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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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bildung, Nußland steht an der Nordgrenze Irans, am Hindubisch und ain
chinesischen Meere, Frankreich ist tief verfeindet mit ihm. Und darüber hinaus
bricht die Sympathie für die Buren in ganz Europa mit so unerhörter Ein¬
mütigkeit hervor, wie es kaum jemals in ähnlichen Fällen geschehn ist, Sie
wurzelt nicht nur in dem allgemein menschlichen Mitgefühl für die schwächere
Partei, die von einem Riesen vergewaltigt werden soll, sondern ebensosehr in
der tiefen Abneigung gegen die Gewaltthätigkeit und Heuchelei, die von jeher die
britische Reichspolitik kennzeichnen, Wohl am stärksten tritt sie, abgesehen von
dem den Buren am nächsten verwandte" Holland, in Deutschland hervor. Die
Depeschen vom Kriegsschauplatze werden mit einer Ungeduld erwartet und mit
einer leidenschaftlichen Teilnahme verschlungen, als ob unsre eignen Truppen
vor dein Feinde stünden; die Sammlungen für die Buren finden überall den
lebhaftesten Anklang, und die Schuljugend spielt Buren und Engländer, wobei
niemand gern Engländer sein will, weil diese immer geschlagen werden. Es
zeigt sich mich hier wieder die alte Erfahrung: wenn sich der Deutsche für eine
politische Frage ernsthaft interessieren soll, muß er mit dem Herzen dabei sein.

Ginge es dieser öffentlichen Meinung nach, so müßten Deutschland,
Frankreich und Rußland womöglich morgen den Krieg an England erklären.
Die Regierungen müssen mit dieser Nolksstimmung rechnen, denn sie können
nicht wissen, ob sie sie nicht einst verwerten müssen, aber es sieht zunächst nicht
so aus, als ob sie ihr nachgeben würden. Frankreich weiß noch von dem
Faschodnfalle her, daß es den Engländern zur See nicht gewachsen ist, und daß
es in kolonialen Fragen nicht ans den Beistand Rußlands zählen darf. Ru߬
land ist nicht mir durch die von ihm misgegnngne Veranstaltung des Friedens¬
kongresses einigermaßen gebunden, sondern seine sibirische Eisenbahn braucht
noch Jahre zur Vollendung, und seinen Weg nach dem offnen Indischen Ozean
scheint es jetzt mehr durch die wirtschaftliche Eroberung Persiens als durch
einen Alexanderzug nach Indien zu suchen. Möglich, daß beide Mächte zu¬
nächst an einen gemeinsamen Schritt zu Gunsten der Buren gedacht haben,
dann ist Dentschland dafür nicht zu haben gewesen.

Es giebt bei uns genng Stimmen, die der Reichsregierung, also vor allem
dem Kaiser, aus dieser kühlen, reservierten Haltung einen Vorwurf machen und
darauf hinweisen, daß Fürst Bismarck immer vor einem engern Einvernehmen
mit England gewarnt habe, weil uns das der Gefahr einer Entfremdung
Rußlands aussetze. Nun, es kann offenbar weder von dem einen noch von
der andern die Rede sein. Vor seiner Rückkehr nach Rußland hat der Zar
in Potsdam eine" mehrtägige" Besuch gemacht, und wenn dann unser Kaiser
den längst beabsichtigten Familienbesuch in England abgestattet hat, so sollte
man sich sagen, daß es eine unverkennbare Unfreundlichkeit gegen England
gewesen wäre, wenn er ihn unterlassen hätte, zumal jetzt, nachdem soeben der
Samoavertrng abgeschlossen worden war. Eben dieser ist offenbar anch der
Grund für die Unterredung des Kaisers mit Chmnberlmn gewesen. Zum
Überfluß hat auch noch Graf Bülow am 11. Dezember das unverantwortliche


bildung, Nußland steht an der Nordgrenze Irans, am Hindubisch und ain
chinesischen Meere, Frankreich ist tief verfeindet mit ihm. Und darüber hinaus
bricht die Sympathie für die Buren in ganz Europa mit so unerhörter Ein¬
mütigkeit hervor, wie es kaum jemals in ähnlichen Fällen geschehn ist, Sie
wurzelt nicht nur in dem allgemein menschlichen Mitgefühl für die schwächere
Partei, die von einem Riesen vergewaltigt werden soll, sondern ebensosehr in
der tiefen Abneigung gegen die Gewaltthätigkeit und Heuchelei, die von jeher die
britische Reichspolitik kennzeichnen, Wohl am stärksten tritt sie, abgesehen von
dem den Buren am nächsten verwandte» Holland, in Deutschland hervor. Die
Depeschen vom Kriegsschauplatze werden mit einer Ungeduld erwartet und mit
einer leidenschaftlichen Teilnahme verschlungen, als ob unsre eignen Truppen
vor dein Feinde stünden; die Sammlungen für die Buren finden überall den
lebhaftesten Anklang, und die Schuljugend spielt Buren und Engländer, wobei
niemand gern Engländer sein will, weil diese immer geschlagen werden. Es
zeigt sich mich hier wieder die alte Erfahrung: wenn sich der Deutsche für eine
politische Frage ernsthaft interessieren soll, muß er mit dem Herzen dabei sein.

Ginge es dieser öffentlichen Meinung nach, so müßten Deutschland,
Frankreich und Rußland womöglich morgen den Krieg an England erklären.
Die Regierungen müssen mit dieser Nolksstimmung rechnen, denn sie können
nicht wissen, ob sie sie nicht einst verwerten müssen, aber es sieht zunächst nicht
so aus, als ob sie ihr nachgeben würden. Frankreich weiß noch von dem
Faschodnfalle her, daß es den Engländern zur See nicht gewachsen ist, und daß
es in kolonialen Fragen nicht ans den Beistand Rußlands zählen darf. Ru߬
land ist nicht mir durch die von ihm misgegnngne Veranstaltung des Friedens¬
kongresses einigermaßen gebunden, sondern seine sibirische Eisenbahn braucht
noch Jahre zur Vollendung, und seinen Weg nach dem offnen Indischen Ozean
scheint es jetzt mehr durch die wirtschaftliche Eroberung Persiens als durch
einen Alexanderzug nach Indien zu suchen. Möglich, daß beide Mächte zu¬
nächst an einen gemeinsamen Schritt zu Gunsten der Buren gedacht haben,
dann ist Dentschland dafür nicht zu haben gewesen.

Es giebt bei uns genng Stimmen, die der Reichsregierung, also vor allem
dem Kaiser, aus dieser kühlen, reservierten Haltung einen Vorwurf machen und
darauf hinweisen, daß Fürst Bismarck immer vor einem engern Einvernehmen
mit England gewarnt habe, weil uns das der Gefahr einer Entfremdung
Rußlands aussetze. Nun, es kann offenbar weder von dem einen noch von
der andern die Rede sein. Vor seiner Rückkehr nach Rußland hat der Zar
in Potsdam eine» mehrtägige» Besuch gemacht, und wenn dann unser Kaiser
den längst beabsichtigten Familienbesuch in England abgestattet hat, so sollte
man sich sagen, daß es eine unverkennbare Unfreundlichkeit gegen England
gewesen wäre, wenn er ihn unterlassen hätte, zumal jetzt, nachdem soeben der
Samoavertrng abgeschlossen worden war. Eben dieser ist offenbar anch der
Grund für die Unterredung des Kaisers mit Chmnberlmn gewesen. Zum
Überfluß hat auch noch Graf Bülow am 11. Dezember das unverantwortliche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/11>, abgerufen am 30.06.2024.