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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert

von großer politischer Bedeutung. Er würde noch weit mehr hervortreten,
wenn nicht durch eine seltsame Verwicklung von Interessen die hauptsächlichsten
französischen Landesteile seit 1803, aus Furcht vor der Wiedervereinigung mit
ihrem frühern Landesherrn, beziehungsweise vor Herabdrückung in die ehemalige
abhängige Stellung,*) ganz gegen die Natur ihrer Befreiungsgeschichte sich ge¬
nötigt gesehen Hütten, sich in die Rolle eines, zeitweise sehr extremen, Parti-
kularismus einzuleben, der nun aus einem ursprünglichen Mittel der politischen
Notwehr zur Gewohnheit geworden ist. Dergestalt, daß jetzt die historisch und
partikularistisch veranlagten Deutschen in der Schweiz mehr den notwendigen
engern Zusammenschluß und den Gedanken einheitlicher Nationalität vertreten
als die Romanen,**) die dazu von Natur und Geschichte prädestiniert erscheinen
würden."

Die Natur der Dinge mache sich jedoch geltend im Innern der romanischen
Kantone, indem diese zentralisierter seien als die deutschen, und in der Bundes¬
verfassung von 1848, die unter dem Einfluß französisch-schweizerischer Staats¬
männer mit der historischen Tradition gebrochen habe und dem Beispiele des
amerikanischen Bundesstaats gefolgt sei, "der die noch lebende Erinnerung an
die staatsphilosophische Periode des achtzehnten Jahrhunderts ist. Solange
die Eidgenossenschaft das unbedingte Repräsentativsystem mit zwei Kammern
besaß (1848 bis 1874), war sie wesentlich ein ganz moderner, auf theoretischen
Grundlagen aufgebauter Staat. Erst seitdem die Volksabstimmung in den
Kantonen und in der Eidgenossenschaft vorherrschend geworden ist, geht sie auf
ihre historischen Wurzeln wieder zurück, und die völlige Ausbildung dieses
Systems zu einem obligatorischen Referendum (das jetzt für die Eidgenossen¬
schaft selber noch nicht besteht) würde wahrscheinlich die Wiederherstellung der
historischen Tagsatzung zur Folge haben." Die soziale Frage der Schweiz sei
die noch nicht ganz fertige Neuordnung der aus den grundherrschaftlichen ent-
standnen freien Landgemeinden. Dafür hätten die eigentlichen Sozialisten kein
rechtes Verständnis; nach der internationalen Schablone dächten sie auch in
der Schweiz nur an Reorganisation des Mobiliareigentums. "Solange es
sich bei uns nur darum handelt, arbeitenden Klaffen eine vor Zufällen ge¬
sicherte Existenz zu verschaffen, tritt der eigentliche Charakter der Frage gar
nicht hervor. Das versteht sich in einer demokratischen Republik sozusagen von
selber, daß sür alle diejenigen, die sich selber anstrengen wollen, ein menschen¬
würdiges Dasein möglich sein muß, und der Staat, der selbst auf der voll¬
kommensten Gleichberechtigung und möglichst vollkommnen Mitregierung aller
beruht, kann sich nicht in einem schroffen Gegensatze gegen berechtigte Forde¬
rungen einzelner mitregierender Volksteile befinden, wie es unter andern poli¬
tischen Verhältnissen allerdings denkbar ist. Bei uns wird der gesunde




*) Das Waadtland wurde bis zur französischen Einmischung von Berner Vögten regiert.
'") Auch der Kanton Tessin besteht aus ehemaligen Nogteien,
Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert

von großer politischer Bedeutung. Er würde noch weit mehr hervortreten,
wenn nicht durch eine seltsame Verwicklung von Interessen die hauptsächlichsten
französischen Landesteile seit 1803, aus Furcht vor der Wiedervereinigung mit
ihrem frühern Landesherrn, beziehungsweise vor Herabdrückung in die ehemalige
abhängige Stellung,*) ganz gegen die Natur ihrer Befreiungsgeschichte sich ge¬
nötigt gesehen Hütten, sich in die Rolle eines, zeitweise sehr extremen, Parti-
kularismus einzuleben, der nun aus einem ursprünglichen Mittel der politischen
Notwehr zur Gewohnheit geworden ist. Dergestalt, daß jetzt die historisch und
partikularistisch veranlagten Deutschen in der Schweiz mehr den notwendigen
engern Zusammenschluß und den Gedanken einheitlicher Nationalität vertreten
als die Romanen,**) die dazu von Natur und Geschichte prädestiniert erscheinen
würden."

Die Natur der Dinge mache sich jedoch geltend im Innern der romanischen
Kantone, indem diese zentralisierter seien als die deutschen, und in der Bundes¬
verfassung von 1848, die unter dem Einfluß französisch-schweizerischer Staats¬
männer mit der historischen Tradition gebrochen habe und dem Beispiele des
amerikanischen Bundesstaats gefolgt sei, „der die noch lebende Erinnerung an
die staatsphilosophische Periode des achtzehnten Jahrhunderts ist. Solange
die Eidgenossenschaft das unbedingte Repräsentativsystem mit zwei Kammern
besaß (1848 bis 1874), war sie wesentlich ein ganz moderner, auf theoretischen
Grundlagen aufgebauter Staat. Erst seitdem die Volksabstimmung in den
Kantonen und in der Eidgenossenschaft vorherrschend geworden ist, geht sie auf
ihre historischen Wurzeln wieder zurück, und die völlige Ausbildung dieses
Systems zu einem obligatorischen Referendum (das jetzt für die Eidgenossen¬
schaft selber noch nicht besteht) würde wahrscheinlich die Wiederherstellung der
historischen Tagsatzung zur Folge haben." Die soziale Frage der Schweiz sei
die noch nicht ganz fertige Neuordnung der aus den grundherrschaftlichen ent-
standnen freien Landgemeinden. Dafür hätten die eigentlichen Sozialisten kein
rechtes Verständnis; nach der internationalen Schablone dächten sie auch in
der Schweiz nur an Reorganisation des Mobiliareigentums. „Solange es
sich bei uns nur darum handelt, arbeitenden Klaffen eine vor Zufällen ge¬
sicherte Existenz zu verschaffen, tritt der eigentliche Charakter der Frage gar
nicht hervor. Das versteht sich in einer demokratischen Republik sozusagen von
selber, daß sür alle diejenigen, die sich selber anstrengen wollen, ein menschen¬
würdiges Dasein möglich sein muß, und der Staat, der selbst auf der voll¬
kommensten Gleichberechtigung und möglichst vollkommnen Mitregierung aller
beruht, kann sich nicht in einem schroffen Gegensatze gegen berechtigte Forde¬
rungen einzelner mitregierender Volksteile befinden, wie es unter andern poli¬
tischen Verhältnissen allerdings denkbar ist. Bei uns wird der gesunde




*) Das Waadtland wurde bis zur französischen Einmischung von Berner Vögten regiert.
'") Auch der Kanton Tessin besteht aus ehemaligen Nogteien,
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[0595] Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert von großer politischer Bedeutung. Er würde noch weit mehr hervortreten, wenn nicht durch eine seltsame Verwicklung von Interessen die hauptsächlichsten französischen Landesteile seit 1803, aus Furcht vor der Wiedervereinigung mit ihrem frühern Landesherrn, beziehungsweise vor Herabdrückung in die ehemalige abhängige Stellung,*) ganz gegen die Natur ihrer Befreiungsgeschichte sich ge¬ nötigt gesehen Hütten, sich in die Rolle eines, zeitweise sehr extremen, Parti- kularismus einzuleben, der nun aus einem ursprünglichen Mittel der politischen Notwehr zur Gewohnheit geworden ist. Dergestalt, daß jetzt die historisch und partikularistisch veranlagten Deutschen in der Schweiz mehr den notwendigen engern Zusammenschluß und den Gedanken einheitlicher Nationalität vertreten als die Romanen,**) die dazu von Natur und Geschichte prädestiniert erscheinen würden." Die Natur der Dinge mache sich jedoch geltend im Innern der romanischen Kantone, indem diese zentralisierter seien als die deutschen, und in der Bundes¬ verfassung von 1848, die unter dem Einfluß französisch-schweizerischer Staats¬ männer mit der historischen Tradition gebrochen habe und dem Beispiele des amerikanischen Bundesstaats gefolgt sei, „der die noch lebende Erinnerung an die staatsphilosophische Periode des achtzehnten Jahrhunderts ist. Solange die Eidgenossenschaft das unbedingte Repräsentativsystem mit zwei Kammern besaß (1848 bis 1874), war sie wesentlich ein ganz moderner, auf theoretischen Grundlagen aufgebauter Staat. Erst seitdem die Volksabstimmung in den Kantonen und in der Eidgenossenschaft vorherrschend geworden ist, geht sie auf ihre historischen Wurzeln wieder zurück, und die völlige Ausbildung dieses Systems zu einem obligatorischen Referendum (das jetzt für die Eidgenossen¬ schaft selber noch nicht besteht) würde wahrscheinlich die Wiederherstellung der historischen Tagsatzung zur Folge haben." Die soziale Frage der Schweiz sei die noch nicht ganz fertige Neuordnung der aus den grundherrschaftlichen ent- standnen freien Landgemeinden. Dafür hätten die eigentlichen Sozialisten kein rechtes Verständnis; nach der internationalen Schablone dächten sie auch in der Schweiz nur an Reorganisation des Mobiliareigentums. „Solange es sich bei uns nur darum handelt, arbeitenden Klaffen eine vor Zufällen ge¬ sicherte Existenz zu verschaffen, tritt der eigentliche Charakter der Frage gar nicht hervor. Das versteht sich in einer demokratischen Republik sozusagen von selber, daß sür alle diejenigen, die sich selber anstrengen wollen, ein menschen¬ würdiges Dasein möglich sein muß, und der Staat, der selbst auf der voll¬ kommensten Gleichberechtigung und möglichst vollkommnen Mitregierung aller beruht, kann sich nicht in einem schroffen Gegensatze gegen berechtigte Forde¬ rungen einzelner mitregierender Volksteile befinden, wie es unter andern poli¬ tischen Verhältnissen allerdings denkbar ist. Bei uns wird der gesunde *) Das Waadtland wurde bis zur französischen Einmischung von Berner Vögten regiert. '") Auch der Kanton Tessin besteht aus ehemaligen Nogteien,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/595>, abgerufen am 15.01.2025.