff auf die Dauer nicht zu
entziehn.

Diese beiden Definitionen der Grenze haben, wie sich leicht erweisen läßt,
nicht nur für den heutigen Tag Geltung, sondern finden auf alle Völker zu
allen Zeiten ebenfalls ihre Anwendung, soweit unsre Kenntnis reicht. Von
den Griechen können wir in dieser Hinsicht freilich wenig lernen. „Grenze"
und „Ende" verschwammen ihnen in eins. Ihr auf ein Jnselmeer gerichteter
Blick zeigte ihnen das politische Ganze meist auch als ein geographisches.
Größere Festlandräume standen ihnen kaum im Mutterlande zur Verfügung.
Auch ihre Ansiedlungen in der Ferne, soweit sie über den Faktoreibetrieb
hinausgingen, zeigen dieselbe Eigenschaft. Die „Jntercssenspäre" war ihnen,
wenn schon das Wort dafür fehlte, als Begriff durchaus geläufig. Im all¬
gemeinen genügte ihnen, auch im Mutterlande, als Grenze das natürliche
Hindernis, wobei es zweifelhaft blieb, wessen Eigentum diese natürlichen Hinder¬
nisse waren. Im ganzen also scheint ihnen der Begriff der Flächengrenze oder
des Grenzsanins vorgeschwebt zu haben. Die wilden Bergriesen des Parnon
und der Khllene waren ebenso gut niemands Land, wie die Bergstöcke des
Tymphrestos lind des Oda. Es ist sicher kein bloßer Zufall, daß der Begriff
des Festlands (Nvsiros) zu allen Zeiten von der naiven griechischen Volks¬
etymologie als etwas erklärt worden ist, was keine „Enden" oder „Grenzen"
hat. Nur die Tyrannen, wie Getön, und späterhin einzelne politische Köpfe
strebten über den Begriff des „Endes" einerseits und den der Flächengrenze
andrerseits hinweg und suchten feste Linien zu gewinnen. Das Volk aber
blieb bei seinen unbestimmten Anschauungen von Grenze und Grenzabteilung
stehn und ließ nur den Meeressaum als Grenzlinie gelten. Es ist ein Beweis
von der unzerstörbaren Kraft solcher Völteranschaunngen, daß auch uoch der
moderne Grieche genau so empfindet, wie einst seine Ahnen zur Zeit des
Perikles. Noch hente bleibt ihm die Befreiung Griechenlands das höchste und
herrlichste Ziel. Aber auf die Frage, was ihm denu eigentlich noch gebühre,
wie weit das „geknechtete Griechenland" noch reiche, wird er uns in der Regel
eine Antwort geben, die uns zeigt, daß ihm nicht ein bestimmtes geographisches
Bild, sondern nur eine ziemlich unbestimmte „Interessensphäre" vorschwebt.

Wie ganz anders die Römer! Weit langsamer entwickelte sich der latei¬
nische Bauernstaat am Tiber als die griechischen Gebilde, aber weit stetiger
war sein Fortschritt. Erst im Kampfe mit den stammverwandten Nachbarn,


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[0026] Der romanische und der germanische Grenzbegriff zu»! erstenmal ausführlich erläutert und dahin klar gemacht hat, das; es zwei Arten der Grenze giebt, die eine als eine Linie im mathematischen Sinne, also als etwas unfaßbares, betrachtet, und die andre als eine Fläche, die niemand gehört und nur dazu dient, zweier Herren Länder zu scheiden. Jede dieser beiden Auffnssuugen stellt nach Ratzel einen Völkerbegriff dar, d. h. sie herrscht unbewußt im Vorstellungskreise eines ganzen Volkes, sodaß dieses allemal, wenn es die Macht hat, seine Auffassung von der Grenze zur Geltung zu bringen sucht. Das einzelne Individuum aber, sei es noch so mächtig oder gedankengewaltig, vermag sich diesem Völkcrbegriff auf die Dauer nicht zu entziehn. Diese beiden Definitionen der Grenze haben, wie sich leicht erweisen läßt, nicht nur für den heutigen Tag Geltung, sondern finden auf alle Völker zu allen Zeiten ebenfalls ihre Anwendung, soweit unsre Kenntnis reicht. Von den Griechen können wir in dieser Hinsicht freilich wenig lernen. „Grenze" und „Ende" verschwammen ihnen in eins. Ihr auf ein Jnselmeer gerichteter Blick zeigte ihnen das politische Ganze meist auch als ein geographisches. Größere Festlandräume standen ihnen kaum im Mutterlande zur Verfügung. Auch ihre Ansiedlungen in der Ferne, soweit sie über den Faktoreibetrieb hinausgingen, zeigen dieselbe Eigenschaft. Die „Jntercssenspäre" war ihnen, wenn schon das Wort dafür fehlte, als Begriff durchaus geläufig. Im all¬ gemeinen genügte ihnen, auch im Mutterlande, als Grenze das natürliche Hindernis, wobei es zweifelhaft blieb, wessen Eigentum diese natürlichen Hinder¬ nisse waren. Im ganzen also scheint ihnen der Begriff der Flächengrenze oder des Grenzsanins vorgeschwebt zu haben. Die wilden Bergriesen des Parnon und der Khllene waren ebenso gut niemands Land, wie die Bergstöcke des Tymphrestos lind des Oda. Es ist sicher kein bloßer Zufall, daß der Begriff des Festlands (Nvsiros) zu allen Zeiten von der naiven griechischen Volks¬ etymologie als etwas erklärt worden ist, was keine „Enden" oder „Grenzen" hat. Nur die Tyrannen, wie Getön, und späterhin einzelne politische Köpfe strebten über den Begriff des „Endes" einerseits und den der Flächengrenze andrerseits hinweg und suchten feste Linien zu gewinnen. Das Volk aber blieb bei seinen unbestimmten Anschauungen von Grenze und Grenzabteilung stehn und ließ nur den Meeressaum als Grenzlinie gelten. Es ist ein Beweis von der unzerstörbaren Kraft solcher Völteranschaunngen, daß auch uoch der moderne Grieche genau so empfindet, wie einst seine Ahnen zur Zeit des Perikles. Noch hente bleibt ihm die Befreiung Griechenlands das höchste und herrlichste Ziel. Aber auf die Frage, was ihm denu eigentlich noch gebühre, wie weit das „geknechtete Griechenland" noch reiche, wird er uns in der Regel eine Antwort geben, die uns zeigt, daß ihm nicht ein bestimmtes geographisches Bild, sondern nur eine ziemlich unbestimmte „Interessensphäre" vorschwebt. Wie ganz anders die Römer! Weit langsamer entwickelte sich der latei¬ nische Bauernstaat am Tiber als die griechischen Gebilde, aber weit stetiger war sein Fortschritt. Erst im Kampfe mit den stammverwandten Nachbarn,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/26>, abgerufen am 30.06.2024.