Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches ist eine Ansicht, die wir nur in sehr primitiven Religionen finden, wie in jener Grenzboten III 1899 79
Maßgebliches und Unmaßgebliches ist eine Ansicht, die wir nur in sehr primitiven Religionen finden, wie in jener Grenzboten III 1899 79
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0633" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/231803"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_2075" prev="#ID_2074" next="#ID_2076"> ist eine Ansicht, die wir nur in sehr primitiven Religionen finden, wie in jener<lb/> der ältesten Juden/' So sagt William James, Professor der Universität Harvard,<lb/> in einem der Vorträge, die Dr. Th. Lorenz übersehe und unter dem Titel: Der<lb/> Wille zum Glauben und andre popularphilosvphische Essays, mit einem Geleit¬<lb/> wort von Professor or. Fr. Paulsen (bei E. Hauff in Stuttgart, 1899) heraus¬<lb/> gegeben hat. Wer nur die erste Abhandlung liest, wird die Überhebung für über¬<lb/> flüssig halten, weil das alles von deutschen Denkern schon weit besser gesagt worden<lb/> ist, aber die andern vier enthalten viel Originelles und Beachtenswertes. Der<lb/> Grundgedanke, um den sich die Betrachtungen von James bewegen, ist der, daß<lb/> alle Theorien, auch die streng wissenschaftlichen, unsicher sind, daß ihre Annahme<lb/> oder Ablehnung vom Willen, von der Gemiitsrichtnng eines jeden abhängt, also<lb/> ein Glaubeusakt ist, daß sich nur geistige Nullen einem solchen Glaubeusakt ent¬<lb/> ziehen können, daß es vernünftig ist, sich sür eiuen Glauben zu entscheiden, der<lb/> das Leben fördert und den Menschen beglückt, und daß der christliche Glaube ein<lb/> solcher ist. Wir sollen daher den Mut zum Glauben haben, wie eiuer, der sich in<lb/> deu Bergen verstiegen hat, den Mut zu einem gefährlichen Sprunge haben soll,<lb/> wenn ihn nur ein solcher retten kann; der Mut giebt die Kraft zum Sprunge.<lb/> Wie man den Mut zum Glauben haben soll, so soll man auch den zum Leben<lb/> haben. Dem Abergläubische» benehme gerade die Gewissensangst oft den Lebensmut<lb/> und treibe ihn zum Selbstmord. Die Emanzipation durch Freigeisterei sei also bis<lb/> zu einem gewissen Grade nützlich, d. h. bis sie nicht in den Aberglauben an eine<lb/> unerbittliche und unabänderliche, gegen alles gleichgiltige und alles zermalmende<lb/> Naturordnung umschlägt. Man solle weder aus Gott noch aus der Natur einen<lb/> furchtbaren Götzen machen. Wer ganz kaltblütig überlege, daß es ihm frei stehe,<lb/> in jedem Augenblick, wo es ihm beliebt, aus dem Leben zu scheiden, wen nicht die<lb/> Angst vor dem vermeintlich Ungeheuerlichen der That um die Fassung bringe, der<lb/> werde wahrscheinlich am Leben bleiben. Er werde sich vielleicht sagen: Willst doch<lb/> vorher sehen, was die nächste Zeitung bringt! und so werde ihn die bloße Neugier,<lb/> die Erwartung des Kommenden, die That von einem Tag ans den andern zu ver¬<lb/> schieben veranlassen. Dann möge jeder, der sich über unerträgliche Leiden beschwert,<lb/> bedenke», wie unanständig es wäre, in einer Welt, wo es so viel Leiden giebt,<lb/> allein ohne alles Leiden durchschlüpfen zu wollen. Wer aber zu den Mutigen ge¬<lb/> höre, der denke schon gar nicht an Selbstmord; ihm bereite es gerade Genuß, die<lb/> Widerstände kämpfend zu überwinden. Von den Waldenseru, die zu Tausenden hin¬<lb/> geschlachtet worden seien, und zwar zum Teil nach unerhörten Martern, habe kein<lb/> einziger weder an Selbstmord noch an Nachgiebigkeit gedacht. Dazu bemerken wir,<lb/> daß gerade ein Blick auf die heroischen Zeitalter die Zunahme der Selbstmorde<lb/> in heutiger Zeit erklärt. Wirklicher Kampf weckt den Mut und die Kampflust.<lb/> Wer Wunden empfängt mit der Aussicht, dem Gegner wieder Wunden schlagen zu<lb/> können, der denkt natürlich nicht an Selbstmord. Was in unsrer durchaus un¬<lb/> heroischen Zeit zum Selbstmord treibt, das ist die Unmöglichkeit eines wirklichen<lb/> Kampfes, die Zumutung, Tag für Tag denselben Druck unleidlicher Verhältnisse<lb/> aushalten zu sollen ohne Abwechslung, ohne den Versuch eines offnen Widerstands<lb/> und ohne Aussicht auf Besserung. Die unleidlichen Verhältnisse brauchen nicht<lb/> gerade in Hunger und Prügeln zu bestehn. Eine vornehme Dame soll sich ent¬<lb/> leibt haben, weil ihr der Zwang, täglich viermal Toilette — und sonst nichts —<lb/> machen zu müssen, unerträglich war. Aber darin hat James gegen die Pessimisten<lb/> recht, daß eine Welt ohne Übel, die zugleich eine Welt ohne Mut, Energie und<lb/> Kampf, eine Welt ohne Charaktere wäre, schlechter sein würde als unsre Welt voll</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 1899 79</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0633]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
ist eine Ansicht, die wir nur in sehr primitiven Religionen finden, wie in jener
der ältesten Juden/' So sagt William James, Professor der Universität Harvard,
in einem der Vorträge, die Dr. Th. Lorenz übersehe und unter dem Titel: Der
Wille zum Glauben und andre popularphilosvphische Essays, mit einem Geleit¬
wort von Professor or. Fr. Paulsen (bei E. Hauff in Stuttgart, 1899) heraus¬
gegeben hat. Wer nur die erste Abhandlung liest, wird die Überhebung für über¬
flüssig halten, weil das alles von deutschen Denkern schon weit besser gesagt worden
ist, aber die andern vier enthalten viel Originelles und Beachtenswertes. Der
Grundgedanke, um den sich die Betrachtungen von James bewegen, ist der, daß
alle Theorien, auch die streng wissenschaftlichen, unsicher sind, daß ihre Annahme
oder Ablehnung vom Willen, von der Gemiitsrichtnng eines jeden abhängt, also
ein Glaubeusakt ist, daß sich nur geistige Nullen einem solchen Glaubeusakt ent¬
ziehen können, daß es vernünftig ist, sich sür eiuen Glauben zu entscheiden, der
das Leben fördert und den Menschen beglückt, und daß der christliche Glaube ein
solcher ist. Wir sollen daher den Mut zum Glauben haben, wie eiuer, der sich in
deu Bergen verstiegen hat, den Mut zu einem gefährlichen Sprunge haben soll,
wenn ihn nur ein solcher retten kann; der Mut giebt die Kraft zum Sprunge.
Wie man den Mut zum Glauben haben soll, so soll man auch den zum Leben
haben. Dem Abergläubische» benehme gerade die Gewissensangst oft den Lebensmut
und treibe ihn zum Selbstmord. Die Emanzipation durch Freigeisterei sei also bis
zu einem gewissen Grade nützlich, d. h. bis sie nicht in den Aberglauben an eine
unerbittliche und unabänderliche, gegen alles gleichgiltige und alles zermalmende
Naturordnung umschlägt. Man solle weder aus Gott noch aus der Natur einen
furchtbaren Götzen machen. Wer ganz kaltblütig überlege, daß es ihm frei stehe,
in jedem Augenblick, wo es ihm beliebt, aus dem Leben zu scheiden, wen nicht die
Angst vor dem vermeintlich Ungeheuerlichen der That um die Fassung bringe, der
werde wahrscheinlich am Leben bleiben. Er werde sich vielleicht sagen: Willst doch
vorher sehen, was die nächste Zeitung bringt! und so werde ihn die bloße Neugier,
die Erwartung des Kommenden, die That von einem Tag ans den andern zu ver¬
schieben veranlassen. Dann möge jeder, der sich über unerträgliche Leiden beschwert,
bedenke», wie unanständig es wäre, in einer Welt, wo es so viel Leiden giebt,
allein ohne alles Leiden durchschlüpfen zu wollen. Wer aber zu den Mutigen ge¬
höre, der denke schon gar nicht an Selbstmord; ihm bereite es gerade Genuß, die
Widerstände kämpfend zu überwinden. Von den Waldenseru, die zu Tausenden hin¬
geschlachtet worden seien, und zwar zum Teil nach unerhörten Martern, habe kein
einziger weder an Selbstmord noch an Nachgiebigkeit gedacht. Dazu bemerken wir,
daß gerade ein Blick auf die heroischen Zeitalter die Zunahme der Selbstmorde
in heutiger Zeit erklärt. Wirklicher Kampf weckt den Mut und die Kampflust.
Wer Wunden empfängt mit der Aussicht, dem Gegner wieder Wunden schlagen zu
können, der denkt natürlich nicht an Selbstmord. Was in unsrer durchaus un¬
heroischen Zeit zum Selbstmord treibt, das ist die Unmöglichkeit eines wirklichen
Kampfes, die Zumutung, Tag für Tag denselben Druck unleidlicher Verhältnisse
aushalten zu sollen ohne Abwechslung, ohne den Versuch eines offnen Widerstands
und ohne Aussicht auf Besserung. Die unleidlichen Verhältnisse brauchen nicht
gerade in Hunger und Prügeln zu bestehn. Eine vornehme Dame soll sich ent¬
leibt haben, weil ihr der Zwang, täglich viermal Toilette — und sonst nichts —
machen zu müssen, unerträglich war. Aber darin hat James gegen die Pessimisten
recht, daß eine Welt ohne Übel, die zugleich eine Welt ohne Mut, Energie und
Kampf, eine Welt ohne Charaktere wäre, schlechter sein würde als unsre Welt voll
Grenzboten III 1899 79
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