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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Der romanische und der germanische Grcnzbcgriss

zu Ehren, und überall da. wo man früher mühselig kleines Material sichtete,
streben die Arbeitenden, die leitenden Gedanken und großen Zusammenhange
zu erfassen. Wäre es nun so, daß sich nur ein Kreislauf zwischen spekulativer
und naturwissenschaftlicher Betrachtungsweise vollzöge, so Ware ja in gewissem
Sinne die Arbeit unsers Jahrhunderts umsonst gewesen. Allein darm besteht
der ungeheure Fortschritt, deu der Mensch an der Neige des neunzehnten Jahr¬
hunderts gemacht hat, daß er sich beim Zurückstreben zum Ganzen auf unver¬
gleichlich bessere Grundlagen stützt als hundert Jahre vorher, daß er gelernt
hat, diese Grundlagen zu bauen und zu verwerten, und daß die neuen speku¬
lativen Schlüsse eine viel größere Berechtigung in sich tragen, weil sie sich auf
die unübersehbare Einzelarbeit und Einzelbeobachtung stützen, die ihnen die
mittlern Jahrzehnte unsers Jahrhunderts geliefert haben.

Keinem, der die Entwicklung einer Wissenschaft, vor allem einer Gerstes-
wissenschaft, aufmerksam verfolgt hat. wird diese Erkenntnis verborgen ge¬
blieben sein. Auf keinem Gebiete aber tritt dieses Streben zum Ganzen gegen¬
über der ungeheuern Masse der Einzelheiten so deutlich hervor, als auf dem
der politischen Erdkunde. Wer geographische Handbücher aus den vierziger
bis sechziger Jahren und solche aus den neunziger Jahren unsers Jahrhunderts
in die Hand nimmt, der wird den großen Umschwung der Denkweise leicht er¬
kennen. Dort finden wir eine überwältigende Masse statistischen und be¬
schreibenden Materials, hier ist das Wichtige die Sichtung und Gruppierung
uach leitenden Ideen. Dort finden wir als "politische Geographie" z. B. die
Darstellung Sachsens nach seinen Kreishnuptmannschasten mit den wichtigsten
Städten, deren Einwohnerzahlen. Hauptgewerben und besonders merkwürdigen
Einzelheiten. Das neuste Werk aber, das den Titel "Politische Geographie"
trügt, ist ein ganz andres Gewebe. Es setzt die Kenntnis wenigstens einer
großen Meuge dieser Einzelheiten voraus, sucht aber bei zusammenfasfender Be¬
trachtung die Idee herauszuschüleu, die zur Bildung des politischen Ganzen, also
der Staaten führen mußte, sie im einzelnen zu entwickeln und ihre Richtig¬
keit nachzuweisen. Und es ist, wie es uns wenigstens dünkt, mindestens ebenso
wichtig zu wisse", wie unser neues Deutsches Reich gerade zu diesem Karteu¬
bild gekommen ist, und daß trotz aller durch die Diplomatie vorgenommnen
Korrekturen gewisse Linien seit Jahrhunderten immer wiederkehren, wie daß uns
die Meterzahlen einer Auzahl Hochgipfel und die Einwohnermengen der großen
Städte geläufig sind.

Will man diesem Zuge der modernen Erdkunde folgen, das Bild eines
Staats wirklich versteh" lernen und sich dessen Entstehungsgeschichte deutlich
'"acheu. so muß zunächst der Begriff der politischen Grenze deutlich gemacht
werden; man muß wissen, wie die Grenze entsteht, und wie sich dieser Begriffder Grenzen und ihrer Vorbedingungen im Bewußtsein der einzelnen Völker
geformt und umgestaltet hat.

Es ist das Verdienst Friedrich Ratzels. daß er, hierin Karl Ritters
Spuren folgend, in seiner "Politischen Geographie" diesen Begriff der "Grenze"
Gre


nzboten > 1900 3
Der romanische und der germanische Grcnzbcgriss

zu Ehren, und überall da. wo man früher mühselig kleines Material sichtete,
streben die Arbeitenden, die leitenden Gedanken und großen Zusammenhange
zu erfassen. Wäre es nun so, daß sich nur ein Kreislauf zwischen spekulativer
und naturwissenschaftlicher Betrachtungsweise vollzöge, so Ware ja in gewissem
Sinne die Arbeit unsers Jahrhunderts umsonst gewesen. Allein darm besteht
der ungeheure Fortschritt, deu der Mensch an der Neige des neunzehnten Jahr¬
hunderts gemacht hat, daß er sich beim Zurückstreben zum Ganzen auf unver¬
gleichlich bessere Grundlagen stützt als hundert Jahre vorher, daß er gelernt
hat, diese Grundlagen zu bauen und zu verwerten, und daß die neuen speku¬
lativen Schlüsse eine viel größere Berechtigung in sich tragen, weil sie sich auf
die unübersehbare Einzelarbeit und Einzelbeobachtung stützen, die ihnen die
mittlern Jahrzehnte unsers Jahrhunderts geliefert haben.

Keinem, der die Entwicklung einer Wissenschaft, vor allem einer Gerstes-
wissenschaft, aufmerksam verfolgt hat. wird diese Erkenntnis verborgen ge¬
blieben sein. Auf keinem Gebiete aber tritt dieses Streben zum Ganzen gegen¬
über der ungeheuern Masse der Einzelheiten so deutlich hervor, als auf dem
der politischen Erdkunde. Wer geographische Handbücher aus den vierziger
bis sechziger Jahren und solche aus den neunziger Jahren unsers Jahrhunderts
in die Hand nimmt, der wird den großen Umschwung der Denkweise leicht er¬
kennen. Dort finden wir eine überwältigende Masse statistischen und be¬
schreibenden Materials, hier ist das Wichtige die Sichtung und Gruppierung
uach leitenden Ideen. Dort finden wir als „politische Geographie" z. B. die
Darstellung Sachsens nach seinen Kreishnuptmannschasten mit den wichtigsten
Städten, deren Einwohnerzahlen. Hauptgewerben und besonders merkwürdigen
Einzelheiten. Das neuste Werk aber, das den Titel „Politische Geographie"
trügt, ist ein ganz andres Gewebe. Es setzt die Kenntnis wenigstens einer
großen Meuge dieser Einzelheiten voraus, sucht aber bei zusammenfasfender Be¬
trachtung die Idee herauszuschüleu, die zur Bildung des politischen Ganzen, also
der Staaten führen mußte, sie im einzelnen zu entwickeln und ihre Richtig¬
keit nachzuweisen. Und es ist, wie es uns wenigstens dünkt, mindestens ebenso
wichtig zu wisse», wie unser neues Deutsches Reich gerade zu diesem Karteu¬
bild gekommen ist, und daß trotz aller durch die Diplomatie vorgenommnen
Korrekturen gewisse Linien seit Jahrhunderten immer wiederkehren, wie daß uns
die Meterzahlen einer Auzahl Hochgipfel und die Einwohnermengen der großen
Städte geläufig sind.

Will man diesem Zuge der modernen Erdkunde folgen, das Bild eines
Staats wirklich versteh« lernen und sich dessen Entstehungsgeschichte deutlich
'"acheu. so muß zunächst der Begriff der politischen Grenze deutlich gemacht
werden; man muß wissen, wie die Grenze entsteht, und wie sich dieser Begriffder Grenzen und ihrer Vorbedingungen im Bewußtsein der einzelnen Völker
geformt und umgestaltet hat.

Es ist das Verdienst Friedrich Ratzels. daß er, hierin Karl Ritters
Spuren folgend, in seiner „Politischen Geographie" diesen Begriff der „Grenze"
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[0025] Der romanische und der germanische Grcnzbcgriss zu Ehren, und überall da. wo man früher mühselig kleines Material sichtete, streben die Arbeitenden, die leitenden Gedanken und großen Zusammenhange zu erfassen. Wäre es nun so, daß sich nur ein Kreislauf zwischen spekulativer und naturwissenschaftlicher Betrachtungsweise vollzöge, so Ware ja in gewissem Sinne die Arbeit unsers Jahrhunderts umsonst gewesen. Allein darm besteht der ungeheure Fortschritt, deu der Mensch an der Neige des neunzehnten Jahr¬ hunderts gemacht hat, daß er sich beim Zurückstreben zum Ganzen auf unver¬ gleichlich bessere Grundlagen stützt als hundert Jahre vorher, daß er gelernt hat, diese Grundlagen zu bauen und zu verwerten, und daß die neuen speku¬ lativen Schlüsse eine viel größere Berechtigung in sich tragen, weil sie sich auf die unübersehbare Einzelarbeit und Einzelbeobachtung stützen, die ihnen die mittlern Jahrzehnte unsers Jahrhunderts geliefert haben. Keinem, der die Entwicklung einer Wissenschaft, vor allem einer Gerstes- wissenschaft, aufmerksam verfolgt hat. wird diese Erkenntnis verborgen ge¬ blieben sein. Auf keinem Gebiete aber tritt dieses Streben zum Ganzen gegen¬ über der ungeheuern Masse der Einzelheiten so deutlich hervor, als auf dem der politischen Erdkunde. Wer geographische Handbücher aus den vierziger bis sechziger Jahren und solche aus den neunziger Jahren unsers Jahrhunderts in die Hand nimmt, der wird den großen Umschwung der Denkweise leicht er¬ kennen. Dort finden wir eine überwältigende Masse statistischen und be¬ schreibenden Materials, hier ist das Wichtige die Sichtung und Gruppierung uach leitenden Ideen. Dort finden wir als „politische Geographie" z. B. die Darstellung Sachsens nach seinen Kreishnuptmannschasten mit den wichtigsten Städten, deren Einwohnerzahlen. Hauptgewerben und besonders merkwürdigen Einzelheiten. Das neuste Werk aber, das den Titel „Politische Geographie" trügt, ist ein ganz andres Gewebe. Es setzt die Kenntnis wenigstens einer großen Meuge dieser Einzelheiten voraus, sucht aber bei zusammenfasfender Be¬ trachtung die Idee herauszuschüleu, die zur Bildung des politischen Ganzen, also der Staaten führen mußte, sie im einzelnen zu entwickeln und ihre Richtig¬ keit nachzuweisen. Und es ist, wie es uns wenigstens dünkt, mindestens ebenso wichtig zu wisse», wie unser neues Deutsches Reich gerade zu diesem Karteu¬ bild gekommen ist, und daß trotz aller durch die Diplomatie vorgenommnen Korrekturen gewisse Linien seit Jahrhunderten immer wiederkehren, wie daß uns die Meterzahlen einer Auzahl Hochgipfel und die Einwohnermengen der großen Städte geläufig sind. Will man diesem Zuge der modernen Erdkunde folgen, das Bild eines Staats wirklich versteh« lernen und sich dessen Entstehungsgeschichte deutlich '"acheu. so muß zunächst der Begriff der politischen Grenze deutlich gemacht werden; man muß wissen, wie die Grenze entsteht, und wie sich dieser Begriffder Grenzen und ihrer Vorbedingungen im Bewußtsein der einzelnen Völker geformt und umgestaltet hat. Es ist das Verdienst Friedrich Ratzels. daß er, hierin Karl Ritters Spuren folgend, in seiner „Politischen Geographie" diesen Begriff der „Grenze" Gre nzboten > 1900 3

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/25>, abgerufen am 30.06.2024.