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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Böhmische Wirren

der Entdeckung oder die Neuheit der Schlußfolgerungen, zu denen sie geführt
hat. Nur die Allgewalt eines verblendenden Vorurteils konnte einem in ganz
hervorragender Weise begabten Volksstamm ein zeitweiliges Zurückbleiben zum
Vorwurf mache", für das ein jahrhundertelang erlittner geistiger und wirtschaft¬
licher Druck die sogar dem Macaulayschen Quintaner erkennbare Ursache war.

Was in den beiden Lagern den Knecht, den Handlanger, den Gewerbs-
gehilfen, mit einem Wort den gemeinen Mann, den Proletarier anlangte, so
schlag und vertrug man sich, als hätte es zwischen dem deutschen und dem
tschechischen Volksstamm in Böhmen nie einen so verteufelt feinen Unterschied
wie den zwischen voll- und minderwertiger Kultur gegeben. Auch Amor schien
zahlreichen Opfern in beiden Lagern die Zauberbiudc, die ihnen die neu ent¬
deckte .Kulturkluft verhüllen sollte, über die Augen gebreitet zu haben, denn
überall in Böhmen trifft man auf Sprößlinge nach der Abstammung gemischter
Ehen, die sich seit der neuen kulturhistorischen Entdeckung vergebens fragen,
ob sie vermöge ihrer Geburt der "vollwertigen" oder der "minderwertigen"
Kultur angehören, oder welchen Kulturbruchteil ihnen auf ehrerbietige Anfrage
das Wohlwollen der Herren schönerer, Wolf und Genossen nllcrgnädigst,
VLöinilostivö, zubilligen würde.

Die kaiserliche Regierung in Wien hatte sich daran gewohnt, den in
Böhmen chronisch gewordnen Zustand tschechischen Mißvergnügens und pas¬
siver nationaler Gegensätze nicht weiter ernst zu nehmen. Er wurde ihr
selten wirklich unbequem, und mit weitab liegenden Gefahren und Verwick¬
lungen zerbricht man sich nicht den Kops, wenn es einem in erster Reihe
um Auskunftsmittel für den nächsten Tag und um Kompromisse mit den un¬
ruhigsten Elementen zu thun ist, oder mit andern Worten, wenn -- wie der
österreichische Ausdruck dafür lautet -- einfach "fortgewurschtelt" wird.

Als die Ära der Bewegungen begann, die man etwas kurz angebunden,
aber nicht ganz mit Unrecht als die des Nationnlitätenschlvindels bezeichnet,
blieb auch Böhmen von der durch Emissäre über ganz Enropa ausgestreuten
Drachensaat nicht verschont.

Das dunkle Gefühl des böhmischen Slawen, daß ihm blutiges Unrecht
geschehn sei mit dem hungrigen Heuschreckenheer von Beamten, Pfründnern
und Günstlingen, das, von Wien kommend, ein für allemal über die frucht¬
baren Gefilde seines Vaterlands hergefallen war und ihm alljährlich wenig
mehr übrig ließ als die Stoppeln, nahm eine bestimmtere Form um. Mit Hilfe
zum Teil hochbegabter patriotischer Forscher war das etwas verblaßte Bild
einstiger Macht und Herrlichkeit nen belebt worden; die vormals der Obhut
der Burggrafen von Karluv Thu übergebncn böhmischen Kroninsignicn traten
in hellerm Glanz vor sein begeistert aufschauendes Auge: ja das waren doch
ganz andre Zeiten gewesen, als Kaiser Karl IV. noch Böhmen und Deutsch¬
land vom Hradschin aus beherrschte, und Prag unter den Mittelpunkten
geistigen Lebens, europäischer Kunst und Kultur einer der einflußreichsten und
gefeiertsten war!


Böhmische Wirren

der Entdeckung oder die Neuheit der Schlußfolgerungen, zu denen sie geführt
hat. Nur die Allgewalt eines verblendenden Vorurteils konnte einem in ganz
hervorragender Weise begabten Volksstamm ein zeitweiliges Zurückbleiben zum
Vorwurf mache», für das ein jahrhundertelang erlittner geistiger und wirtschaft¬
licher Druck die sogar dem Macaulayschen Quintaner erkennbare Ursache war.

Was in den beiden Lagern den Knecht, den Handlanger, den Gewerbs-
gehilfen, mit einem Wort den gemeinen Mann, den Proletarier anlangte, so
schlag und vertrug man sich, als hätte es zwischen dem deutschen und dem
tschechischen Volksstamm in Böhmen nie einen so verteufelt feinen Unterschied
wie den zwischen voll- und minderwertiger Kultur gegeben. Auch Amor schien
zahlreichen Opfern in beiden Lagern die Zauberbiudc, die ihnen die neu ent¬
deckte .Kulturkluft verhüllen sollte, über die Augen gebreitet zu haben, denn
überall in Böhmen trifft man auf Sprößlinge nach der Abstammung gemischter
Ehen, die sich seit der neuen kulturhistorischen Entdeckung vergebens fragen,
ob sie vermöge ihrer Geburt der „vollwertigen" oder der „minderwertigen"
Kultur angehören, oder welchen Kulturbruchteil ihnen auf ehrerbietige Anfrage
das Wohlwollen der Herren schönerer, Wolf und Genossen nllcrgnädigst,
VLöinilostivö, zubilligen würde.

Die kaiserliche Regierung in Wien hatte sich daran gewohnt, den in
Böhmen chronisch gewordnen Zustand tschechischen Mißvergnügens und pas¬
siver nationaler Gegensätze nicht weiter ernst zu nehmen. Er wurde ihr
selten wirklich unbequem, und mit weitab liegenden Gefahren und Verwick¬
lungen zerbricht man sich nicht den Kops, wenn es einem in erster Reihe
um Auskunftsmittel für den nächsten Tag und um Kompromisse mit den un¬
ruhigsten Elementen zu thun ist, oder mit andern Worten, wenn — wie der
österreichische Ausdruck dafür lautet — einfach „fortgewurschtelt" wird.

Als die Ära der Bewegungen begann, die man etwas kurz angebunden,
aber nicht ganz mit Unrecht als die des Nationnlitätenschlvindels bezeichnet,
blieb auch Böhmen von der durch Emissäre über ganz Enropa ausgestreuten
Drachensaat nicht verschont.

Das dunkle Gefühl des böhmischen Slawen, daß ihm blutiges Unrecht
geschehn sei mit dem hungrigen Heuschreckenheer von Beamten, Pfründnern
und Günstlingen, das, von Wien kommend, ein für allemal über die frucht¬
baren Gefilde seines Vaterlands hergefallen war und ihm alljährlich wenig
mehr übrig ließ als die Stoppeln, nahm eine bestimmtere Form um. Mit Hilfe
zum Teil hochbegabter patriotischer Forscher war das etwas verblaßte Bild
einstiger Macht und Herrlichkeit nen belebt worden; die vormals der Obhut
der Burggrafen von Karluv Thu übergebncn böhmischen Kroninsignicn traten
in hellerm Glanz vor sein begeistert aufschauendes Auge: ja das waren doch
ganz andre Zeiten gewesen, als Kaiser Karl IV. noch Böhmen und Deutsch¬
land vom Hradschin aus beherrschte, und Prag unter den Mittelpunkten
geistigen Lebens, europäischer Kunst und Kultur einer der einflußreichsten und
gefeiertsten war!


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/220>, abgerufen am 02.07.2024.