Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Leiden und Schlechtigkeit und voll tapfern Widerstands gegen beides. Freilich Maßgebliches und Unmaßgebliches Leiden und Schlechtigkeit und voll tapfern Widerstands gegen beides. Freilich <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0634" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/231804"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_2076" prev="#ID_2075" next="#ID_2077"> Leiden und Schlechtigkeit und voll tapfern Widerstands gegen beides. Freilich<lb/> können wir uns eben deswegen — das ist der schwächste Punkt in dem gegen den<lb/> Atheismus zu verteidigenden theistischeu Bollwerk — keine Vorstellung vom Himmel<lb/> machen. Der Himmel unsrer Sonntagsschulen, schreibt James Seite 146, „mit<lb/> seinen weißen Gewändern und seinen Harfenklängen steht in dieser Hinsicht in<lb/> einer Reihe mit dem francuhnften Theetischelysium, welches Spencer in seinem<lb/> Dat» ol Mtlies als das Endziel der fortschreitenden Entwicklung hinstellt. ^asÄimu<lb/> vitcce ist das einzige Gefühl, das solche Schlaraffenländer in unsrer Brust erwecken." —<lb/> Dem tapfern Christen lassen wir den leidenschaftlichen Feind des Christentums,<lb/> Nietzsche, folgen. Mit ihm haben wir uns voriges Jahr ausführlich anseinnnder-<lb/> gesetzt. Das kleine Buch: Die Philosophie Friedrich Nietzsches von Henri<lb/> Lichtenberger, Professor an der Universität Nancy, eingeleitet und übersetzt von<lb/> Elisabeth Förster-Nietzsche (Dresden und Leipzig, Karl Rechner, 1899) hat<lb/> unser Urteil in keinem Punkte geändert. Es zeigt sich in dieser kurzen Zusammen¬<lb/> fassung der Nietzschischen Spekulationen und Phantasien nur um so deutlicher, worin<lb/> die Krankheit Nietzsches besteht: an der Ich-Sucht ist er zu Grunde gegangen.<lb/> Nicht am Egoismus im gewöhnlichen Sinne des Wortes; sinnliche Genüsse z. B.<lb/> hat er niemals gesucht. Aber er sah und suchte in allem und in allen, z. B. in<lb/> Schopenhauer und in Wagner, nnr sich selbst; sich selbst erkennen und vollenden<lb/> war sein Lebensziel. Höchst sokratisch, höchst christlich! Obwohl er ein Todfeind<lb/> des Sokrates und des Christentums war. Vielleicht ist er das gerade dndnrch<lb/> geworden, daß er fühlte, wie thu dieses gefährliche Element des Sokratismus und<lb/> des Christentums ius Verderben zog. Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit,<lb/> auch wenn sie den Tod brächte, wollte er anfangs: d. h. er wollte in die Sonne<lb/> schauen, anstatt die von der Sonne beleuchteten Gegenstände zu beschauen, sich selber<lb/> wollte er schauen, während der Mensch sich stets unsichtbar bleibt und gleich dem<lb/> Auge nnr darauf eingerichtet ist, die Dinge außer ihm zu schauen. Dann, als er<lb/> merkte, daß es nicht ginge, wollte er nicht mehr die Wahrheit, sondern das Leben<lb/> um jeden Preis, auch um den, statt der Wahrheit nur Illusionen zu finden. Da<lb/> aber der Mensch nun einmal nicht absolut, sondern nur ein bedingtes Wesen, nicht<lb/> Gott, sondern Gottes Geschöpf ist, so erwies sich anch das Unternehmen, den eignen<lb/> Willen zu verwirklichen, als eitel, und nun wollte er über sich selbst und die Natur<lb/> hinaus, wollte den Übermenschen verwirklichen oder wenigstens vorbereiten. Der<lb/> Übermensch aber, wenn mau uicht einen ganz gewöhnlichen Unmenschen darunter<lb/> versteht, ist ein undefinierbares Unding. Die Welt so erkennen wollen, wie sie ihr<lb/> Schöpfer erkennt, und wenn man sieht, daß das nicht geht, aus der nun einmal<lb/> gesetzten Weltordnung hinauswollen, ist ein wahnsinniges Unternehmen, das, wenn<lb/> der Grübler nicht durch wohlthätigen äußern Zwang abgelenkt wird, unvermeidlich<lb/> zum Wahnsinn führt. Das vierte Evangelium liebt den Ausdruck: die Wahrheit<lb/> thun. Das bedeutet ohne Zweifel: durch Thun die echte Menschennatur, die gött¬<lb/> liche Idee vom Menschen verwirklichen. Die Menschennatur besteht eben darin,<lb/> daß der Mensch durch Wirken sür andre, wobei er nicht an sich selbst, sondern in<lb/> Liebe an diese andern denkt, sich selbst und Gott findet. Und bei solcher Selbst-<lb/> Verwirklichung findet ein jeder auch so viel theoretische Wahrheit, als er braucht<lb/> und fassen kann. Was Nietzsche mit der Herausgabe seiner Schriften für andre<lb/> gethan hat, ist von höchst zweifelhaftem Wert, eine Art Pandoragabe. Wer in<lb/> seinem theistischer Glauben feststeht und es zu einem festen Charakter gebracht hat,<lb/> der liest Nietzsche mit Nutze», denn es giebt wenig alte Wahrheiten, über die der<lb/> geistreiche Mann nicht neues Licht verbreitet hätte. Für den Jüngling von un-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0634]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Leiden und Schlechtigkeit und voll tapfern Widerstands gegen beides. Freilich
können wir uns eben deswegen — das ist der schwächste Punkt in dem gegen den
Atheismus zu verteidigenden theistischeu Bollwerk — keine Vorstellung vom Himmel
machen. Der Himmel unsrer Sonntagsschulen, schreibt James Seite 146, „mit
seinen weißen Gewändern und seinen Harfenklängen steht in dieser Hinsicht in
einer Reihe mit dem francuhnften Theetischelysium, welches Spencer in seinem
Dat» ol Mtlies als das Endziel der fortschreitenden Entwicklung hinstellt. ^asÄimu
vitcce ist das einzige Gefühl, das solche Schlaraffenländer in unsrer Brust erwecken." —
Dem tapfern Christen lassen wir den leidenschaftlichen Feind des Christentums,
Nietzsche, folgen. Mit ihm haben wir uns voriges Jahr ausführlich anseinnnder-
gesetzt. Das kleine Buch: Die Philosophie Friedrich Nietzsches von Henri
Lichtenberger, Professor an der Universität Nancy, eingeleitet und übersetzt von
Elisabeth Förster-Nietzsche (Dresden und Leipzig, Karl Rechner, 1899) hat
unser Urteil in keinem Punkte geändert. Es zeigt sich in dieser kurzen Zusammen¬
fassung der Nietzschischen Spekulationen und Phantasien nur um so deutlicher, worin
die Krankheit Nietzsches besteht: an der Ich-Sucht ist er zu Grunde gegangen.
Nicht am Egoismus im gewöhnlichen Sinne des Wortes; sinnliche Genüsse z. B.
hat er niemals gesucht. Aber er sah und suchte in allem und in allen, z. B. in
Schopenhauer und in Wagner, nnr sich selbst; sich selbst erkennen und vollenden
war sein Lebensziel. Höchst sokratisch, höchst christlich! Obwohl er ein Todfeind
des Sokrates und des Christentums war. Vielleicht ist er das gerade dndnrch
geworden, daß er fühlte, wie thu dieses gefährliche Element des Sokratismus und
des Christentums ius Verderben zog. Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit,
auch wenn sie den Tod brächte, wollte er anfangs: d. h. er wollte in die Sonne
schauen, anstatt die von der Sonne beleuchteten Gegenstände zu beschauen, sich selber
wollte er schauen, während der Mensch sich stets unsichtbar bleibt und gleich dem
Auge nnr darauf eingerichtet ist, die Dinge außer ihm zu schauen. Dann, als er
merkte, daß es nicht ginge, wollte er nicht mehr die Wahrheit, sondern das Leben
um jeden Preis, auch um den, statt der Wahrheit nur Illusionen zu finden. Da
aber der Mensch nun einmal nicht absolut, sondern nur ein bedingtes Wesen, nicht
Gott, sondern Gottes Geschöpf ist, so erwies sich anch das Unternehmen, den eignen
Willen zu verwirklichen, als eitel, und nun wollte er über sich selbst und die Natur
hinaus, wollte den Übermenschen verwirklichen oder wenigstens vorbereiten. Der
Übermensch aber, wenn mau uicht einen ganz gewöhnlichen Unmenschen darunter
versteht, ist ein undefinierbares Unding. Die Welt so erkennen wollen, wie sie ihr
Schöpfer erkennt, und wenn man sieht, daß das nicht geht, aus der nun einmal
gesetzten Weltordnung hinauswollen, ist ein wahnsinniges Unternehmen, das, wenn
der Grübler nicht durch wohlthätigen äußern Zwang abgelenkt wird, unvermeidlich
zum Wahnsinn führt. Das vierte Evangelium liebt den Ausdruck: die Wahrheit
thun. Das bedeutet ohne Zweifel: durch Thun die echte Menschennatur, die gött¬
liche Idee vom Menschen verwirklichen. Die Menschennatur besteht eben darin,
daß der Mensch durch Wirken sür andre, wobei er nicht an sich selbst, sondern in
Liebe an diese andern denkt, sich selbst und Gott findet. Und bei solcher Selbst-
Verwirklichung findet ein jeder auch so viel theoretische Wahrheit, als er braucht
und fassen kann. Was Nietzsche mit der Herausgabe seiner Schriften für andre
gethan hat, ist von höchst zweifelhaftem Wert, eine Art Pandoragabe. Wer in
seinem theistischer Glauben feststeht und es zu einem festen Charakter gebracht hat,
der liest Nietzsche mit Nutze», denn es giebt wenig alte Wahrheiten, über die der
geistreiche Mann nicht neues Licht verbreitet hätte. Für den Jüngling von un-
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