Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.Böhmische Wirren Schriftstücke in deutscher Sprache vorgelegt wurden, trug nicht dazu bei, deutsches Auch das hätte sie gegen das Deutschtum verstimmen können, daß es, den Von den vier, die sich in die Aufgabe geteilt zu haben schienen, dem Nur eins fehlte zur Vervollstündiguug des dem tschechischen Volksstnmm Böhmische Wirren Schriftstücke in deutscher Sprache vorgelegt wurden, trug nicht dazu bei, deutsches Auch das hätte sie gegen das Deutschtum verstimmen können, daß es, den Von den vier, die sich in die Aufgabe geteilt zu haben schienen, dem Nur eins fehlte zur Vervollstündiguug des dem tschechischen Volksstnmm <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0219" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/232771"/> <fw type="header" place="top"> Böhmische Wirren</fw><lb/> <p xml:id="ID_661" prev="#ID_660"> Schriftstücke in deutscher Sprache vorgelegt wurden, trug nicht dazu bei, deutsches<lb/> ^ehen nud gotische Schriftzeichen ihrem Herzen um vieles näher zu rücken.</p><lb/> <p xml:id="ID_662"> Auch das hätte sie gegen das Deutschtum verstimmen können, daß es, den<lb/> Kaiser Sigismund an seiner Spitze, in Kostuitz an den, Freiheits- und Neform-<lb/> apostel der Böhmen nicht eben schön gehandelt hatte, aber das verschlug<lb/> ehren weniger. Die Zeiten hatten sich geändert: es war der römischen Kirche<lb/> gelungen, das Meßtuch von neuem über ganz Böhmen zu breiten; in keinem<lb/> andern Lande wurde die Lehre von der Verdienstlichkeit der frommen Werke<lb/> und der ersprießlichen Fürbitte der Heilige» gläubiger entgegengenommen, und<lb/> u> keinem andern Lande beschränkte sich die Volksbildung so gewissenhaft auf<lb/> den Dekalog, das Tridentinische Bekenntnis und die »veli, sanowrum. Die<lb/> Unwissenheit, in der — abgesehen von diesen drei mehr zur Erleuchtung des<lb/> Herzens als des .Kopfs bestimmten Unterrichtszweigen — der weitaus größte<lb/> Teil der katholischen Bevölkerung Böhmens verblieb, erweiterte die Kluft.<lb/> Fanatismus und Ignoranz sind für das Wachstum und die Ausbreitung natio¬<lb/> nalen Vorurteils der gedeihlichste Boden. Der den breitern Volksschichten ent<lb/> stammende niedre katholische Klerus hatte das nationale Vorurteil gegen die<lb/> deutschen Ketzer — denn das waren sie allerdings in den meisten Fällen —<lb/> wenn nicht mit der Muttermilch, so doch ans dem Seminar eingesogen; der<lb/> höhere Bilduugsgmd, der ihm erlaubt hätte, sich ein selbständiges Urteil zu<lb/> bilden, war das Privilegium einer Kategorie von Laien und Tvnsnrierten, zu<lb/> der er nicht gehörte; er impfte somit sein nationales Vorurteil seinen Beicht¬<lb/> kindern ohne bösen Willen oder Gewissensskrupel lediglich als obligate Ver-<lb/> bvllstäudigung eines, wie er glaubte, kanonischen Kreises rechtgläubiger Ge¬<lb/> sinnungen ein.</p><lb/> <p xml:id="ID_663"> Von den vier, die sich in die Aufgabe geteilt zu haben schienen, dem<lb/> Tschechen den letzten Kreuzer abzunehmen, waren der Fiskus und das vor¬<lb/> geblich als Helfer in der Not herbeigeeilte deutsche Schacher- und Wucherjüdchen<lb/> die gründlichsten und unerbittlichsten. Das Borgehn des deutsch-österreichischen<lb/> Und namentlich des tschechischen Grnudndels war, wie zahlreiche Quellen dar<lb/> thun, trotz vielfältiger Härten weit nachsichtiger und patriarchalischer. Am<lb/> besten verstand es die Kirche. Als Landeignerin dnrch ihre hohen Würden¬<lb/> träger, Stifter und Klöster ohnehin im Besitz des beanspruchten Löwenanteils,<lb/> empfing sie unermüdlich, selten ohne zuvor mit dein Schennenthor gewinkt zu<lb/> haben, oft ohne gebieterisch z» heischen, fast immer ohne Klagen über ihre<lb/> Habsucht zu veranlassen. In keinem andern Lande standen die Gnadengaben,<lb/> die sie taxmäßig gegen Barzahlung verabfolgte, so hoch und so fest im Preis<lb/> wie in Böhmen.</p><lb/> <p xml:id="ID_664" next="#ID_665"> Nur eins fehlte zur Vervollstündiguug des dem tschechischen Volksstnmm<lb/> mit seltner Übereinstimmung von allen Seiten zugedachten Helotentums: die<lb/> von den Reichsratabgevrdneteu schönerer, Wolf und Genossen erst in neuster<lb/> Zeit gemachte Entdeckung von der „MiuderN'ertigkeit seiner Kultur." Man<lb/> weiß in der That nicht, was man dabei mehr bewundern soll, die Genialität</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0219]
Böhmische Wirren
Schriftstücke in deutscher Sprache vorgelegt wurden, trug nicht dazu bei, deutsches
^ehen nud gotische Schriftzeichen ihrem Herzen um vieles näher zu rücken.
Auch das hätte sie gegen das Deutschtum verstimmen können, daß es, den
Kaiser Sigismund an seiner Spitze, in Kostuitz an den, Freiheits- und Neform-
apostel der Böhmen nicht eben schön gehandelt hatte, aber das verschlug
ehren weniger. Die Zeiten hatten sich geändert: es war der römischen Kirche
gelungen, das Meßtuch von neuem über ganz Böhmen zu breiten; in keinem
andern Lande wurde die Lehre von der Verdienstlichkeit der frommen Werke
und der ersprießlichen Fürbitte der Heilige» gläubiger entgegengenommen, und
u> keinem andern Lande beschränkte sich die Volksbildung so gewissenhaft auf
den Dekalog, das Tridentinische Bekenntnis und die »veli, sanowrum. Die
Unwissenheit, in der — abgesehen von diesen drei mehr zur Erleuchtung des
Herzens als des .Kopfs bestimmten Unterrichtszweigen — der weitaus größte
Teil der katholischen Bevölkerung Böhmens verblieb, erweiterte die Kluft.
Fanatismus und Ignoranz sind für das Wachstum und die Ausbreitung natio¬
nalen Vorurteils der gedeihlichste Boden. Der den breitern Volksschichten ent
stammende niedre katholische Klerus hatte das nationale Vorurteil gegen die
deutschen Ketzer — denn das waren sie allerdings in den meisten Fällen —
wenn nicht mit der Muttermilch, so doch ans dem Seminar eingesogen; der
höhere Bilduugsgmd, der ihm erlaubt hätte, sich ein selbständiges Urteil zu
bilden, war das Privilegium einer Kategorie von Laien und Tvnsnrierten, zu
der er nicht gehörte; er impfte somit sein nationales Vorurteil seinen Beicht¬
kindern ohne bösen Willen oder Gewissensskrupel lediglich als obligate Ver-
bvllstäudigung eines, wie er glaubte, kanonischen Kreises rechtgläubiger Ge¬
sinnungen ein.
Von den vier, die sich in die Aufgabe geteilt zu haben schienen, dem
Tschechen den letzten Kreuzer abzunehmen, waren der Fiskus und das vor¬
geblich als Helfer in der Not herbeigeeilte deutsche Schacher- und Wucherjüdchen
die gründlichsten und unerbittlichsten. Das Borgehn des deutsch-österreichischen
Und namentlich des tschechischen Grnudndels war, wie zahlreiche Quellen dar
thun, trotz vielfältiger Härten weit nachsichtiger und patriarchalischer. Am
besten verstand es die Kirche. Als Landeignerin dnrch ihre hohen Würden¬
träger, Stifter und Klöster ohnehin im Besitz des beanspruchten Löwenanteils,
empfing sie unermüdlich, selten ohne zuvor mit dein Schennenthor gewinkt zu
haben, oft ohne gebieterisch z» heischen, fast immer ohne Klagen über ihre
Habsucht zu veranlassen. In keinem andern Lande standen die Gnadengaben,
die sie taxmäßig gegen Barzahlung verabfolgte, so hoch und so fest im Preis
wie in Böhmen.
Nur eins fehlte zur Vervollstündiguug des dem tschechischen Volksstnmm
mit seltner Übereinstimmung von allen Seiten zugedachten Helotentums: die
von den Reichsratabgevrdneteu schönerer, Wolf und Genossen erst in neuster
Zeit gemachte Entdeckung von der „MiuderN'ertigkeit seiner Kultur." Man
weiß in der That nicht, was man dabei mehr bewundern soll, die Genialität
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