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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Böhmische Wirren

Nicht zufrieden mit diesem für das Selbstgefühl des Volksstamms wie
des Einzelnen so schmeichelhaften historischen Rückblick strebte man nach einer
Wiederherstellung der entschwundnen Herrlichkeit und wünschte deren äußeres
Abzeichen, die Wenzelskrone, als selbständiges Diadem auf dem Haupte des
un Se. Veitsdom gekrönten böhmischen Königs zu sehen. Daß man den Ab¬
stand zwischen heute und damals schmerzlich empfand, verbitterte die Gefühle

tschechischen Patrioten für eine Dynastie, die es mit den verbrieften Rechten
des Kronlands nie genau genommen hatte, und machte sie blind und unem¬
pfänglich auch für die Vorteile, die unter günstigen Umständen ein kleinerer
Staat aus seiner Zugehörigkeit zu einem größern und mächtigern Staaten¬
komplex ziehn kann.

Führer, die für die Idee der Wiederherstellung der böhmischen Krone in
ehren frühern Glanz begeistert waren und unter dem Einfluß berechneter aus¬
ländischer Propaganda standen, ließen nichts ungeschehn, was geeignet war, in
dem Herzen des Volks die Anhänglichkeit um das Vergangne ans .Kosten der
Zufriedenheit mit der Gegenwart zu nähren, und erwarteten mit Ungeduld
den Zeitpunkt, der ihnen erlauben würde, sich die Verlegenheiten der kaiser¬
lichen Regierung in Wien zur Verwirklichung ihrer weitausschauenden Pläne
ur Prag zu nutze zu machen.

Soweit es sich dabei lediglich um platonische Gefühle und ideale Wünsche
handelte, hätte man daran noch keinen Anstoß zu nehmen brauchen, und die
österreichische Regierung hatte auch der begreiflichen Anhänglichkeit der Tschechen
an alles, was sie an die glorreiche Vergangenheit des böhmischen Reichs er¬
innerte, meist in wohlwollender und rücksichtsvoller Weise Rechnung getragen.
Auch in dieser Beziehung ist das frühe Ende des Kronprinzen Rudolf,
von dessen lebhaftem Anteil an allem, was Prag und Böhmen anging, die
Tschechen die Verwirklichung ihrer sehnlichsten Wünsche erhoffen zu dürfen
glaubten, und der dem Kaiserhause einen großen Teil der durch Veruachlässi-
aung und Gleichgiltigkeit eiugcbüßteu Shmpathieu wiederzugeführt hatte, für
die Dynastie ein empfindlicher Verlust gewesen.

Bei diesen rein platonischen Anfwnllnngeu eines partikularistischen Patrio¬
tismus war es indes, wie sich voraussehen ließ, nicht geblieben. Die in allen
Staaten von Zeit zu Zeit bald bei der einen, bald bei der andern Volksklasse
zu Tage tretende Unzufriedenheit mit der Regierungsform oder der Handlungs¬
weise der Regierung hatte in Böhmen mehr und mehr den Charakter grund¬
sätzlicher tschechischer Opposition gegen jede Behandlung Böhmens als eines
Kronlands, sowie gegen spezifisch deutsche Vorherrschaft oder Bevormundung
angenommen. Mit dieser Auflehnung gegen Wien ging eine an Heftigkeit
zunehmende Bewegung gegen deutsche Gesittung und deutsches Wesen Hand
M Hand.

Die Presse und heißblutige oder kaltberechnende Demagogen hatten, wie
es in solchen Fällen üblich ist, die Sache in die Hand genommen, und es war
ihnen nicht schwer geworden, in der leicht erregbaren Masse des tschechischen


Böhmische Wirren

Nicht zufrieden mit diesem für das Selbstgefühl des Volksstamms wie
des Einzelnen so schmeichelhaften historischen Rückblick strebte man nach einer
Wiederherstellung der entschwundnen Herrlichkeit und wünschte deren äußeres
Abzeichen, die Wenzelskrone, als selbständiges Diadem auf dem Haupte des
un Se. Veitsdom gekrönten böhmischen Königs zu sehen. Daß man den Ab¬
stand zwischen heute und damals schmerzlich empfand, verbitterte die Gefühle

tschechischen Patrioten für eine Dynastie, die es mit den verbrieften Rechten
des Kronlands nie genau genommen hatte, und machte sie blind und unem¬
pfänglich auch für die Vorteile, die unter günstigen Umständen ein kleinerer
Staat aus seiner Zugehörigkeit zu einem größern und mächtigern Staaten¬
komplex ziehn kann.

Führer, die für die Idee der Wiederherstellung der böhmischen Krone in
ehren frühern Glanz begeistert waren und unter dem Einfluß berechneter aus¬
ländischer Propaganda standen, ließen nichts ungeschehn, was geeignet war, in
dem Herzen des Volks die Anhänglichkeit um das Vergangne ans .Kosten der
Zufriedenheit mit der Gegenwart zu nähren, und erwarteten mit Ungeduld
den Zeitpunkt, der ihnen erlauben würde, sich die Verlegenheiten der kaiser¬
lichen Regierung in Wien zur Verwirklichung ihrer weitausschauenden Pläne
ur Prag zu nutze zu machen.

Soweit es sich dabei lediglich um platonische Gefühle und ideale Wünsche
handelte, hätte man daran noch keinen Anstoß zu nehmen brauchen, und die
österreichische Regierung hatte auch der begreiflichen Anhänglichkeit der Tschechen
an alles, was sie an die glorreiche Vergangenheit des böhmischen Reichs er¬
innerte, meist in wohlwollender und rücksichtsvoller Weise Rechnung getragen.
Auch in dieser Beziehung ist das frühe Ende des Kronprinzen Rudolf,
von dessen lebhaftem Anteil an allem, was Prag und Böhmen anging, die
Tschechen die Verwirklichung ihrer sehnlichsten Wünsche erhoffen zu dürfen
glaubten, und der dem Kaiserhause einen großen Teil der durch Veruachlässi-
aung und Gleichgiltigkeit eiugcbüßteu Shmpathieu wiederzugeführt hatte, für
die Dynastie ein empfindlicher Verlust gewesen.

Bei diesen rein platonischen Anfwnllnngeu eines partikularistischen Patrio¬
tismus war es indes, wie sich voraussehen ließ, nicht geblieben. Die in allen
Staaten von Zeit zu Zeit bald bei der einen, bald bei der andern Volksklasse
zu Tage tretende Unzufriedenheit mit der Regierungsform oder der Handlungs¬
weise der Regierung hatte in Böhmen mehr und mehr den Charakter grund¬
sätzlicher tschechischer Opposition gegen jede Behandlung Böhmens als eines
Kronlands, sowie gegen spezifisch deutsche Vorherrschaft oder Bevormundung
angenommen. Mit dieser Auflehnung gegen Wien ging eine an Heftigkeit
zunehmende Bewegung gegen deutsche Gesittung und deutsches Wesen Hand
M Hand.

Die Presse und heißblutige oder kaltberechnende Demagogen hatten, wie
es in solchen Fällen üblich ist, die Sache in die Hand genommen, und es war
ihnen nicht schwer geworden, in der leicht erregbaren Masse des tschechischen


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[0221] Böhmische Wirren Nicht zufrieden mit diesem für das Selbstgefühl des Volksstamms wie des Einzelnen so schmeichelhaften historischen Rückblick strebte man nach einer Wiederherstellung der entschwundnen Herrlichkeit und wünschte deren äußeres Abzeichen, die Wenzelskrone, als selbständiges Diadem auf dem Haupte des un Se. Veitsdom gekrönten böhmischen Königs zu sehen. Daß man den Ab¬ stand zwischen heute und damals schmerzlich empfand, verbitterte die Gefühle tschechischen Patrioten für eine Dynastie, die es mit den verbrieften Rechten des Kronlands nie genau genommen hatte, und machte sie blind und unem¬ pfänglich auch für die Vorteile, die unter günstigen Umständen ein kleinerer Staat aus seiner Zugehörigkeit zu einem größern und mächtigern Staaten¬ komplex ziehn kann. Führer, die für die Idee der Wiederherstellung der böhmischen Krone in ehren frühern Glanz begeistert waren und unter dem Einfluß berechneter aus¬ ländischer Propaganda standen, ließen nichts ungeschehn, was geeignet war, in dem Herzen des Volks die Anhänglichkeit um das Vergangne ans .Kosten der Zufriedenheit mit der Gegenwart zu nähren, und erwarteten mit Ungeduld den Zeitpunkt, der ihnen erlauben würde, sich die Verlegenheiten der kaiser¬ lichen Regierung in Wien zur Verwirklichung ihrer weitausschauenden Pläne ur Prag zu nutze zu machen. Soweit es sich dabei lediglich um platonische Gefühle und ideale Wünsche handelte, hätte man daran noch keinen Anstoß zu nehmen brauchen, und die österreichische Regierung hatte auch der begreiflichen Anhänglichkeit der Tschechen an alles, was sie an die glorreiche Vergangenheit des böhmischen Reichs er¬ innerte, meist in wohlwollender und rücksichtsvoller Weise Rechnung getragen. Auch in dieser Beziehung ist das frühe Ende des Kronprinzen Rudolf, von dessen lebhaftem Anteil an allem, was Prag und Böhmen anging, die Tschechen die Verwirklichung ihrer sehnlichsten Wünsche erhoffen zu dürfen glaubten, und der dem Kaiserhause einen großen Teil der durch Veruachlässi- aung und Gleichgiltigkeit eiugcbüßteu Shmpathieu wiederzugeführt hatte, für die Dynastie ein empfindlicher Verlust gewesen. Bei diesen rein platonischen Anfwnllnngeu eines partikularistischen Patrio¬ tismus war es indes, wie sich voraussehen ließ, nicht geblieben. Die in allen Staaten von Zeit zu Zeit bald bei der einen, bald bei der andern Volksklasse zu Tage tretende Unzufriedenheit mit der Regierungsform oder der Handlungs¬ weise der Regierung hatte in Böhmen mehr und mehr den Charakter grund¬ sätzlicher tschechischer Opposition gegen jede Behandlung Böhmens als eines Kronlands, sowie gegen spezifisch deutsche Vorherrschaft oder Bevormundung angenommen. Mit dieser Auflehnung gegen Wien ging eine an Heftigkeit zunehmende Bewegung gegen deutsche Gesittung und deutsches Wesen Hand M Hand. Die Presse und heißblutige oder kaltberechnende Demagogen hatten, wie es in solchen Fällen üblich ist, die Sache in die Hand genommen, und es war ihnen nicht schwer geworden, in der leicht erregbaren Masse des tschechischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/221>, abgerufen am 02.07.2024.