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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Böhmische Ivirren

worden, und was daS Schlimmste ist, durch maßlose Angriffe auf die Ne-
gierung und durch gänzliche Mißachtung der Oberhoheit des Gesamtstaats ist
dus Ansehn beider schlver geschädigt worden.

Ja, man kann sich leider der Überzeugung nicht verschließen -- und das ist
der Punkt, den Nur besprechen möchten --, daß ein gütlicher Ausgleich zwischen
den sogenannten Ansprachen der deutsch-österreichischen nud der tschechischen
Parteivertretungen, oder mit andern Worten die Ermittlung eines zwischen
ihnen zu vereinbarenden mulus vivsnäi nicht das ist, was die Umstände er
heischen, nud daß anch im Falle des Gelingens ein solcher Ausgleich auf
die gegenwärtige Staats- und Verwaltnngskrisis wie die Faust muss Ange
passen würde.

Keine wie much immer geartete Vereinbarung von Volksvertretern kann
das dnrch die Ereignisse der letzte" drei Jahre erschütterte Ausehen der Re¬
gierung wieder herstellen. Sie muß zu diesem Behuf selbst handeln. Sie darf
nicht ruhn, bis sie das den Ausschreitungen eines Teils der Volksvertretung
und einer Anzahl städtischer und ländlicher Behörden zum Raub gewordne
Gebiet ihrer distretivnüren Machtvollkommenheit zurückerobert und gesäubert
hat; sie muß um jeden Preis dem an ihren .Kräften und ihrer Entschlossenheit
irre gewordnen Volke zeigen, daß sie noch immer, wie jede andre gute Ne¬
gierung, zwei gesunde Fäuste hat, und daß sie diese zu gebrauche" weiß, zur
Abwehr jegliche" Angriffs und zur Niederwerfung jedes gegen die Maßregeln
ihrer vollziehenden Gewalt geleisteten Widerstands.




Ein Herz und eine Seele waren die slawischen Bewohner Böhmens und
die dahin aus den benachbarten deutscheu Landen vvrgedrnngnen Kolonisten
nie gewesen. Es hatte zu allen Zeiten Reibungen, Häkeleien, Zwistigkeiten
""d erbitternde Zwischenfälle gegeben. Das lag in der Natur der Sache. Bald
waren es, wenn beide Teile vermischt untereinander wohnten, Streitigkeiten
um Grund n"d Boden, bald handelte es sich um Vorrang und Gerechtsame;
bald geriet man sich über die Religion in die Haare, bald waren es nur Eifer
süchteleieu und nationale Vorurteile, die die Nachbarn entzweiten.

Weder in politischer, noch in ethischer und wirtschaftlicher Beziehung hatten
die Tschechen mit ihrer Zugehörigkeit zu deu Ländern der Habsburgischen Ge-
samtmvuarchie das große Los gezogen. Ihr geistiges und leibliches Wohl
verursachte, außer uuter Kaiser Joseph II., niemand in Wien schlaflose
Nächte; man begnügte sich damit, sie bald in thrannischer, bald in patriarcha¬
lischer Weise zum Besten fremder Elemente und Interessen zu knechten nud
nnszubenten.

Daß der Druck, über den sie zu klagen hatten, vielfach dem deutschen
Beamtentum und dem sich in deu Strahlen kaiserlicher Gnade formenden
deutschen Grund- oder Hofadel zuzuschreiben war, und daß ihnen Stenerzettel,
Strafmandate, Gerichtsvvllstreckungen und andre Schrauben und unwillkommne.


Böhmische Ivirren

worden, und was daS Schlimmste ist, durch maßlose Angriffe auf die Ne-
gierung und durch gänzliche Mißachtung der Oberhoheit des Gesamtstaats ist
dus Ansehn beider schlver geschädigt worden.

Ja, man kann sich leider der Überzeugung nicht verschließen — und das ist
der Punkt, den Nur besprechen möchten —, daß ein gütlicher Ausgleich zwischen
den sogenannten Ansprachen der deutsch-österreichischen nud der tschechischen
Parteivertretungen, oder mit andern Worten die Ermittlung eines zwischen
ihnen zu vereinbarenden mulus vivsnäi nicht das ist, was die Umstände er
heischen, nud daß anch im Falle des Gelingens ein solcher Ausgleich auf
die gegenwärtige Staats- und Verwaltnngskrisis wie die Faust muss Ange
passen würde.

Keine wie much immer geartete Vereinbarung von Volksvertretern kann
das dnrch die Ereignisse der letzte» drei Jahre erschütterte Ausehen der Re¬
gierung wieder herstellen. Sie muß zu diesem Behuf selbst handeln. Sie darf
nicht ruhn, bis sie das den Ausschreitungen eines Teils der Volksvertretung
und einer Anzahl städtischer und ländlicher Behörden zum Raub gewordne
Gebiet ihrer distretivnüren Machtvollkommenheit zurückerobert und gesäubert
hat; sie muß um jeden Preis dem an ihren .Kräften und ihrer Entschlossenheit
irre gewordnen Volke zeigen, daß sie noch immer, wie jede andre gute Ne¬
gierung, zwei gesunde Fäuste hat, und daß sie diese zu gebrauche« weiß, zur
Abwehr jegliche» Angriffs und zur Niederwerfung jedes gegen die Maßregeln
ihrer vollziehenden Gewalt geleisteten Widerstands.




Ein Herz und eine Seele waren die slawischen Bewohner Böhmens und
die dahin aus den benachbarten deutscheu Landen vvrgedrnngnen Kolonisten
nie gewesen. Es hatte zu allen Zeiten Reibungen, Häkeleien, Zwistigkeiten
»»d erbitternde Zwischenfälle gegeben. Das lag in der Natur der Sache. Bald
waren es, wenn beide Teile vermischt untereinander wohnten, Streitigkeiten
um Grund n»d Boden, bald handelte es sich um Vorrang und Gerechtsame;
bald geriet man sich über die Religion in die Haare, bald waren es nur Eifer
süchteleieu und nationale Vorurteile, die die Nachbarn entzweiten.

Weder in politischer, noch in ethischer und wirtschaftlicher Beziehung hatten
die Tschechen mit ihrer Zugehörigkeit zu deu Ländern der Habsburgischen Ge-
samtmvuarchie das große Los gezogen. Ihr geistiges und leibliches Wohl
verursachte, außer uuter Kaiser Joseph II., niemand in Wien schlaflose
Nächte; man begnügte sich damit, sie bald in thrannischer, bald in patriarcha¬
lischer Weise zum Besten fremder Elemente und Interessen zu knechten nud
nnszubenten.

Daß der Druck, über den sie zu klagen hatten, vielfach dem deutschen
Beamtentum und dem sich in deu Strahlen kaiserlicher Gnade formenden
deutschen Grund- oder Hofadel zuzuschreiben war, und daß ihnen Stenerzettel,
Strafmandate, Gerichtsvvllstreckungen und andre Schrauben und unwillkommne.


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[0218] Böhmische Ivirren worden, und was daS Schlimmste ist, durch maßlose Angriffe auf die Ne- gierung und durch gänzliche Mißachtung der Oberhoheit des Gesamtstaats ist dus Ansehn beider schlver geschädigt worden. Ja, man kann sich leider der Überzeugung nicht verschließen — und das ist der Punkt, den Nur besprechen möchten —, daß ein gütlicher Ausgleich zwischen den sogenannten Ansprachen der deutsch-österreichischen nud der tschechischen Parteivertretungen, oder mit andern Worten die Ermittlung eines zwischen ihnen zu vereinbarenden mulus vivsnäi nicht das ist, was die Umstände er heischen, nud daß anch im Falle des Gelingens ein solcher Ausgleich auf die gegenwärtige Staats- und Verwaltnngskrisis wie die Faust muss Ange passen würde. Keine wie much immer geartete Vereinbarung von Volksvertretern kann das dnrch die Ereignisse der letzte» drei Jahre erschütterte Ausehen der Re¬ gierung wieder herstellen. Sie muß zu diesem Behuf selbst handeln. Sie darf nicht ruhn, bis sie das den Ausschreitungen eines Teils der Volksvertretung und einer Anzahl städtischer und ländlicher Behörden zum Raub gewordne Gebiet ihrer distretivnüren Machtvollkommenheit zurückerobert und gesäubert hat; sie muß um jeden Preis dem an ihren .Kräften und ihrer Entschlossenheit irre gewordnen Volke zeigen, daß sie noch immer, wie jede andre gute Ne¬ gierung, zwei gesunde Fäuste hat, und daß sie diese zu gebrauche« weiß, zur Abwehr jegliche» Angriffs und zur Niederwerfung jedes gegen die Maßregeln ihrer vollziehenden Gewalt geleisteten Widerstands. Ein Herz und eine Seele waren die slawischen Bewohner Böhmens und die dahin aus den benachbarten deutscheu Landen vvrgedrnngnen Kolonisten nie gewesen. Es hatte zu allen Zeiten Reibungen, Häkeleien, Zwistigkeiten »»d erbitternde Zwischenfälle gegeben. Das lag in der Natur der Sache. Bald waren es, wenn beide Teile vermischt untereinander wohnten, Streitigkeiten um Grund n»d Boden, bald handelte es sich um Vorrang und Gerechtsame; bald geriet man sich über die Religion in die Haare, bald waren es nur Eifer süchteleieu und nationale Vorurteile, die die Nachbarn entzweiten. Weder in politischer, noch in ethischer und wirtschaftlicher Beziehung hatten die Tschechen mit ihrer Zugehörigkeit zu deu Ländern der Habsburgischen Ge- samtmvuarchie das große Los gezogen. Ihr geistiges und leibliches Wohl verursachte, außer uuter Kaiser Joseph II., niemand in Wien schlaflose Nächte; man begnügte sich damit, sie bald in thrannischer, bald in patriarcha¬ lischer Weise zum Besten fremder Elemente und Interessen zu knechten nud nnszubenten. Daß der Druck, über den sie zu klagen hatten, vielfach dem deutschen Beamtentum und dem sich in deu Strahlen kaiserlicher Gnade formenden deutschen Grund- oder Hofadel zuzuschreiben war, und daß ihnen Stenerzettel, Strafmandate, Gerichtsvvllstreckungen und andre Schrauben und unwillkommne.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/218>, abgerufen am 02.07.2024.