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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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polnische Politik

dienstes in einer andern Stadt oder Fabrik zu erreichen; die Freizügigkeit wird
durch den Juden unterbunden, der seinen Schuldner nicht aus der Hand läßt.
Von dieser Beschäftigung lebt ein großer Teil der 40000 Juden, die den
Handel des Landes beherrschen. Bis 1885 gab es in den Industriezentren
keine Werkführer polnischer oder russischer Herkunft; seitdem die Regierung ein¬
gegriffen hat, hat sich das geändert, sodaß im Jahre 1894 in Lodz 44 Prozent
der hohem und 73 Prozent der niedern Werkführer Polen waren. Dies wurde
hauptsächlich durch die 1892 errichtete Examinationskonunission erreicht, durch
die alle Ausländer entfernt wurden, die der russischen Sprache nicht genügend
mächtig waren.

Der Volksunterricht war ehedem in der Hand der Geistlichkeit lind der
Orden und ist heute in der der russischen Beamten. Eine Volksschule kommt
ans 2150 Einwohner, ein Schüler auf 38 Einwohner, Von allen Schülern
vollenden den Kursus 4,4 Prozent, die meisten begütigen sich mit einem Schul¬
jahre, und dieses Schuljahr umfaßt 100 Schultage; aber von diese" 100 wird
wiederum meist nur um 50 Tagen die Schule wirklich besucht; kurz die Rechnung
ist so, daß nur wenig Kinder mehr als 50 Tage ihres Lebens den Lehren
der russischen Pädagogen widmen, die freilich auch wenig passend für ihren
Beruf sind. So sinkt die Zahl der Schuler und der Schrifttundigeu stetig im
Verhältnis zur Volkszahl. Man muß übrigens berücksichtigen, daß der Ver¬
fasser hier mir den offiziellen russischem Unterricht im Auge hat, der nicht nur
in den Mittelschulen, sondern auch beim niedern Volke nicht selten von den
Eltern durch häusliche Unterweisung ergänzt oder ersetzt wird.

Der Religionsunterricht wird in der Regel vom Lehrer, nicht vom Priester
erteilt, was zur Folge hat, daß überall die Kinder außerhalb der Schulen vom
Priester Unterricht erhalten. Der Einfluß, den der Klerus durch einen solchen
unkontrollierten Unterricht auf Kinder und Eltern gewinnt, veranlaßt den Ver¬
fasser, die Forderung zu stellen, daß dein Priester der Religionsunterricht in
der Volksschule übertragen werde. Diese Forderung hat auch der gegenwärtige
Generalgouvemeur, Fürst Jmeretinski, in seiner dem Zaren vorgelegten Denk¬
schrift vom 12,/24, Januar 1898 erhoben, aber vergeblich, da, wie viele andre
seiner Vorschläge, so auch dieser nicht die Zustimmung des Oberprvkuratvrs
Pobedonoszew gefunden hat.*) Die einzige Konzession, die bisher auf diesem
Gebiete den Polen gemacht worden ist, war die im September erlassene Ver¬
fügung, daß die Zahl der Stunde" für polnischen Sprachunterricht in den
Mittelschulen von zwei auf fünf oder sechs erhöht werden solle. In diesen
Stunden lernen die polnischen Kinder ihre Muttersprache meist von russischen
Lehrern und in russischer Uiiterrichtssprachc. Unter diesen Verhältnissen ist es
natürlich, daß die Zahl der geheime" polnischen Privatschulen in den Städten



*) Die Denkschrift und ihre Behandlung in dem Ministcrkomitee sind zu Anfang des vorigen
Jnhres in London veröffentlicht worden unter den Titel: "Geheimnisse unsrer ReichZpolitik in
Polen" (russisch).
polnische Politik

dienstes in einer andern Stadt oder Fabrik zu erreichen; die Freizügigkeit wird
durch den Juden unterbunden, der seinen Schuldner nicht aus der Hand läßt.
Von dieser Beschäftigung lebt ein großer Teil der 40000 Juden, die den
Handel des Landes beherrschen. Bis 1885 gab es in den Industriezentren
keine Werkführer polnischer oder russischer Herkunft; seitdem die Regierung ein¬
gegriffen hat, hat sich das geändert, sodaß im Jahre 1894 in Lodz 44 Prozent
der hohem und 73 Prozent der niedern Werkführer Polen waren. Dies wurde
hauptsächlich durch die 1892 errichtete Examinationskonunission erreicht, durch
die alle Ausländer entfernt wurden, die der russischen Sprache nicht genügend
mächtig waren.

Der Volksunterricht war ehedem in der Hand der Geistlichkeit lind der
Orden und ist heute in der der russischen Beamten. Eine Volksschule kommt
ans 2150 Einwohner, ein Schüler auf 38 Einwohner, Von allen Schülern
vollenden den Kursus 4,4 Prozent, die meisten begütigen sich mit einem Schul¬
jahre, und dieses Schuljahr umfaßt 100 Schultage; aber von diese» 100 wird
wiederum meist nur um 50 Tagen die Schule wirklich besucht; kurz die Rechnung
ist so, daß nur wenig Kinder mehr als 50 Tage ihres Lebens den Lehren
der russischen Pädagogen widmen, die freilich auch wenig passend für ihren
Beruf sind. So sinkt die Zahl der Schuler und der Schrifttundigeu stetig im
Verhältnis zur Volkszahl. Man muß übrigens berücksichtigen, daß der Ver¬
fasser hier mir den offiziellen russischem Unterricht im Auge hat, der nicht nur
in den Mittelschulen, sondern auch beim niedern Volke nicht selten von den
Eltern durch häusliche Unterweisung ergänzt oder ersetzt wird.

Der Religionsunterricht wird in der Regel vom Lehrer, nicht vom Priester
erteilt, was zur Folge hat, daß überall die Kinder außerhalb der Schulen vom
Priester Unterricht erhalten. Der Einfluß, den der Klerus durch einen solchen
unkontrollierten Unterricht auf Kinder und Eltern gewinnt, veranlaßt den Ver¬
fasser, die Forderung zu stellen, daß dein Priester der Religionsunterricht in
der Volksschule übertragen werde. Diese Forderung hat auch der gegenwärtige
Generalgouvemeur, Fürst Jmeretinski, in seiner dem Zaren vorgelegten Denk¬
schrift vom 12,/24, Januar 1898 erhoben, aber vergeblich, da, wie viele andre
seiner Vorschläge, so auch dieser nicht die Zustimmung des Oberprvkuratvrs
Pobedonoszew gefunden hat.*) Die einzige Konzession, die bisher auf diesem
Gebiete den Polen gemacht worden ist, war die im September erlassene Ver¬
fügung, daß die Zahl der Stunde» für polnischen Sprachunterricht in den
Mittelschulen von zwei auf fünf oder sechs erhöht werden solle. In diesen
Stunden lernen die polnischen Kinder ihre Muttersprache meist von russischen
Lehrern und in russischer Uiiterrichtssprachc. Unter diesen Verhältnissen ist es
natürlich, daß die Zahl der geheime» polnischen Privatschulen in den Städten



*) Die Denkschrift und ihre Behandlung in dem Ministcrkomitee sind zu Anfang des vorigen
Jnhres in London veröffentlicht worden unter den Titel: „Geheimnisse unsrer ReichZpolitik in
Polen" (russisch).
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/181>, abgerufen am 02.07.2024.