Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert Arbeiterstand sich niemals dauernd als eine besondre und zwar eine mißachtete Das Überwiegen sozialer Fragen sei ein Zeichen von Krankheit; im ge¬ Das politische Leben der Schweiz findet Hilty durchaus gesund; der Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert Arbeiterstand sich niemals dauernd als eine besondre und zwar eine mißachtete Das Überwiegen sozialer Fragen sei ein Zeichen von Krankheit; im ge¬ Das politische Leben der Schweiz findet Hilty durchaus gesund; der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0596" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/231766"/> <fw type="header" place="top"> Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert</fw><lb/> <p xml:id="ID_1946" prev="#ID_1945"> Arbeiterstand sich niemals dauernd als eine besondre und zwar eine mißachtete<lb/> und vernachlässigte Klasse sühlen können. Das ist ein Gedanke, der nur auf<lb/> die Staatsverhältnisse paßt, in denen er entstanden ist."</p><lb/> <p xml:id="ID_1947"> Das Überwiegen sozialer Fragen sei ein Zeichen von Krankheit; im ge¬<lb/> sunden Staate überwiege das Politische. Die „Gesellschaft" sei nur ein revo¬<lb/> lutionärer Konkurrent des Staats, der danach strebe, an die Stelle des gegen¬<lb/> wärtigen einen andern Staat zu setzen. „Selbst die Anarchisten würden einen<lb/> Staat brauchen, und das Gesunde, was in ihren Ansichten liegt, besteht lediglich<lb/> darin, daß in der That ein Staat mit möglichst wenig Regierung und mög¬<lb/> lichst großer individueller Freiheit das Nichtige und jede Staatsordnung ein<lb/> Notbehelf ist, der unter idealen Menschen nicht existieren müßte und unter den<lb/> weniger idealen, wie sie sind, eine zu große Tendenz zum Überwuchern- und<lb/> zur autoritären Selbstherrlichkeit hat." Übrigens entspringe die soziale Be¬<lb/> wegung keineswegs bloß aus materieller Not, sondern sie rühre von der Ver¬<lb/> einzelung des modernen Menschen her, in der er sich, bei der Lockerung aller<lb/> alten natürlichen Verbände, unglücklich fühle; dasselbe Gefühl erzeuge auch<lb/> den neu erwachten kirchlichen Eifer und das Sektenwesen. Namentlich auf dem<lb/> Lande gebe es viele, die den Zustand eines mittelalterlichen Hörigen ihrer<lb/> heutigen Freiheit vorziehn würden. Das Heilmittel sei Vereinigung der Menschen<lb/> in kleinern Kreisen, die zugleich dem gemütlichen und dem materiellen Interesse<lb/> entspreche. „Der von Natur und Geschichte gleichzeitig gegebne kleinere Kreis,<lb/> den man hier nicht erst zu schaffen bracht, ist die Gemeinde, die territoriale<lb/> Vereinigung aller an einem Orte dauernd Wohnhaften, aus allen Ständen und<lb/> Berufsarten und ökonomischen Verhältnissen gemischt — nicht die Berufsklasse<lb/> oder irgend eine sonstige neue Kastenbildung. Da, wo solche Gemeinden nicht<lb/> bestehn, sondern gänzlich von oben herab, von Staats wegen Befriedigung ge¬<lb/> schaffen werden soll, wird der Sozialismus großgezogen, weil der Staat selbst<lb/> seine Prinzipien adoptiert. Zwischen dem Staatssozialismus und dem wilden<lb/> Sozialismus besteht kein wahrer Unterschied." Nur läßt sich der Staatssozia¬<lb/> lismus, müssen wir hierzu bemerken, nicht vermeiden in Staaten, deren Haupt¬<lb/> städte so viel Einwohner haben wie die ganze Schweiz (das geplante Gro߬<lb/> berlin wird nach wenigen Jahren drei Millionen Einwohner zählen), in deren<lb/> Industriebezirken die Bevölkerung ab- und zuwandert, und in deren Landbezirken<lb/> der Rittergutsbesitzer und der Tagelöhner einander sozial so fern stehn wie der<lb/> Himmel der Erde, sodaß also in keinem dieser drei Bereiche von Gemeindeleben<lb/> die Rede sein kann. Übrigens helfen auch die Fremden, die jährlich über<lb/> hundertfünfzig Millionen Franks hintragen, der Schweiz über die soziale Frage<lb/> im gewöhnlichsten Sinne des Worts hinweg.</p><lb/> <p xml:id="ID_1948" next="#ID_1949"> Das politische Leben der Schweiz findet Hilty durchaus gesund; der<lb/> Mangel an Stabilität der Verfassung werde ersetzt durch Patriotismus und<lb/> einen gesunden Menschenverstand, der sich an eine reiche Erfahrung halten</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0596]
Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert
Arbeiterstand sich niemals dauernd als eine besondre und zwar eine mißachtete
und vernachlässigte Klasse sühlen können. Das ist ein Gedanke, der nur auf
die Staatsverhältnisse paßt, in denen er entstanden ist."
Das Überwiegen sozialer Fragen sei ein Zeichen von Krankheit; im ge¬
sunden Staate überwiege das Politische. Die „Gesellschaft" sei nur ein revo¬
lutionärer Konkurrent des Staats, der danach strebe, an die Stelle des gegen¬
wärtigen einen andern Staat zu setzen. „Selbst die Anarchisten würden einen
Staat brauchen, und das Gesunde, was in ihren Ansichten liegt, besteht lediglich
darin, daß in der That ein Staat mit möglichst wenig Regierung und mög¬
lichst großer individueller Freiheit das Nichtige und jede Staatsordnung ein
Notbehelf ist, der unter idealen Menschen nicht existieren müßte und unter den
weniger idealen, wie sie sind, eine zu große Tendenz zum Überwuchern- und
zur autoritären Selbstherrlichkeit hat." Übrigens entspringe die soziale Be¬
wegung keineswegs bloß aus materieller Not, sondern sie rühre von der Ver¬
einzelung des modernen Menschen her, in der er sich, bei der Lockerung aller
alten natürlichen Verbände, unglücklich fühle; dasselbe Gefühl erzeuge auch
den neu erwachten kirchlichen Eifer und das Sektenwesen. Namentlich auf dem
Lande gebe es viele, die den Zustand eines mittelalterlichen Hörigen ihrer
heutigen Freiheit vorziehn würden. Das Heilmittel sei Vereinigung der Menschen
in kleinern Kreisen, die zugleich dem gemütlichen und dem materiellen Interesse
entspreche. „Der von Natur und Geschichte gleichzeitig gegebne kleinere Kreis,
den man hier nicht erst zu schaffen bracht, ist die Gemeinde, die territoriale
Vereinigung aller an einem Orte dauernd Wohnhaften, aus allen Ständen und
Berufsarten und ökonomischen Verhältnissen gemischt — nicht die Berufsklasse
oder irgend eine sonstige neue Kastenbildung. Da, wo solche Gemeinden nicht
bestehn, sondern gänzlich von oben herab, von Staats wegen Befriedigung ge¬
schaffen werden soll, wird der Sozialismus großgezogen, weil der Staat selbst
seine Prinzipien adoptiert. Zwischen dem Staatssozialismus und dem wilden
Sozialismus besteht kein wahrer Unterschied." Nur läßt sich der Staatssozia¬
lismus, müssen wir hierzu bemerken, nicht vermeiden in Staaten, deren Haupt¬
städte so viel Einwohner haben wie die ganze Schweiz (das geplante Gro߬
berlin wird nach wenigen Jahren drei Millionen Einwohner zählen), in deren
Industriebezirken die Bevölkerung ab- und zuwandert, und in deren Landbezirken
der Rittergutsbesitzer und der Tagelöhner einander sozial so fern stehn wie der
Himmel der Erde, sodaß also in keinem dieser drei Bereiche von Gemeindeleben
die Rede sein kann. Übrigens helfen auch die Fremden, die jährlich über
hundertfünfzig Millionen Franks hintragen, der Schweiz über die soziale Frage
im gewöhnlichsten Sinne des Worts hinweg.
Das politische Leben der Schweiz findet Hilty durchaus gesund; der
Mangel an Stabilität der Verfassung werde ersetzt durch Patriotismus und
einen gesunden Menschenverstand, der sich an eine reiche Erfahrung halten
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