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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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begreifen. Sie sehe" den Ruf ihrer militärischen llberlegeuheit, ans dein ihre
Weltherrschaft wesentlich beruht, durch unaufhörliche blutige Niederlagen auf
dem eignen Boden erschüttert oder vernichtet, sie sehen ihre Generale einen nach
dem andern sich abnutzen, sie sehen den wachsenden Aufstand der Buren im
Kaplande, der ihnen den Boden unter den Fiißen wegzieht. Was sie an
vorhandnen Truppen noch nach Südafrika werfen können, das füllt kaum die
klaffenden Lücken ihrer Regimenter und ist wertloses Volk, und was die austra¬
lische" und kanadischen Koloninllnnde senden, das hat eine so geringe Stärke,
daß es gar nicht inS Gewicht fällt. Auch wenn jetzt die Milizen ausgeboten
und Freiwillige aufgerufen werden, so sind das keine geschulten Truppen, und
England hat weder zu ihrer Ausbildung noch zu ihrer Ausrüstung die Mittel
bereit. Grell treten die Früchte einer jahrhundertelangen vielbewunderte" Ent¬
wicklung zu Tage. Der Mangel eines starken, auf der allgemeinen Wehr¬
pflicht beruhenden Heeres, worin die Engländer seit zweihundert Jahren ein
Palladium ihrer bürgerlichen Freiheit sehen, und das energische Gefühl für
persönliche Unabhängigkeit erweisen sich jetzt als eine tödliche Schwäche ihres
Staatswesens. Schon jetzt darf man sagen: mit diesem Heerwesen, mit dieser
völlig veralteten Taktik werden sie die Buren niemals überwinden und den
Verlust Südafrikas, der den Zusammenbruch ihrer Weltherrschaft einleiten kann,
nicht abwenden. Die Frage ist nur, ob sich dieses Heerwesen in absehbarer
Zeit ändern läßt, ob dieses gänzlich unmilitärische Volk, in dessen Augen der
rote Rock nicht ein Ehrenkleid ist, sondern eine Schande, "ud das hosfärtig
wähnte, sein Reich mit dem erkauften Blute seiner Verlornen Söhne behaupten
zu können, die Last des persönlichen Wehrdienstes auf sich nehmen wird, und
ob, auch wenn dies im Mutterlande geschieht, sich die Kolonien dieselbe Last
auflegen lassen werden. Bald wird es selbst in jenem Falle klar werden, daß
das englische Volk, das keinen Banernslnnd mehr hat, gar kein modernes Heer
mehr aufbringen kann, und daß es mit seinen 40 Millionen (das unsichre
Irland mitgerechnet) nicht menschenreich genug ist, ferner die Herrschaft über
die Hunderte von Millionen Menschen außerhalb Europas gegen die Un¬
zufriedenheit der Unterthanen und gegen auswärtige Bedrohung mit den
Waffen behaupten zu können, wie es einst Holland an sich erfahren hat.
Denn Männer schlagen die Schlachten, nicht das Gold.

Allerdings, England hat schon genug schwere Krisen siegreich überstanden.
Es hat vor hundert Jahren Napoleon I. die Wage gehalten, vor vierzig Jahren
die indische Empörung in verzweifelten .Kämpfen niedergeschlagen. Aber heute
ist die Weltlage viel ungünstiger als damals. Gegen Napoleon I. fand Eng¬
land für sein Gold immer wieder festländische Bu"desgenvssen, die ihm die
Last des Kampfs abnahmen, heutzutage ist keine festländische Macht um eng¬
lische Subsidien zu haben. In Indien standen die Briten mir fanatischen
Orientalen gegenüber, Nußland hatte damals Nieder in Turkestan, noch in der
Mongolei Fuß gefaßt, und Frankreich war halb und halb Englands Bundes¬
genosse; heute kämpft England mit Gegnern europäischer Abkunft und Aus-


begreifen. Sie sehe» den Ruf ihrer militärischen llberlegeuheit, ans dein ihre
Weltherrschaft wesentlich beruht, durch unaufhörliche blutige Niederlagen auf
dem eignen Boden erschüttert oder vernichtet, sie sehen ihre Generale einen nach
dem andern sich abnutzen, sie sehen den wachsenden Aufstand der Buren im
Kaplande, der ihnen den Boden unter den Fiißen wegzieht. Was sie an
vorhandnen Truppen noch nach Südafrika werfen können, das füllt kaum die
klaffenden Lücken ihrer Regimenter und ist wertloses Volk, und was die austra¬
lische» und kanadischen Koloninllnnde senden, das hat eine so geringe Stärke,
daß es gar nicht inS Gewicht fällt. Auch wenn jetzt die Milizen ausgeboten
und Freiwillige aufgerufen werden, so sind das keine geschulten Truppen, und
England hat weder zu ihrer Ausbildung noch zu ihrer Ausrüstung die Mittel
bereit. Grell treten die Früchte einer jahrhundertelangen vielbewunderte» Ent¬
wicklung zu Tage. Der Mangel eines starken, auf der allgemeinen Wehr¬
pflicht beruhenden Heeres, worin die Engländer seit zweihundert Jahren ein
Palladium ihrer bürgerlichen Freiheit sehen, und das energische Gefühl für
persönliche Unabhängigkeit erweisen sich jetzt als eine tödliche Schwäche ihres
Staatswesens. Schon jetzt darf man sagen: mit diesem Heerwesen, mit dieser
völlig veralteten Taktik werden sie die Buren niemals überwinden und den
Verlust Südafrikas, der den Zusammenbruch ihrer Weltherrschaft einleiten kann,
nicht abwenden. Die Frage ist nur, ob sich dieses Heerwesen in absehbarer
Zeit ändern läßt, ob dieses gänzlich unmilitärische Volk, in dessen Augen der
rote Rock nicht ein Ehrenkleid ist, sondern eine Schande, »ud das hosfärtig
wähnte, sein Reich mit dem erkauften Blute seiner Verlornen Söhne behaupten
zu können, die Last des persönlichen Wehrdienstes auf sich nehmen wird, und
ob, auch wenn dies im Mutterlande geschieht, sich die Kolonien dieselbe Last
auflegen lassen werden. Bald wird es selbst in jenem Falle klar werden, daß
das englische Volk, das keinen Banernslnnd mehr hat, gar kein modernes Heer
mehr aufbringen kann, und daß es mit seinen 40 Millionen (das unsichre
Irland mitgerechnet) nicht menschenreich genug ist, ferner die Herrschaft über
die Hunderte von Millionen Menschen außerhalb Europas gegen die Un¬
zufriedenheit der Unterthanen und gegen auswärtige Bedrohung mit den
Waffen behaupten zu können, wie es einst Holland an sich erfahren hat.
Denn Männer schlagen die Schlachten, nicht das Gold.

Allerdings, England hat schon genug schwere Krisen siegreich überstanden.
Es hat vor hundert Jahren Napoleon I. die Wage gehalten, vor vierzig Jahren
die indische Empörung in verzweifelten .Kämpfen niedergeschlagen. Aber heute
ist die Weltlage viel ungünstiger als damals. Gegen Napoleon I. fand Eng¬
land für sein Gold immer wieder festländische Bu»desgenvssen, die ihm die
Last des Kampfs abnahmen, heutzutage ist keine festländische Macht um eng¬
lische Subsidien zu haben. In Indien standen die Briten mir fanatischen
Orientalen gegenüber, Nußland hatte damals Nieder in Turkestan, noch in der
Mongolei Fuß gefaßt, und Frankreich war halb und halb Englands Bundes¬
genosse; heute kämpft England mit Gegnern europäischer Abkunft und Aus-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/10>, abgerufen am 30.06.2024.