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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Polnische Politik

Kehren wir nun noch zu den Kapiteln unsers Buches zurück, die von
Galizien handeln, "Während Preußen -- so heißt es da -- die angrenzenden
russischen Gebiete durch seine Auswandrer besiedelt, indem es nicht ohne Grund
darauf rechnet, in ihnen für den Fall eines bewaffneten Zusammenstoßes mit
Rußland thätige Verbündete zu finden, ist Österreich bestrebt, sich für denselben
Fall eine Stütze in unsern Grenzlanden aus ihrer gesamten polnischen Be¬
völkerung zu errichten, besonders aus ihren intelligenten Klassen." Seit 1870
sei Österreich von der Furcht vor dem Panslawismus und vor Nußland be¬
herrscht und habe das frühere Mißtrauen gegen die von jeher dem Panslawismus
feindlichen Polen fahren lassen. Auch sei die Struktur Österreich-Ungarns dem
polnischen Wesen verwandter als die der beiden andern Besitzer polnischen
Landes. "Die Verbindung -- meint der Verfasser -- so widersprechender Ein¬
richtungen wie Freiheit des Worts und administrative Willkür, Föderalismus
und Zentralisation, Freiheit des Bekenntnisses und fanatische Thätigkeit der
Jesuiten, Konstitution und unbegrenzte Rechte des Geburtsadels mit vielfach
erhaltnen feudalen Formen, unterscheidet dieses Land von allen übrigen
Staaten Europas und nähert es in vielem dem politischen Bau der ehemaligen
polnischen Republik, die ein Konglomerat eben dieser unvereinbarer Elemente
und Anschauungen darstellte. Diese Ähnlichkeit zwischen Österreich und Polen
mußte dem polnischen Adel gefallen, besonders aber den großen Magnaten.
Sie sicherte ihnen das bequeme Leben, an das sie im Laufe vieler Jahrhunderte
gewöhnt waren. Es versteht sich, daß die adliche Partei offen auf die Seite
Österreichs überging und das Programm verkündete, das ihr bis jetzt zur
Losung dient: die Vereinigung aller Teile des alten Polens unter dem Szepter
der Habsburger." Der Verfasser schildert die elenden Zustände Galiziens.
Von 3060 Schulen, die 1847 bestanden, seien 1876 nur noch 2486 vorhanden
gewesen; von 1847 bis 1862 sei die Bevölkerung um 50000 Köpfe gesunken,
die Steuern aber von 13 Millionen Gulden auf 24^/.z Millionen gestiegen;
schlechter Ernährung fallen jährlich Tausende (50000 meint er) zum Opfer; im
Bezirk Lemberg seien von den zum Dienst Einberufnen im Jahre 1871
70 Prozent untauglich gewesen, im Jahre 1885 83 Prozent, im Bezirk Krakau
im Jahre 1880 sogar 88 Prozent; das Volk sei zu 74 Prozent schriftlvs; es
sei dreifach so hoch besteuert als das Volk in Kronpoleu, bei einem ländlichen
Arbeitslohn, der viermal niedriger als in Kroupolen sei; das Körpermaß sinke
herab, die Landwirtschaft stehe auf der niedrigsten Stufe; das Bauernland gehe
rasch in die Hände der Juden über seit deren rechtlicher Emanzipation im
Jahre 1869; der Jude sei der volle und einzige Herr in diesem Lande; von
6 Millionen Einwohnern seien 5 Millionen Bauern, die von 686000 Juden
beherrscht würden.

Dieses Galizien nun sei heute der Herd aller polnischen, gegen Rußland
gerichteten Wühlereien und Hoffnungen. Es sei erfüllt von Brennstoff, und
der kleinste Funke könne die revolutionäre Flamme entfachen. Man könne sich
unmöglich zu der gegenwärtigen Handlungsweise des Reichs der Habsburger


Polnische Politik

Kehren wir nun noch zu den Kapiteln unsers Buches zurück, die von
Galizien handeln, „Während Preußen — so heißt es da — die angrenzenden
russischen Gebiete durch seine Auswandrer besiedelt, indem es nicht ohne Grund
darauf rechnet, in ihnen für den Fall eines bewaffneten Zusammenstoßes mit
Rußland thätige Verbündete zu finden, ist Österreich bestrebt, sich für denselben
Fall eine Stütze in unsern Grenzlanden aus ihrer gesamten polnischen Be¬
völkerung zu errichten, besonders aus ihren intelligenten Klassen." Seit 1870
sei Österreich von der Furcht vor dem Panslawismus und vor Nußland be¬
herrscht und habe das frühere Mißtrauen gegen die von jeher dem Panslawismus
feindlichen Polen fahren lassen. Auch sei die Struktur Österreich-Ungarns dem
polnischen Wesen verwandter als die der beiden andern Besitzer polnischen
Landes. „Die Verbindung — meint der Verfasser — so widersprechender Ein¬
richtungen wie Freiheit des Worts und administrative Willkür, Föderalismus
und Zentralisation, Freiheit des Bekenntnisses und fanatische Thätigkeit der
Jesuiten, Konstitution und unbegrenzte Rechte des Geburtsadels mit vielfach
erhaltnen feudalen Formen, unterscheidet dieses Land von allen übrigen
Staaten Europas und nähert es in vielem dem politischen Bau der ehemaligen
polnischen Republik, die ein Konglomerat eben dieser unvereinbarer Elemente
und Anschauungen darstellte. Diese Ähnlichkeit zwischen Österreich und Polen
mußte dem polnischen Adel gefallen, besonders aber den großen Magnaten.
Sie sicherte ihnen das bequeme Leben, an das sie im Laufe vieler Jahrhunderte
gewöhnt waren. Es versteht sich, daß die adliche Partei offen auf die Seite
Österreichs überging und das Programm verkündete, das ihr bis jetzt zur
Losung dient: die Vereinigung aller Teile des alten Polens unter dem Szepter
der Habsburger." Der Verfasser schildert die elenden Zustände Galiziens.
Von 3060 Schulen, die 1847 bestanden, seien 1876 nur noch 2486 vorhanden
gewesen; von 1847 bis 1862 sei die Bevölkerung um 50000 Köpfe gesunken,
die Steuern aber von 13 Millionen Gulden auf 24^/.z Millionen gestiegen;
schlechter Ernährung fallen jährlich Tausende (50000 meint er) zum Opfer; im
Bezirk Lemberg seien von den zum Dienst Einberufnen im Jahre 1871
70 Prozent untauglich gewesen, im Jahre 1885 83 Prozent, im Bezirk Krakau
im Jahre 1880 sogar 88 Prozent; das Volk sei zu 74 Prozent schriftlvs; es
sei dreifach so hoch besteuert als das Volk in Kronpoleu, bei einem ländlichen
Arbeitslohn, der viermal niedriger als in Kroupolen sei; das Körpermaß sinke
herab, die Landwirtschaft stehe auf der niedrigsten Stufe; das Bauernland gehe
rasch in die Hände der Juden über seit deren rechtlicher Emanzipation im
Jahre 1869; der Jude sei der volle und einzige Herr in diesem Lande; von
6 Millionen Einwohnern seien 5 Millionen Bauern, die von 686000 Juden
beherrscht würden.

Dieses Galizien nun sei heute der Herd aller polnischen, gegen Rußland
gerichteten Wühlereien und Hoffnungen. Es sei erfüllt von Brennstoff, und
der kleinste Funke könne die revolutionäre Flamme entfachen. Man könne sich
unmöglich zu der gegenwärtigen Handlungsweise des Reichs der Habsburger


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[0186] Polnische Politik Kehren wir nun noch zu den Kapiteln unsers Buches zurück, die von Galizien handeln, „Während Preußen — so heißt es da — die angrenzenden russischen Gebiete durch seine Auswandrer besiedelt, indem es nicht ohne Grund darauf rechnet, in ihnen für den Fall eines bewaffneten Zusammenstoßes mit Rußland thätige Verbündete zu finden, ist Österreich bestrebt, sich für denselben Fall eine Stütze in unsern Grenzlanden aus ihrer gesamten polnischen Be¬ völkerung zu errichten, besonders aus ihren intelligenten Klassen." Seit 1870 sei Österreich von der Furcht vor dem Panslawismus und vor Nußland be¬ herrscht und habe das frühere Mißtrauen gegen die von jeher dem Panslawismus feindlichen Polen fahren lassen. Auch sei die Struktur Österreich-Ungarns dem polnischen Wesen verwandter als die der beiden andern Besitzer polnischen Landes. „Die Verbindung — meint der Verfasser — so widersprechender Ein¬ richtungen wie Freiheit des Worts und administrative Willkür, Föderalismus und Zentralisation, Freiheit des Bekenntnisses und fanatische Thätigkeit der Jesuiten, Konstitution und unbegrenzte Rechte des Geburtsadels mit vielfach erhaltnen feudalen Formen, unterscheidet dieses Land von allen übrigen Staaten Europas und nähert es in vielem dem politischen Bau der ehemaligen polnischen Republik, die ein Konglomerat eben dieser unvereinbarer Elemente und Anschauungen darstellte. Diese Ähnlichkeit zwischen Österreich und Polen mußte dem polnischen Adel gefallen, besonders aber den großen Magnaten. Sie sicherte ihnen das bequeme Leben, an das sie im Laufe vieler Jahrhunderte gewöhnt waren. Es versteht sich, daß die adliche Partei offen auf die Seite Österreichs überging und das Programm verkündete, das ihr bis jetzt zur Losung dient: die Vereinigung aller Teile des alten Polens unter dem Szepter der Habsburger." Der Verfasser schildert die elenden Zustände Galiziens. Von 3060 Schulen, die 1847 bestanden, seien 1876 nur noch 2486 vorhanden gewesen; von 1847 bis 1862 sei die Bevölkerung um 50000 Köpfe gesunken, die Steuern aber von 13 Millionen Gulden auf 24^/.z Millionen gestiegen; schlechter Ernährung fallen jährlich Tausende (50000 meint er) zum Opfer; im Bezirk Lemberg seien von den zum Dienst Einberufnen im Jahre 1871 70 Prozent untauglich gewesen, im Jahre 1885 83 Prozent, im Bezirk Krakau im Jahre 1880 sogar 88 Prozent; das Volk sei zu 74 Prozent schriftlvs; es sei dreifach so hoch besteuert als das Volk in Kronpoleu, bei einem ländlichen Arbeitslohn, der viermal niedriger als in Kroupolen sei; das Körpermaß sinke herab, die Landwirtschaft stehe auf der niedrigsten Stufe; das Bauernland gehe rasch in die Hände der Juden über seit deren rechtlicher Emanzipation im Jahre 1869; der Jude sei der volle und einzige Herr in diesem Lande; von 6 Millionen Einwohnern seien 5 Millionen Bauern, die von 686000 Juden beherrscht würden. Dieses Galizien nun sei heute der Herd aller polnischen, gegen Rußland gerichteten Wühlereien und Hoffnungen. Es sei erfüllt von Brennstoff, und der kleinste Funke könne die revolutionäre Flamme entfachen. Man könne sich unmöglich zu der gegenwärtigen Handlungsweise des Reichs der Habsburger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/186>, abgerufen am 02.07.2024.