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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Polnische Politik

und Flecken lind die Fälle häuslichen Unterrichts fortwährend wachsen, und
daß der katholische Priester den vorwiegenden Einfluß auf die Jugend behält.
Die staatlichen Gymnasien haben ausschließlich die Bedeutung, daß der polnische
Jüngling in ihnen die russische Sprache gründlich kennen lernt; im übrigen
verstärken sie nur den Haß der Jugend gegen Rußland: der Staat hat mit
der Vermehrung der russischen Gymnasien künstlich die Zahl seiner Feinde ver¬
mehrt. "Wir fördern, sagt der Verfasser (S. 307), auf jede Weise die Bildung
der polnischen intelligenten Klassen lind wünschen zugleich in ihnen alle Ver¬
bindung mit der Vergangenheit zu zerreißen, sie rein russisch zu machen, als
ob das erste nicht dem zweiten widerspräche, als ob nicht allen und jedem be¬
kannt wäre, daß bei geknechteten Völkern der nationale Geist um so entwickelter
ist, je gebildeter der Mensch ist." Logisch wäre es, freilich auch grausam, dem
Polen jedes Mittel zur Bildung zu nehmen. Aber zum Glück verhalte es sich
so, daß der Pole, indem er Pole nach Glauben, Sprache, Rechten bleibe, un¬
bedingt ein treuer russischer Unterthan sein könne. Überall in Rußland seien
Polen zu finden, die in friedlicher Arbeit neben dem Russen stehend sich eng
mit dem Russentum verschmölzen. Die den Mittelschulen gestellte Ausgabe sei
phantastisch, die Mittel zu ihrer Lösung aber seien widersinnig. Denn die
Schulverwaltung habe als Mittel zur Verwandlung der Polen in Russen nicht
die Erweckung von Liebe zu Rußland erkannt, sondern die Ausrottung der An¬
hänglichkeit an alles dem Polen Heimische. Mit diesem Ziele werde in den
Gymnasien alles Polnische verfolgt und verhöhnt, der Pole erscheine als ein
niedres, verächtliches Wesen. Und der Verfasser unterläßt nicht, Beispiele
dieses Verfahrens anzuführen, wie die polnische Vergangenheit in Geschichte
und Litteratur mit Fälschmigen entwürdigt, die polnischen Geistesgrößen vor den
Ohren der polnischen Jugend beschimpft würden, wie sie gezwungen würden,
russische Dichtungen anzuhören, in denen das Polentum geschmäht werde usw.
Diese russischen Eiferer vertieften nnr den Abgrund zwischen Polentum und
Russentum und bildeten sich dabei noch ein, der russischen Sache zu dienen.
Mit ihrer Verachtung, ihrem Haß des Polnischen verzehnfachten sie den Haß
des polnischen Jünglings gegen alles Russische und weckten den Haß auch dort,
wo er vorher nicht war. Zu alledem fehle in der Thätigkeit der Gymnasien
die sittlich-pädagogische Seite völlig, alles ruhe auf dem Lehrbuch, der Lehrer
bedeute nichts. Das Schulwesen, wie es jetzt sei, nähere das Polentum nicht
dem Russentum, sondern entferne es von ihm (Kap. VII).

Diese scharfe Verurteilung des Hauptwerkzeugs, mit dem die Russifizicrung
betrieben werden soll, oder richtiger seiner Anwendung, der Art seiner Hand¬
habung, ist um so beachtenswerter, wenn sie, wie es scheint, aus der langen
Erfahrung eines hochgestellten Beamten hervorgeht. Und wenn wir den Bericht
des Generalgvuverneurs vom Jahre 1897 an den Zaren daneben halten, indem
wir zugleich, zwischen den Zeilen lesend, die Zurückhaltung in Rechnung bringen,
die sich der neuernannte Würdenträger gegenüber seinem Herrn auferlegen mußte,
so werden wir finden, daß auch dieser kompetente Richter, wenigstens bis zum


Polnische Politik

und Flecken lind die Fälle häuslichen Unterrichts fortwährend wachsen, und
daß der katholische Priester den vorwiegenden Einfluß auf die Jugend behält.
Die staatlichen Gymnasien haben ausschließlich die Bedeutung, daß der polnische
Jüngling in ihnen die russische Sprache gründlich kennen lernt; im übrigen
verstärken sie nur den Haß der Jugend gegen Rußland: der Staat hat mit
der Vermehrung der russischen Gymnasien künstlich die Zahl seiner Feinde ver¬
mehrt. „Wir fördern, sagt der Verfasser (S. 307), auf jede Weise die Bildung
der polnischen intelligenten Klassen lind wünschen zugleich in ihnen alle Ver¬
bindung mit der Vergangenheit zu zerreißen, sie rein russisch zu machen, als
ob das erste nicht dem zweiten widerspräche, als ob nicht allen und jedem be¬
kannt wäre, daß bei geknechteten Völkern der nationale Geist um so entwickelter
ist, je gebildeter der Mensch ist." Logisch wäre es, freilich auch grausam, dem
Polen jedes Mittel zur Bildung zu nehmen. Aber zum Glück verhalte es sich
so, daß der Pole, indem er Pole nach Glauben, Sprache, Rechten bleibe, un¬
bedingt ein treuer russischer Unterthan sein könne. Überall in Rußland seien
Polen zu finden, die in friedlicher Arbeit neben dem Russen stehend sich eng
mit dem Russentum verschmölzen. Die den Mittelschulen gestellte Ausgabe sei
phantastisch, die Mittel zu ihrer Lösung aber seien widersinnig. Denn die
Schulverwaltung habe als Mittel zur Verwandlung der Polen in Russen nicht
die Erweckung von Liebe zu Rußland erkannt, sondern die Ausrottung der An¬
hänglichkeit an alles dem Polen Heimische. Mit diesem Ziele werde in den
Gymnasien alles Polnische verfolgt und verhöhnt, der Pole erscheine als ein
niedres, verächtliches Wesen. Und der Verfasser unterläßt nicht, Beispiele
dieses Verfahrens anzuführen, wie die polnische Vergangenheit in Geschichte
und Litteratur mit Fälschmigen entwürdigt, die polnischen Geistesgrößen vor den
Ohren der polnischen Jugend beschimpft würden, wie sie gezwungen würden,
russische Dichtungen anzuhören, in denen das Polentum geschmäht werde usw.
Diese russischen Eiferer vertieften nnr den Abgrund zwischen Polentum und
Russentum und bildeten sich dabei noch ein, der russischen Sache zu dienen.
Mit ihrer Verachtung, ihrem Haß des Polnischen verzehnfachten sie den Haß
des polnischen Jünglings gegen alles Russische und weckten den Haß auch dort,
wo er vorher nicht war. Zu alledem fehle in der Thätigkeit der Gymnasien
die sittlich-pädagogische Seite völlig, alles ruhe auf dem Lehrbuch, der Lehrer
bedeute nichts. Das Schulwesen, wie es jetzt sei, nähere das Polentum nicht
dem Russentum, sondern entferne es von ihm (Kap. VII).

Diese scharfe Verurteilung des Hauptwerkzeugs, mit dem die Russifizicrung
betrieben werden soll, oder richtiger seiner Anwendung, der Art seiner Hand¬
habung, ist um so beachtenswerter, wenn sie, wie es scheint, aus der langen
Erfahrung eines hochgestellten Beamten hervorgeht. Und wenn wir den Bericht
des Generalgvuverneurs vom Jahre 1897 an den Zaren daneben halten, indem
wir zugleich, zwischen den Zeilen lesend, die Zurückhaltung in Rechnung bringen,
die sich der neuernannte Würdenträger gegenüber seinem Herrn auferlegen mußte,
so werden wir finden, daß auch dieser kompetente Richter, wenigstens bis zum


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[0182] Polnische Politik und Flecken lind die Fälle häuslichen Unterrichts fortwährend wachsen, und daß der katholische Priester den vorwiegenden Einfluß auf die Jugend behält. Die staatlichen Gymnasien haben ausschließlich die Bedeutung, daß der polnische Jüngling in ihnen die russische Sprache gründlich kennen lernt; im übrigen verstärken sie nur den Haß der Jugend gegen Rußland: der Staat hat mit der Vermehrung der russischen Gymnasien künstlich die Zahl seiner Feinde ver¬ mehrt. „Wir fördern, sagt der Verfasser (S. 307), auf jede Weise die Bildung der polnischen intelligenten Klassen lind wünschen zugleich in ihnen alle Ver¬ bindung mit der Vergangenheit zu zerreißen, sie rein russisch zu machen, als ob das erste nicht dem zweiten widerspräche, als ob nicht allen und jedem be¬ kannt wäre, daß bei geknechteten Völkern der nationale Geist um so entwickelter ist, je gebildeter der Mensch ist." Logisch wäre es, freilich auch grausam, dem Polen jedes Mittel zur Bildung zu nehmen. Aber zum Glück verhalte es sich so, daß der Pole, indem er Pole nach Glauben, Sprache, Rechten bleibe, un¬ bedingt ein treuer russischer Unterthan sein könne. Überall in Rußland seien Polen zu finden, die in friedlicher Arbeit neben dem Russen stehend sich eng mit dem Russentum verschmölzen. Die den Mittelschulen gestellte Ausgabe sei phantastisch, die Mittel zu ihrer Lösung aber seien widersinnig. Denn die Schulverwaltung habe als Mittel zur Verwandlung der Polen in Russen nicht die Erweckung von Liebe zu Rußland erkannt, sondern die Ausrottung der An¬ hänglichkeit an alles dem Polen Heimische. Mit diesem Ziele werde in den Gymnasien alles Polnische verfolgt und verhöhnt, der Pole erscheine als ein niedres, verächtliches Wesen. Und der Verfasser unterläßt nicht, Beispiele dieses Verfahrens anzuführen, wie die polnische Vergangenheit in Geschichte und Litteratur mit Fälschmigen entwürdigt, die polnischen Geistesgrößen vor den Ohren der polnischen Jugend beschimpft würden, wie sie gezwungen würden, russische Dichtungen anzuhören, in denen das Polentum geschmäht werde usw. Diese russischen Eiferer vertieften nnr den Abgrund zwischen Polentum und Russentum und bildeten sich dabei noch ein, der russischen Sache zu dienen. Mit ihrer Verachtung, ihrem Haß des Polnischen verzehnfachten sie den Haß des polnischen Jünglings gegen alles Russische und weckten den Haß auch dort, wo er vorher nicht war. Zu alledem fehle in der Thätigkeit der Gymnasien die sittlich-pädagogische Seite völlig, alles ruhe auf dem Lehrbuch, der Lehrer bedeute nichts. Das Schulwesen, wie es jetzt sei, nähere das Polentum nicht dem Russentum, sondern entferne es von ihm (Kap. VII). Diese scharfe Verurteilung des Hauptwerkzeugs, mit dem die Russifizicrung betrieben werden soll, oder richtiger seiner Anwendung, der Art seiner Hand¬ habung, ist um so beachtenswerter, wenn sie, wie es scheint, aus der langen Erfahrung eines hochgestellten Beamten hervorgeht. Und wenn wir den Bericht des Generalgvuverneurs vom Jahre 1897 an den Zaren daneben halten, indem wir zugleich, zwischen den Zeilen lesend, die Zurückhaltung in Rechnung bringen, die sich der neuernannte Würdenträger gegenüber seinem Herrn auferlegen mußte, so werden wir finden, daß auch dieser kompetente Richter, wenigstens bis zum

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/182>, abgerufen am 02.07.2024.