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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Briefe eines Zurückgekehrten

leads heimische Vildungs- und Parteiprotzerei dieses anthropologisch-politische
Gewächs begünstigt.

Die Verteilung der Brennpunkte der deutschen Geschichte hat über so viele
Landschaften ein Dämmerlicht großer Erinnerungen ausgegossen, daß man sagen
kann: der deutsche Boden ist von einem Ende bis zum andern geschichtlich
durchgearbeitet. Der Unterschied von den geschichtlichen Landschaften West¬
europas liegt hauptsächlich in dem raschen Wechsel der Schauplätze und dem
Mangel eines alten Macht- und Kulturmittelpunkts: keine große Kulturquelle,
aber viele kleinen, die in ihrer Art doch wieder groß sind. Manche der be¬
deutendsten Erinnerungen liegen auch so weit zurück, daß sie jahrhundertelang
fast vergessen waren. So die der sächsischen Kaiser in den Landen um den
Harz von der Unstrut bis zur Ocker.

Versetzen wir uns einmal an die mittlere Unstrut. Da schaut Memleben,
die alte sächsische Kaiserpfalz, mit satt rötlichbraunen Farben an Häusern
und Dächern und an dem ernsten massigen Quadratturm seiner Kirche aus
dem Grün der Obstgärten und über die begrasten Ufer der Unstrut her, die
hart an dem Gartenrande des dorfartigen Fleckens hinmurmelt. Von oben
blickt ein auch noch jetzt dichtbewaldetcr rundlicher Bergrücken herein. Ein
Unstrutkahn "vor Anker" zeigt, daß Memleben noch nicht ganz verkehrslvs
ist. Von der Pfalz stehn noch ein paar Pfeilerreste, und von dem Kloster,
das hart daneben lag, ein Stück Gewölbe. Nur die Pietät wird bei diesen
Resten verweilen. Der alte Ort hat im übrigen nichts Historisches an sich.
Die einfache Landkirche mit ihrem festen Turm ist aber wenigstens nicht kleinlich
wie so viele. Und wenn am "Ablaßtag," am ersten Sonntag Trinitatis,
Memleben seine Kirchweih feiert, da tanzen die jungen Leute unter der Linde
und den Kastanienbäumen, daß man den Kirchhof, einen schönen Garten um
die Kirche, ganz vergißt und nur der Lebenden gedenkt.

Vom ostwärts gewandten Söller des Klostergartens übersieht man die
Schlangenwindungen der Unstrut, hat unmittelbar vor sich den auch heute nur
einen starken Büchsenschuß vom Van entfernten Wald der Finne, einen hoch¬
stämmigen dichten Laubwald, der anch im Osten den Horizont abschließt, und
im Norden einen niedrigen, geradlinig abschneidenden Zug, der oben mit Nadel¬
holz bewaldet, unten in stärkeren Maße als die Finne in Acker und Wiesen
verwandelt ist. Von der Pfalz aus muß man den Wendelstein mit seinen in
mächtigen Mauern erhaltnen Befestigungen vor sich gehabt haben. Das alles
zusammen war eine Kulturoase und ist heute eine historische Landschaft. Der
Name Großes Ricks, den die ganz ebnen Unstrutniedernngen zwischen Artern
und Memleben führen -- Memleben liegt gerade auf dem erhöhten Rande
dieser Niederung, an den sich die Unstrut hindrängt --, scheint darauf zu
deute", daß hier eine weite sumpfige Ebne zur Austrocknung und zur Wiesen¬
wirtschaft einlud; hier war also die Arbeit des Eindringens in den Wald


Briefe eines Zurückgekehrten

leads heimische Vildungs- und Parteiprotzerei dieses anthropologisch-politische
Gewächs begünstigt.

Die Verteilung der Brennpunkte der deutschen Geschichte hat über so viele
Landschaften ein Dämmerlicht großer Erinnerungen ausgegossen, daß man sagen
kann: der deutsche Boden ist von einem Ende bis zum andern geschichtlich
durchgearbeitet. Der Unterschied von den geschichtlichen Landschaften West¬
europas liegt hauptsächlich in dem raschen Wechsel der Schauplätze und dem
Mangel eines alten Macht- und Kulturmittelpunkts: keine große Kulturquelle,
aber viele kleinen, die in ihrer Art doch wieder groß sind. Manche der be¬
deutendsten Erinnerungen liegen auch so weit zurück, daß sie jahrhundertelang
fast vergessen waren. So die der sächsischen Kaiser in den Landen um den
Harz von der Unstrut bis zur Ocker.

Versetzen wir uns einmal an die mittlere Unstrut. Da schaut Memleben,
die alte sächsische Kaiserpfalz, mit satt rötlichbraunen Farben an Häusern
und Dächern und an dem ernsten massigen Quadratturm seiner Kirche aus
dem Grün der Obstgärten und über die begrasten Ufer der Unstrut her, die
hart an dem Gartenrande des dorfartigen Fleckens hinmurmelt. Von oben
blickt ein auch noch jetzt dichtbewaldetcr rundlicher Bergrücken herein. Ein
Unstrutkahn „vor Anker" zeigt, daß Memleben noch nicht ganz verkehrslvs
ist. Von der Pfalz stehn noch ein paar Pfeilerreste, und von dem Kloster,
das hart daneben lag, ein Stück Gewölbe. Nur die Pietät wird bei diesen
Resten verweilen. Der alte Ort hat im übrigen nichts Historisches an sich.
Die einfache Landkirche mit ihrem festen Turm ist aber wenigstens nicht kleinlich
wie so viele. Und wenn am „Ablaßtag," am ersten Sonntag Trinitatis,
Memleben seine Kirchweih feiert, da tanzen die jungen Leute unter der Linde
und den Kastanienbäumen, daß man den Kirchhof, einen schönen Garten um
die Kirche, ganz vergißt und nur der Lebenden gedenkt.

Vom ostwärts gewandten Söller des Klostergartens übersieht man die
Schlangenwindungen der Unstrut, hat unmittelbar vor sich den auch heute nur
einen starken Büchsenschuß vom Van entfernten Wald der Finne, einen hoch¬
stämmigen dichten Laubwald, der anch im Osten den Horizont abschließt, und
im Norden einen niedrigen, geradlinig abschneidenden Zug, der oben mit Nadel¬
holz bewaldet, unten in stärkeren Maße als die Finne in Acker und Wiesen
verwandelt ist. Von der Pfalz aus muß man den Wendelstein mit seinen in
mächtigen Mauern erhaltnen Befestigungen vor sich gehabt haben. Das alles
zusammen war eine Kulturoase und ist heute eine historische Landschaft. Der
Name Großes Ricks, den die ganz ebnen Unstrutniedernngen zwischen Artern
und Memleben führen — Memleben liegt gerade auf dem erhöhten Rande
dieser Niederung, an den sich die Unstrut hindrängt —, scheint darauf zu
deute», daß hier eine weite sumpfige Ebne zur Austrocknung und zur Wiesen¬
wirtschaft einlud; hier war also die Arbeit des Eindringens in den Wald


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[0602] Briefe eines Zurückgekehrten leads heimische Vildungs- und Parteiprotzerei dieses anthropologisch-politische Gewächs begünstigt. Die Verteilung der Brennpunkte der deutschen Geschichte hat über so viele Landschaften ein Dämmerlicht großer Erinnerungen ausgegossen, daß man sagen kann: der deutsche Boden ist von einem Ende bis zum andern geschichtlich durchgearbeitet. Der Unterschied von den geschichtlichen Landschaften West¬ europas liegt hauptsächlich in dem raschen Wechsel der Schauplätze und dem Mangel eines alten Macht- und Kulturmittelpunkts: keine große Kulturquelle, aber viele kleinen, die in ihrer Art doch wieder groß sind. Manche der be¬ deutendsten Erinnerungen liegen auch so weit zurück, daß sie jahrhundertelang fast vergessen waren. So die der sächsischen Kaiser in den Landen um den Harz von der Unstrut bis zur Ocker. Versetzen wir uns einmal an die mittlere Unstrut. Da schaut Memleben, die alte sächsische Kaiserpfalz, mit satt rötlichbraunen Farben an Häusern und Dächern und an dem ernsten massigen Quadratturm seiner Kirche aus dem Grün der Obstgärten und über die begrasten Ufer der Unstrut her, die hart an dem Gartenrande des dorfartigen Fleckens hinmurmelt. Von oben blickt ein auch noch jetzt dichtbewaldetcr rundlicher Bergrücken herein. Ein Unstrutkahn „vor Anker" zeigt, daß Memleben noch nicht ganz verkehrslvs ist. Von der Pfalz stehn noch ein paar Pfeilerreste, und von dem Kloster, das hart daneben lag, ein Stück Gewölbe. Nur die Pietät wird bei diesen Resten verweilen. Der alte Ort hat im übrigen nichts Historisches an sich. Die einfache Landkirche mit ihrem festen Turm ist aber wenigstens nicht kleinlich wie so viele. Und wenn am „Ablaßtag," am ersten Sonntag Trinitatis, Memleben seine Kirchweih feiert, da tanzen die jungen Leute unter der Linde und den Kastanienbäumen, daß man den Kirchhof, einen schönen Garten um die Kirche, ganz vergißt und nur der Lebenden gedenkt. Vom ostwärts gewandten Söller des Klostergartens übersieht man die Schlangenwindungen der Unstrut, hat unmittelbar vor sich den auch heute nur einen starken Büchsenschuß vom Van entfernten Wald der Finne, einen hoch¬ stämmigen dichten Laubwald, der anch im Osten den Horizont abschließt, und im Norden einen niedrigen, geradlinig abschneidenden Zug, der oben mit Nadel¬ holz bewaldet, unten in stärkeren Maße als die Finne in Acker und Wiesen verwandelt ist. Von der Pfalz aus muß man den Wendelstein mit seinen in mächtigen Mauern erhaltnen Befestigungen vor sich gehabt haben. Das alles zusammen war eine Kulturoase und ist heute eine historische Landschaft. Der Name Großes Ricks, den die ganz ebnen Unstrutniedernngen zwischen Artern und Memleben führen — Memleben liegt gerade auf dem erhöhten Rande dieser Niederung, an den sich die Unstrut hindrängt —, scheint darauf zu deute», daß hier eine weite sumpfige Ebne zur Austrocknung und zur Wiesen¬ wirtschaft einlud; hier war also die Arbeit des Eindringens in den Wald

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/602>, abgerufen am 15.01.2025.