Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.Lin Tag bei Tolstoi und mit einemmal waren wir im herrlichsten Grün am Ufer eines von Weiden Ein Diener meldete unsre Ankunft dem Hausherrn. In frühern Jahren Er kam sogleich aus seinem Arbeitszimmer und streckte uns beide Hände Er führte uns auf eine mit herrlichen Schlingpflanzen geschmückte Galerie, Jetzt trat die Gemahlin Tolstojs mit ihrer ältesten Tochter ins Zimmer, Die Familie Tolstoj führt in Jasnaja das friedlichste, gesündeste Leben. Um zwei Uhr rief uns die Mittagsglocke wieder auf die Galerie. Tolstoj Sämtliche Zimmer zeugten von großer Einfachheit und peinlichster Ord¬ Lin Tag bei Tolstoi und mit einemmal waren wir im herrlichsten Grün am Ufer eines von Weiden Ein Diener meldete unsre Ankunft dem Hausherrn. In frühern Jahren Er kam sogleich aus seinem Arbeitszimmer und streckte uns beide Hände Er führte uns auf eine mit herrlichen Schlingpflanzen geschmückte Galerie, Jetzt trat die Gemahlin Tolstojs mit ihrer ältesten Tochter ins Zimmer, Die Familie Tolstoj führt in Jasnaja das friedlichste, gesündeste Leben. Um zwei Uhr rief uns die Mittagsglocke wieder auf die Galerie. Tolstoj Sämtliche Zimmer zeugten von großer Einfachheit und peinlichster Ord¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0619" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/231789"/> <fw type="header" place="top"> Lin Tag bei Tolstoi</fw><lb/> <p xml:id="ID_2019" prev="#ID_2018"> und mit einemmal waren wir im herrlichsten Grün am Ufer eines von Weiden<lb/> und uralten Eichen eingeschlossenen Waldsees. Der Kutscher hielt vor einem<lb/> altertümlichen Landhaus. Wir waren bei Tolstoj.</p><lb/> <p xml:id="ID_2020"> Ein Diener meldete unsre Ankunft dem Hausherrn. In frühern Jahren<lb/> war die Sache umstündlicher, wenn sich dieser im Felde mit Pflügen oder<lb/> ähnlichen körperlichen Arbeiten beschäftigte; aber jetzt hat er sie auf ärztlichen<lb/> Wunsch unterlassen müssen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2021"> Er kam sogleich aus seinem Arbeitszimmer und streckte uns beide Hände<lb/> zu herzlichem Empfang entgegen. Seine Kleidung war einfach. Er trug<lb/> eine lange grauleinene Bluse, die um die Hüften durch einen schwarzledernen<lb/> Gurt zusammengehalten wurde. Tolstoj ist in seiner Erscheinung der aus-<lb/> gesprochne Typus eines Russen. Sein charakteristisches, von einem weißen<lb/> Bart eingerahmtes Gesicht wird durch blaue frische Augen belebt, die von<lb/> buschigen Brauen überschattet sind. Seine große breite Stirn zeigt den Denker.<lb/> Er ist keineswegs groß, hält sich aber sehr aufrecht. Die Haare siud kaum<lb/> ergraut, und trotz seiner neunundsechzig Jahre macht er in seiner straffen<lb/> Haltung und seinem lebhaften Wesen einen fast jugendlichen Eindruck.</p><lb/> <p xml:id="ID_2022"> Er führte uns auf eine mit herrlichen Schlingpflanzen geschmückte Galerie,<lb/> die zugleich als Gartenhaus und Eßzimmer diente. Der Samowar dampfte<lb/> auf dem Tische, der Graf hatte Platz genommen und bat uns, uns selbst zu<lb/> bedienen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2023"> Jetzt trat die Gemahlin Tolstojs mit ihrer ältesten Tochter ins Zimmer,<lb/> die von unsrer Anwesenheit keine Ahnung hatten, aber die Bekanntschaft war<lb/> bald gemacht. Die Russen haben ein ausgesprochnes Talent sür Gastfreund¬<lb/> schaft. Man fühlt sich sofort heimisch. Die in Deutschland üblichen Kom¬<lb/> plimente und Phrasen sind dort gänzlich ausgeschlossen, und wir waren sehr<lb/> bald in einer zwanglosen gemütlichen Unterhaltung.</p><lb/> <p xml:id="ID_2024"> Die Familie Tolstoj führt in Jasnaja das friedlichste, gesündeste Leben.<lb/> Fern von dem lauten Treiben der Städte vereinigt tüchtige Arbeit Eltern<lb/> und Kinder. Jeder thut sein bestes zur Erreichung des gemeinsamen Ziels,<lb/> möglichst viel Gutes zu thun. Die Gräfin Tolstoj ist eine hochgebildete Dame,<lb/> die mit großer Energie und rastlosem Eifer das materielle Wohl der Familie<lb/> überwacht. Damit verbindet sie den vollsten Takt und die ganze Intelligenz,<lb/> die die Originalität ihres Gatten erfordert. Seine Töchter, namentlich die<lb/> älteste, zollen den Arbeiten des Vaters die größte, ehrlichste Bewunderung.<lb/> Rems farn in oorporv saw ist die Devise seiner täglichen Beschäftigung.<lb/> Der Graf steht sehr früh auf und benutzt die Morgenstunden zu schriftstelle¬<lb/> rischen Arbeiten; dann unternimmt er seine regelmäßige Wanderung nach einem<lb/> kleinen Flüßchen jenseits des Gehölzes. Hier hat er sich eine Badeanstalt er¬<lb/> richtet und widmet sich mit großem Eifer der Schwimmkunst.</p><lb/> <p xml:id="ID_2025"> Um zwei Uhr rief uns die Mittagsglocke wieder auf die Galerie. Tolstoj<lb/> ist streng bis zum Stoizismus, jedoch seinen Tischgenossen gegenüber von<lb/> größter Duldsamkeit. Er selbst ist überzeugter Vegetarianer, zwingt jedoch<lb/> selbst seine Angehörigen keineswegs, sich der Fleischnahrung zu enthalten.<lb/> Während er mit seiner ältesten Tochter, seiner treusten Schülerin, den Hunger<lb/> mit Champignons stillte, delektierten wir andern uns an einer vortrefflichen<lb/> Gans.</p><lb/> <p xml:id="ID_2026" next="#ID_2027"> Sämtliche Zimmer zeugten von großer Einfachheit und peinlichster Ord¬<lb/> nung. Besonders interessierte mich das Arbeitszimmer des Dichters, ein kleiner,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0619]
Lin Tag bei Tolstoi
und mit einemmal waren wir im herrlichsten Grün am Ufer eines von Weiden
und uralten Eichen eingeschlossenen Waldsees. Der Kutscher hielt vor einem
altertümlichen Landhaus. Wir waren bei Tolstoj.
Ein Diener meldete unsre Ankunft dem Hausherrn. In frühern Jahren
war die Sache umstündlicher, wenn sich dieser im Felde mit Pflügen oder
ähnlichen körperlichen Arbeiten beschäftigte; aber jetzt hat er sie auf ärztlichen
Wunsch unterlassen müssen.
Er kam sogleich aus seinem Arbeitszimmer und streckte uns beide Hände
zu herzlichem Empfang entgegen. Seine Kleidung war einfach. Er trug
eine lange grauleinene Bluse, die um die Hüften durch einen schwarzledernen
Gurt zusammengehalten wurde. Tolstoj ist in seiner Erscheinung der aus-
gesprochne Typus eines Russen. Sein charakteristisches, von einem weißen
Bart eingerahmtes Gesicht wird durch blaue frische Augen belebt, die von
buschigen Brauen überschattet sind. Seine große breite Stirn zeigt den Denker.
Er ist keineswegs groß, hält sich aber sehr aufrecht. Die Haare siud kaum
ergraut, und trotz seiner neunundsechzig Jahre macht er in seiner straffen
Haltung und seinem lebhaften Wesen einen fast jugendlichen Eindruck.
Er führte uns auf eine mit herrlichen Schlingpflanzen geschmückte Galerie,
die zugleich als Gartenhaus und Eßzimmer diente. Der Samowar dampfte
auf dem Tische, der Graf hatte Platz genommen und bat uns, uns selbst zu
bedienen.
Jetzt trat die Gemahlin Tolstojs mit ihrer ältesten Tochter ins Zimmer,
die von unsrer Anwesenheit keine Ahnung hatten, aber die Bekanntschaft war
bald gemacht. Die Russen haben ein ausgesprochnes Talent sür Gastfreund¬
schaft. Man fühlt sich sofort heimisch. Die in Deutschland üblichen Kom¬
plimente und Phrasen sind dort gänzlich ausgeschlossen, und wir waren sehr
bald in einer zwanglosen gemütlichen Unterhaltung.
Die Familie Tolstoj führt in Jasnaja das friedlichste, gesündeste Leben.
Fern von dem lauten Treiben der Städte vereinigt tüchtige Arbeit Eltern
und Kinder. Jeder thut sein bestes zur Erreichung des gemeinsamen Ziels,
möglichst viel Gutes zu thun. Die Gräfin Tolstoj ist eine hochgebildete Dame,
die mit großer Energie und rastlosem Eifer das materielle Wohl der Familie
überwacht. Damit verbindet sie den vollsten Takt und die ganze Intelligenz,
die die Originalität ihres Gatten erfordert. Seine Töchter, namentlich die
älteste, zollen den Arbeiten des Vaters die größte, ehrlichste Bewunderung.
Rems farn in oorporv saw ist die Devise seiner täglichen Beschäftigung.
Der Graf steht sehr früh auf und benutzt die Morgenstunden zu schriftstelle¬
rischen Arbeiten; dann unternimmt er seine regelmäßige Wanderung nach einem
kleinen Flüßchen jenseits des Gehölzes. Hier hat er sich eine Badeanstalt er¬
richtet und widmet sich mit großem Eifer der Schwimmkunst.
Um zwei Uhr rief uns die Mittagsglocke wieder auf die Galerie. Tolstoj
ist streng bis zum Stoizismus, jedoch seinen Tischgenossen gegenüber von
größter Duldsamkeit. Er selbst ist überzeugter Vegetarianer, zwingt jedoch
selbst seine Angehörigen keineswegs, sich der Fleischnahrung zu enthalten.
Während er mit seiner ältesten Tochter, seiner treusten Schülerin, den Hunger
mit Champignons stillte, delektierten wir andern uns an einer vortrefflichen
Gans.
Sämtliche Zimmer zeugten von großer Einfachheit und peinlichster Ord¬
nung. Besonders interessierte mich das Arbeitszimmer des Dichters, ein kleiner,
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