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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Der romanische und der germanische Grenzbegriff

preußischen Grenzbehörde" nicht wieder in die deutschen Grenzen zurückgenommen.
Diesen Leuten nun müssen Wider Willen Aufenthaltsscheine verabfolgt werden,
und nun, muß ihrer Ausnahme in die russische Unterthauschaft nach Verlauf
von fünf Jahren nach der Verabfolgung zustimmen. Ihre Zahl aber ist sehr
bedeutend, da der in die russischen Grenzguberuien übergesiedelte Deutsche auf
alle Weise bemüht ist, seine Uuterthauschnft zu verlieren, wobei er nicht selten
bei deu deutscheu Konsulaten Hilfe findet, die gern bezeugen, daß die betreffende
Person wirklich ihre nationalen Rechte verloren habe."

(Schluß folgt)




Der romanische und der germanische Grenzbegriff

l
e Wertschätzung der einzelnen Wissenschaften hat in unserm
Jahrhundert manche Wandlungen durchgemacht. Nach dem Be¬
freiungskriege bewegte man sich mit Vorliebe auf dem Gebiete
des spekulativen, nud die Gedanken der fähigsten Köpfe der
deutschen Nation konnten gar nicht philosophisch und umfassend
genug sein. Bald aber machte sich neben dieser philosophischen Richtung des
Denkens eine neue, gewöhnlich "nnturlvisseuschaftlich" genannte Betrachtungs¬
weise geltend, die gerade das Gegenteil der vorhergehenden darstellte, die
"treu im Kleinen" auf ihre Fahnen geschrieben hatte und im peinlichen Er¬
forschen selbst der unbedeutendsten Einzelheit volles Genügen und innere Be¬
friedigung empfand. Jahrzehntelang hat sie geherrscht, indem sie alle Wissens¬
gebiete umspannte und in ihre Kreise zog. Die meisten von uns sind nach
dieser Weise erzogen worden und haben deu Segen dieser selbst das Geringste
nicht gering achtenden Form der Geistes- und Verstandesbildung an sich er¬
fahren. Doch es ist das Los des menschlichen Geschlechts, daß alles um sich
gute, was der Menschengeist erzeugt oder als Richtlinie für seine geistige Arbeit
nimmt, zum Übel führt, sobald es einseitig betrieben und allein in den
Vordergrund geschoben wird. So geriet denn auch diese wissenschaftliche Be¬
trachtungsweise, die Einzelheit vor allem erforschen zu wollen, in die Gefahr,
über ihrer Gewissenhaftigkeit ganz zu vergessen, weshalb sie denn eigentlich
alles so gewissenhaft betreibe, und die großen Ziele ans dem Auge zu ver¬
liere", um derentwillen alle geistige Arbeit gethan wird. Aus dieser Erkenntnis
heraus regt sich deshalb auf alleu Wissensgebieten und in allen Wissenschaften
-- bald leichter erkennbar, bald minder vernehmlich -- der Ruf: Nun sieh
auch aufs Ganze! Überall kommen in der wissenschaftlichen Betrachtungsweise
die spekulativen Gedanke" der zwanziger Jahre unsers Jahrhunderts wieder


Der romanische und der germanische Grenzbegriff

preußischen Grenzbehörde» nicht wieder in die deutschen Grenzen zurückgenommen.
Diesen Leuten nun müssen Wider Willen Aufenthaltsscheine verabfolgt werden,
und nun, muß ihrer Ausnahme in die russische Unterthauschaft nach Verlauf
von fünf Jahren nach der Verabfolgung zustimmen. Ihre Zahl aber ist sehr
bedeutend, da der in die russischen Grenzguberuien übergesiedelte Deutsche auf
alle Weise bemüht ist, seine Uuterthauschnft zu verlieren, wobei er nicht selten
bei deu deutscheu Konsulaten Hilfe findet, die gern bezeugen, daß die betreffende
Person wirklich ihre nationalen Rechte verloren habe."

(Schluß folgt)




Der romanische und der germanische Grenzbegriff

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e Wertschätzung der einzelnen Wissenschaften hat in unserm
Jahrhundert manche Wandlungen durchgemacht. Nach dem Be¬
freiungskriege bewegte man sich mit Vorliebe auf dem Gebiete
des spekulativen, nud die Gedanken der fähigsten Köpfe der
deutschen Nation konnten gar nicht philosophisch und umfassend
genug sein. Bald aber machte sich neben dieser philosophischen Richtung des
Denkens eine neue, gewöhnlich „nnturlvisseuschaftlich" genannte Betrachtungs¬
weise geltend, die gerade das Gegenteil der vorhergehenden darstellte, die
„treu im Kleinen" auf ihre Fahnen geschrieben hatte und im peinlichen Er¬
forschen selbst der unbedeutendsten Einzelheit volles Genügen und innere Be¬
friedigung empfand. Jahrzehntelang hat sie geherrscht, indem sie alle Wissens¬
gebiete umspannte und in ihre Kreise zog. Die meisten von uns sind nach
dieser Weise erzogen worden und haben deu Segen dieser selbst das Geringste
nicht gering achtenden Form der Geistes- und Verstandesbildung an sich er¬
fahren. Doch es ist das Los des menschlichen Geschlechts, daß alles um sich
gute, was der Menschengeist erzeugt oder als Richtlinie für seine geistige Arbeit
nimmt, zum Übel führt, sobald es einseitig betrieben und allein in den
Vordergrund geschoben wird. So geriet denn auch diese wissenschaftliche Be¬
trachtungsweise, die Einzelheit vor allem erforschen zu wollen, in die Gefahr,
über ihrer Gewissenhaftigkeit ganz zu vergessen, weshalb sie denn eigentlich
alles so gewissenhaft betreibe, und die großen Ziele ans dem Auge zu ver¬
liere», um derentwillen alle geistige Arbeit gethan wird. Aus dieser Erkenntnis
heraus regt sich deshalb auf alleu Wissensgebieten und in allen Wissenschaften
— bald leichter erkennbar, bald minder vernehmlich — der Ruf: Nun sieh
auch aufs Ganze! Überall kommen in der wissenschaftlichen Betrachtungsweise
die spekulativen Gedanke» der zwanziger Jahre unsers Jahrhunderts wieder


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[0024] Der romanische und der germanische Grenzbegriff preußischen Grenzbehörde» nicht wieder in die deutschen Grenzen zurückgenommen. Diesen Leuten nun müssen Wider Willen Aufenthaltsscheine verabfolgt werden, und nun, muß ihrer Ausnahme in die russische Unterthauschaft nach Verlauf von fünf Jahren nach der Verabfolgung zustimmen. Ihre Zahl aber ist sehr bedeutend, da der in die russischen Grenzguberuien übergesiedelte Deutsche auf alle Weise bemüht ist, seine Uuterthauschnft zu verlieren, wobei er nicht selten bei deu deutscheu Konsulaten Hilfe findet, die gern bezeugen, daß die betreffende Person wirklich ihre nationalen Rechte verloren habe." (Schluß folgt) Der romanische und der germanische Grenzbegriff l e Wertschätzung der einzelnen Wissenschaften hat in unserm Jahrhundert manche Wandlungen durchgemacht. Nach dem Be¬ freiungskriege bewegte man sich mit Vorliebe auf dem Gebiete des spekulativen, nud die Gedanken der fähigsten Köpfe der deutschen Nation konnten gar nicht philosophisch und umfassend genug sein. Bald aber machte sich neben dieser philosophischen Richtung des Denkens eine neue, gewöhnlich „nnturlvisseuschaftlich" genannte Betrachtungs¬ weise geltend, die gerade das Gegenteil der vorhergehenden darstellte, die „treu im Kleinen" auf ihre Fahnen geschrieben hatte und im peinlichen Er¬ forschen selbst der unbedeutendsten Einzelheit volles Genügen und innere Be¬ friedigung empfand. Jahrzehntelang hat sie geherrscht, indem sie alle Wissens¬ gebiete umspannte und in ihre Kreise zog. Die meisten von uns sind nach dieser Weise erzogen worden und haben deu Segen dieser selbst das Geringste nicht gering achtenden Form der Geistes- und Verstandesbildung an sich er¬ fahren. Doch es ist das Los des menschlichen Geschlechts, daß alles um sich gute, was der Menschengeist erzeugt oder als Richtlinie für seine geistige Arbeit nimmt, zum Übel führt, sobald es einseitig betrieben und allein in den Vordergrund geschoben wird. So geriet denn auch diese wissenschaftliche Be¬ trachtungsweise, die Einzelheit vor allem erforschen zu wollen, in die Gefahr, über ihrer Gewissenhaftigkeit ganz zu vergessen, weshalb sie denn eigentlich alles so gewissenhaft betreibe, und die großen Ziele ans dem Auge zu ver¬ liere», um derentwillen alle geistige Arbeit gethan wird. Aus dieser Erkenntnis heraus regt sich deshalb auf alleu Wissensgebieten und in allen Wissenschaften — bald leichter erkennbar, bald minder vernehmlich — der Ruf: Nun sieh auch aufs Ganze! Überall kommen in der wissenschaftlichen Betrachtungsweise die spekulativen Gedanke» der zwanziger Jahre unsers Jahrhunderts wieder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/24>, abgerufen am 30.06.2024.