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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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gegenüber Rußland gleichgiltig verhaltn,. "Österreich selbst stoße Rußland
auf den Gedanken der Notwendigkeit, um der eignen Ruhe mulier seinen
Händen die polnischen Länder zu entreißen, die jetzt nnter seiner Herrschaft
stünden. Nicht zum Zweck der Eroberung seien wir genötigt nach den: An¬
schluß der galizischen Länder zu streben, sondern ausschließlich zum Zweck der
Verteidigung" (S. 173). Und in der Einleitung zu diesem Buche sagt der
hochgestellte Verfasser: "Wir haben n"S bemüht zu zeigen, daß eine allendliche
Befestigung der russischen national-stnatlichen Idee in diesen westlichen Gebieten,
deren größerer Teil uns gehört sowohl nach dem Recht der frühern Besiedlung
als nach dem Recht der Besiegung der letzten Gebieter, zu vollenden möglich
ist nur mit Einschluß in unsre Grenzen der zu Österreich losgerissenen ehemals
russischen Länder, in denen jetzt der Mittelpunkt aller gegen diese Befestigung
gerichteten Intriguen und Wühlereien gegründet ist. . , . Diese Länder heißen
das galizische Nußland____"

Das sind um allerdings etwas sonderbare Gedankengänge eines russischen
Würdenträgers und Schriftstellers. Erstens widersprechen sie der Geschichte,
wenigstens der Geschichte, die Nur nicht in russischen Schulbüchern, sondern in
wissenschaftlichen Werken über die Vorzeit der unter dem Polen von 1770 ver¬
einigten Länder lesen. Weder Halitsch, noch Krakau, noch Gnesen oder Warschau
haben je zu dem Reiche gehört, das sich das Großfürstentum Moskau nannte,
woraus das heutige Nußland entstanden ist. normannische Fürsten haben einst
AU Halitsch gesessen, als das heutige Nußland noch gnr kein Staat war, als
noch Finnen das Land besaßen, um heute Moskau steht; Polen und Deutsche
saßen und herrschten in Großpolen, Krakau und Schlesien, als noch kein Russe
dorthin über den Dujepr gekommen war. Wenn das heutige Rußland auf alle
Länder Anspruch erhebt, die einmal von normannischen Fürsten aus dem Ge¬
schlecht Ruriks erobert worden waren, so könnten wir Deutschen mit demselben
Recht einen großen Teil Rußlands als frühern Besitz der Goten zurückfordern.
Niemals ist daS Weichselland von moskowischen Russen besiedelt worden, und die
Fürsten normannischen Stammes waren eben keine Slawen und herrschten über
finnische, slawische, polnische, litauische Völker. Wenn Rußland nun ans der
Geschichte ein Anrecht auf Galizien ableiten wollte, so wäre das der reine
Panslawismus, der dieses Land für sich beanspruchte, weil es zum Teil, nicht
Kv" Rußland aus besiedelt worden, aber von den Rnthenen, einem slawischen
Stamme, bewohnt ist. Aber der Verfasser fordert Galizien nicht nur aus
diesem panslawistischen, sondern aus politischem Grunde für Nußland, und das
ist ebenso überraschend wie der nationale Grund. Denn es ist überraschend,
wenn sich jemand, der sich den Magen an Pilzen verdorben hat, damit helfen
will, daß er nach mehr Pilzen verlangt. Rußland krankt schwer und lange
an dem polnischen Bissen, und man sagt, daß es im Jahre 1864 Preußen den
Vorschlag gemacht habe, das im Tilsiter Frieden ihm abgenommne Weichsellnnd
zurückzunehmen. Natürlich dankte Bismarck für das Geschenk, und Rußland
schleppt sich weiter mit dieser ewigen polnischen Frage, von der der Verfasser


gegenüber Rußland gleichgiltig verhaltn,. „Österreich selbst stoße Rußland
auf den Gedanken der Notwendigkeit, um der eignen Ruhe mulier seinen
Händen die polnischen Länder zu entreißen, die jetzt nnter seiner Herrschaft
stünden. Nicht zum Zweck der Eroberung seien wir genötigt nach den: An¬
schluß der galizischen Länder zu streben, sondern ausschließlich zum Zweck der
Verteidigung" (S. 173). Und in der Einleitung zu diesem Buche sagt der
hochgestellte Verfasser: „Wir haben n»S bemüht zu zeigen, daß eine allendliche
Befestigung der russischen national-stnatlichen Idee in diesen westlichen Gebieten,
deren größerer Teil uns gehört sowohl nach dem Recht der frühern Besiedlung
als nach dem Recht der Besiegung der letzten Gebieter, zu vollenden möglich
ist nur mit Einschluß in unsre Grenzen der zu Österreich losgerissenen ehemals
russischen Länder, in denen jetzt der Mittelpunkt aller gegen diese Befestigung
gerichteten Intriguen und Wühlereien gegründet ist. . , . Diese Länder heißen
das galizische Nußland____"

Das sind um allerdings etwas sonderbare Gedankengänge eines russischen
Würdenträgers und Schriftstellers. Erstens widersprechen sie der Geschichte,
wenigstens der Geschichte, die Nur nicht in russischen Schulbüchern, sondern in
wissenschaftlichen Werken über die Vorzeit der unter dem Polen von 1770 ver¬
einigten Länder lesen. Weder Halitsch, noch Krakau, noch Gnesen oder Warschau
haben je zu dem Reiche gehört, das sich das Großfürstentum Moskau nannte,
woraus das heutige Nußland entstanden ist. normannische Fürsten haben einst
AU Halitsch gesessen, als das heutige Nußland noch gnr kein Staat war, als
noch Finnen das Land besaßen, um heute Moskau steht; Polen und Deutsche
saßen und herrschten in Großpolen, Krakau und Schlesien, als noch kein Russe
dorthin über den Dujepr gekommen war. Wenn das heutige Rußland auf alle
Länder Anspruch erhebt, die einmal von normannischen Fürsten aus dem Ge¬
schlecht Ruriks erobert worden waren, so könnten wir Deutschen mit demselben
Recht einen großen Teil Rußlands als frühern Besitz der Goten zurückfordern.
Niemals ist daS Weichselland von moskowischen Russen besiedelt worden, und die
Fürsten normannischen Stammes waren eben keine Slawen und herrschten über
finnische, slawische, polnische, litauische Völker. Wenn Rußland nun ans der
Geschichte ein Anrecht auf Galizien ableiten wollte, so wäre das der reine
Panslawismus, der dieses Land für sich beanspruchte, weil es zum Teil, nicht
Kv» Rußland aus besiedelt worden, aber von den Rnthenen, einem slawischen
Stamme, bewohnt ist. Aber der Verfasser fordert Galizien nicht nur aus
diesem panslawistischen, sondern aus politischem Grunde für Nußland, und das
ist ebenso überraschend wie der nationale Grund. Denn es ist überraschend,
wenn sich jemand, der sich den Magen an Pilzen verdorben hat, damit helfen
will, daß er nach mehr Pilzen verlangt. Rußland krankt schwer und lange
an dem polnischen Bissen, und man sagt, daß es im Jahre 1864 Preußen den
Vorschlag gemacht habe, das im Tilsiter Frieden ihm abgenommne Weichsellnnd
zurückzunehmen. Natürlich dankte Bismarck für das Geschenk, und Rußland
schleppt sich weiter mit dieser ewigen polnischen Frage, von der der Verfasser


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[0187] gegenüber Rußland gleichgiltig verhaltn,. „Österreich selbst stoße Rußland auf den Gedanken der Notwendigkeit, um der eignen Ruhe mulier seinen Händen die polnischen Länder zu entreißen, die jetzt nnter seiner Herrschaft stünden. Nicht zum Zweck der Eroberung seien wir genötigt nach den: An¬ schluß der galizischen Länder zu streben, sondern ausschließlich zum Zweck der Verteidigung" (S. 173). Und in der Einleitung zu diesem Buche sagt der hochgestellte Verfasser: „Wir haben n»S bemüht zu zeigen, daß eine allendliche Befestigung der russischen national-stnatlichen Idee in diesen westlichen Gebieten, deren größerer Teil uns gehört sowohl nach dem Recht der frühern Besiedlung als nach dem Recht der Besiegung der letzten Gebieter, zu vollenden möglich ist nur mit Einschluß in unsre Grenzen der zu Österreich losgerissenen ehemals russischen Länder, in denen jetzt der Mittelpunkt aller gegen diese Befestigung gerichteten Intriguen und Wühlereien gegründet ist. . , . Diese Länder heißen das galizische Nußland____" Das sind um allerdings etwas sonderbare Gedankengänge eines russischen Würdenträgers und Schriftstellers. Erstens widersprechen sie der Geschichte, wenigstens der Geschichte, die Nur nicht in russischen Schulbüchern, sondern in wissenschaftlichen Werken über die Vorzeit der unter dem Polen von 1770 ver¬ einigten Länder lesen. Weder Halitsch, noch Krakau, noch Gnesen oder Warschau haben je zu dem Reiche gehört, das sich das Großfürstentum Moskau nannte, woraus das heutige Nußland entstanden ist. normannische Fürsten haben einst AU Halitsch gesessen, als das heutige Nußland noch gnr kein Staat war, als noch Finnen das Land besaßen, um heute Moskau steht; Polen und Deutsche saßen und herrschten in Großpolen, Krakau und Schlesien, als noch kein Russe dorthin über den Dujepr gekommen war. Wenn das heutige Rußland auf alle Länder Anspruch erhebt, die einmal von normannischen Fürsten aus dem Ge¬ schlecht Ruriks erobert worden waren, so könnten wir Deutschen mit demselben Recht einen großen Teil Rußlands als frühern Besitz der Goten zurückfordern. Niemals ist daS Weichselland von moskowischen Russen besiedelt worden, und die Fürsten normannischen Stammes waren eben keine Slawen und herrschten über finnische, slawische, polnische, litauische Völker. Wenn Rußland nun ans der Geschichte ein Anrecht auf Galizien ableiten wollte, so wäre das der reine Panslawismus, der dieses Land für sich beanspruchte, weil es zum Teil, nicht Kv» Rußland aus besiedelt worden, aber von den Rnthenen, einem slawischen Stamme, bewohnt ist. Aber der Verfasser fordert Galizien nicht nur aus diesem panslawistischen, sondern aus politischem Grunde für Nußland, und das ist ebenso überraschend wie der nationale Grund. Denn es ist überraschend, wenn sich jemand, der sich den Magen an Pilzen verdorben hat, damit helfen will, daß er nach mehr Pilzen verlangt. Rußland krankt schwer und lange an dem polnischen Bissen, und man sagt, daß es im Jahre 1864 Preußen den Vorschlag gemacht habe, das im Tilsiter Frieden ihm abgenommne Weichsellnnd zurückzunehmen. Natürlich dankte Bismarck für das Geschenk, und Rußland schleppt sich weiter mit dieser ewigen polnischen Frage, von der der Verfasser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/187>, abgerufen am 02.07.2024.