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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Polnische Politik

nehmen, sagte Graf Caprivi und handelte danach: Bismarck hat dasselbe ge¬
dacht, aber nicht offenkundig danach gehandelt. Der zweite Kanzler scheute
sich daher auch nicht, die unglücklichen koloninlpolitischen Zustände, die sich
unter Bismarck hatten einstellen können, schriftlich und gesetzlich festzulegen,
anstatt sie zu beseitigen. Er erkannte die Preisgabe Sansibars urkundlich an
und gab voreilig Wien auf. Er legte um die Kolonien Zäune, über die wir
nicht mehr weg können. Aus allen seinen kolonialpolitischen Maßnahmen geht
das Bestreben hervor, die Differenzen mit England, die schon Bismarcks Politik
bedroht hatten, aus der Welt zu schaffen, weil er den Wert der Kolonien für
zu gering hielt, als daß er durch sie die Festlandspolitik erschweren lassen
sollte, kurz, Caprivi war in der überseeischen Politik der extreme Bismarck --
aber ohne diplomatische Hülle. Wie groß auch die Verdienste Caprivis um
Handel und Industrie sind, denen er durch seine Handelsverträge ein weit-
schnueudeö sicheres Arbeiten ermöglichte, für die Kolonialpolitik und das größere
Deutschland war er ein Unglück.




polnische Politik
2. Russen und Polen

chen wir uns nun an der Hand des im vorigen Abschnitt ge¬
nannten Buchs die Erfolge an, die Rußland seinen Polen gegen¬
über in der Verrnssnng erzielt hat. Denn wie oft man ans
russischem Munde mich schon gehört hat, man beabsichtige gar
nicht, die Polen zu Russen zu machen, so ist es dennoch that¬
sächlich das erstrebte Ziel. Oder was hieße es denn sonst, wenn der Verfasser
erklärt, es handle sich bloß um eine Ausrottung der polnischen Besonderheiten,
die die Polen von Rußland scheiden (S. 16)? Wenn das gelänge, was bliebe
denn da noch polnisch am Polen außer etwa eine besondre Barttrncht und ein
andres Temperament? Alles besondre am Polen ist eben das Polnische, das
ihn vom Russen wie vom Deutsche" scheidet, und das er sich nicht nehmen
zu lassen entschlossen ist.

Der Verfasser weist die russischen Stimmen zurück, die die russische Auf¬
gabe in Polen-Litauen für gelöst, die russische Herrschaft für genügend befestigt
halten, um sich nun ganz der großen Sache im Osten zu widmen. Er hält
die Aufgabe keineswegs für gelöst; und wenn er sie so faßt, wie ich es oben
angedeutet habe, dann freilich scheint mir, daß sie noch vom A an bis zum Z
ungelöst ist. Denn der Pole ist dort so polnisch geblieben und so verschieden
und geschieden von den Russen, wie er es jemals war. Posen ist weit mehr


Polnische Politik

nehmen, sagte Graf Caprivi und handelte danach: Bismarck hat dasselbe ge¬
dacht, aber nicht offenkundig danach gehandelt. Der zweite Kanzler scheute
sich daher auch nicht, die unglücklichen koloninlpolitischen Zustände, die sich
unter Bismarck hatten einstellen können, schriftlich und gesetzlich festzulegen,
anstatt sie zu beseitigen. Er erkannte die Preisgabe Sansibars urkundlich an
und gab voreilig Wien auf. Er legte um die Kolonien Zäune, über die wir
nicht mehr weg können. Aus allen seinen kolonialpolitischen Maßnahmen geht
das Bestreben hervor, die Differenzen mit England, die schon Bismarcks Politik
bedroht hatten, aus der Welt zu schaffen, weil er den Wert der Kolonien für
zu gering hielt, als daß er durch sie die Festlandspolitik erschweren lassen
sollte, kurz, Caprivi war in der überseeischen Politik der extreme Bismarck —
aber ohne diplomatische Hülle. Wie groß auch die Verdienste Caprivis um
Handel und Industrie sind, denen er durch seine Handelsverträge ein weit-
schnueudeö sicheres Arbeiten ermöglichte, für die Kolonialpolitik und das größere
Deutschland war er ein Unglück.




polnische Politik
2. Russen und Polen

chen wir uns nun an der Hand des im vorigen Abschnitt ge¬
nannten Buchs die Erfolge an, die Rußland seinen Polen gegen¬
über in der Verrnssnng erzielt hat. Denn wie oft man ans
russischem Munde mich schon gehört hat, man beabsichtige gar
nicht, die Polen zu Russen zu machen, so ist es dennoch that¬
sächlich das erstrebte Ziel. Oder was hieße es denn sonst, wenn der Verfasser
erklärt, es handle sich bloß um eine Ausrottung der polnischen Besonderheiten,
die die Polen von Rußland scheiden (S. 16)? Wenn das gelänge, was bliebe
denn da noch polnisch am Polen außer etwa eine besondre Barttrncht und ein
andres Temperament? Alles besondre am Polen ist eben das Polnische, das
ihn vom Russen wie vom Deutsche» scheidet, und das er sich nicht nehmen
zu lassen entschlossen ist.

Der Verfasser weist die russischen Stimmen zurück, die die russische Auf¬
gabe in Polen-Litauen für gelöst, die russische Herrschaft für genügend befestigt
halten, um sich nun ganz der großen Sache im Osten zu widmen. Er hält
die Aufgabe keineswegs für gelöst; und wenn er sie so faßt, wie ich es oben
angedeutet habe, dann freilich scheint mir, daß sie noch vom A an bis zum Z
ungelöst ist. Denn der Pole ist dort so polnisch geblieben und so verschieden
und geschieden von den Russen, wie er es jemals war. Posen ist weit mehr


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[0179] Polnische Politik nehmen, sagte Graf Caprivi und handelte danach: Bismarck hat dasselbe ge¬ dacht, aber nicht offenkundig danach gehandelt. Der zweite Kanzler scheute sich daher auch nicht, die unglücklichen koloninlpolitischen Zustände, die sich unter Bismarck hatten einstellen können, schriftlich und gesetzlich festzulegen, anstatt sie zu beseitigen. Er erkannte die Preisgabe Sansibars urkundlich an und gab voreilig Wien auf. Er legte um die Kolonien Zäune, über die wir nicht mehr weg können. Aus allen seinen kolonialpolitischen Maßnahmen geht das Bestreben hervor, die Differenzen mit England, die schon Bismarcks Politik bedroht hatten, aus der Welt zu schaffen, weil er den Wert der Kolonien für zu gering hielt, als daß er durch sie die Festlandspolitik erschweren lassen sollte, kurz, Caprivi war in der überseeischen Politik der extreme Bismarck — aber ohne diplomatische Hülle. Wie groß auch die Verdienste Caprivis um Handel und Industrie sind, denen er durch seine Handelsverträge ein weit- schnueudeö sicheres Arbeiten ermöglichte, für die Kolonialpolitik und das größere Deutschland war er ein Unglück. polnische Politik 2. Russen und Polen chen wir uns nun an der Hand des im vorigen Abschnitt ge¬ nannten Buchs die Erfolge an, die Rußland seinen Polen gegen¬ über in der Verrnssnng erzielt hat. Denn wie oft man ans russischem Munde mich schon gehört hat, man beabsichtige gar nicht, die Polen zu Russen zu machen, so ist es dennoch that¬ sächlich das erstrebte Ziel. Oder was hieße es denn sonst, wenn der Verfasser erklärt, es handle sich bloß um eine Ausrottung der polnischen Besonderheiten, die die Polen von Rußland scheiden (S. 16)? Wenn das gelänge, was bliebe denn da noch polnisch am Polen außer etwa eine besondre Barttrncht und ein andres Temperament? Alles besondre am Polen ist eben das Polnische, das ihn vom Russen wie vom Deutsche» scheidet, und das er sich nicht nehmen zu lassen entschlossen ist. Der Verfasser weist die russischen Stimmen zurück, die die russische Auf¬ gabe in Polen-Litauen für gelöst, die russische Herrschaft für genügend befestigt halten, um sich nun ganz der großen Sache im Osten zu widmen. Er hält die Aufgabe keineswegs für gelöst; und wenn er sie so faßt, wie ich es oben angedeutet habe, dann freilich scheint mir, daß sie noch vom A an bis zum Z ungelöst ist. Denn der Pole ist dort so polnisch geblieben und so verschieden und geschieden von den Russen, wie er es jemals war. Posen ist weit mehr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/179>, abgerufen am 02.07.2024.