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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert

könne. Theoretisch betrachtet unterliege die Schweiz allen Gefahren und Be¬
denken der extremen Demokratie; "praktisch genommen aber befindet sich dennoch
die schweizerische Eidgenossenschaft jetzt in dem gut equilibrierten Zustand, auf
den es bei Staaten wie bei einzelnen Personen sür ihr Wohlbefinden am
meisten ankommt." Die Verfassung sei so unlogisch wie möglich, aber es lebe
sich in einem vielfach geflickten und dem jeweiligen Bedürfnis angepaßten
Staatsbäu gemütlicher als in einer oassrns prit08opniciue. Das fakultative
Referendum habe einigermaßen deprimierend auf den schweizerischen Parla¬
mentarismus gewirkt, doch könne man in der Schweiz überhaupt uur in sehr
beschränktem Sinne von Parlamentarismus sprechen. "Die Bundesversamm¬
lung steht weder in einem Gegensatze zu dem Volke, aus dessen Schoße sie
hervorgeht, und dessen Stimmung sie in der Regel richtig interpretiert und
vollständig respektiert, noch zu dem Bundesrate, der thatsächlich ausnahmslos
aus ihren Mitgliedern hervorgeht. Ebenso wenig als ein solcher Gegensatz
besteht eine Verpflichtung oder auch nur ein Usus, wonach irgend eine eid¬
genössische Behörde nach Verwerfung einer Vorlage durch die Volksabstimmung
ihr Amt niederlegen oder Neuwahlen anordnen müßte. Einzig wenn durch
einen Volksentscheid eine Totalrevision der Verfassung beschlossen worden ist,
findet eine Neuwahl der Räte statt, ein Fall, der übrigens noch niemals vor¬
gekommen ist. Sonst mag das Volk ganze Reihen von Bundesgesetzen zur
Abstimmung begehren und mit einer gewissen tendenziösen Opposition ver¬
werfen, oder es mögen die Vorlagen des Bundesrath eine noch so geringe
Stimmenzahl in der Rundesversammlung erhalten, niemals fällt es deshalb
weder der einen noch der andern Behörde ein, ihr Amt niederzulegen, und eine
Parlamentsauflösuug vollends wäre, anders als durch freiwilligen und indi¬
viduellen Rücktritt aller einzelnen Mitglieder, nicht möglich. An einen solchen
Parlamentarismus denkt auch in der Schweiz niemand. Ein Parlament ist
überhaupt von Natur keine Regierung, sondern eine Kontrollbehörde einer
Regierung, und wo immer es, durch historische Verhältnisse gezwungen, einst
als Notbehelf jene andre Natur angenommen hat, sind die staatlichen Verhält¬
nisse ebenso wenig regelrecht als da, wo ihm eine durchaus wirksame und
unbestreitbare Kontrolle über alle Staatsangelegenheiten erschwert wird. Der
Streit zwischen Parlament und Regierungsgewalt (oder Autorität und Majo¬
rität, wie Stahl sich seiner Zeit ausdrückte) ist immer ein Beweis, daß es
mit einem dieser Faktoren, gewöhnlich aber mit beiden, nicht richtig bestellt ist.
Infolge dessen bildet er auch ein charakteristisches Merkmal und eine Schwäche
der monarchischen Staatsverfassungen, in denen eben, einer Fiktion zuliebe, die
Autorität über das natürliche Maß hinaus gesteigert zu sein pflegt und man
auf allerlei Gegenmaßregeln Bedacht nehmen muß.*) In der Republik haben



Nicht bloß in den Monarchien ist das der Fall, sondern auch in den Republiken, wenn
sie Großstaaten sind, was die Schweiz zu ihrem Glück nicht ist.
Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert

könne. Theoretisch betrachtet unterliege die Schweiz allen Gefahren und Be¬
denken der extremen Demokratie; „praktisch genommen aber befindet sich dennoch
die schweizerische Eidgenossenschaft jetzt in dem gut equilibrierten Zustand, auf
den es bei Staaten wie bei einzelnen Personen sür ihr Wohlbefinden am
meisten ankommt." Die Verfassung sei so unlogisch wie möglich, aber es lebe
sich in einem vielfach geflickten und dem jeweiligen Bedürfnis angepaßten
Staatsbäu gemütlicher als in einer oassrns prit08opniciue. Das fakultative
Referendum habe einigermaßen deprimierend auf den schweizerischen Parla¬
mentarismus gewirkt, doch könne man in der Schweiz überhaupt uur in sehr
beschränktem Sinne von Parlamentarismus sprechen. „Die Bundesversamm¬
lung steht weder in einem Gegensatze zu dem Volke, aus dessen Schoße sie
hervorgeht, und dessen Stimmung sie in der Regel richtig interpretiert und
vollständig respektiert, noch zu dem Bundesrate, der thatsächlich ausnahmslos
aus ihren Mitgliedern hervorgeht. Ebenso wenig als ein solcher Gegensatz
besteht eine Verpflichtung oder auch nur ein Usus, wonach irgend eine eid¬
genössische Behörde nach Verwerfung einer Vorlage durch die Volksabstimmung
ihr Amt niederlegen oder Neuwahlen anordnen müßte. Einzig wenn durch
einen Volksentscheid eine Totalrevision der Verfassung beschlossen worden ist,
findet eine Neuwahl der Räte statt, ein Fall, der übrigens noch niemals vor¬
gekommen ist. Sonst mag das Volk ganze Reihen von Bundesgesetzen zur
Abstimmung begehren und mit einer gewissen tendenziösen Opposition ver¬
werfen, oder es mögen die Vorlagen des Bundesrath eine noch so geringe
Stimmenzahl in der Rundesversammlung erhalten, niemals fällt es deshalb
weder der einen noch der andern Behörde ein, ihr Amt niederzulegen, und eine
Parlamentsauflösuug vollends wäre, anders als durch freiwilligen und indi¬
viduellen Rücktritt aller einzelnen Mitglieder, nicht möglich. An einen solchen
Parlamentarismus denkt auch in der Schweiz niemand. Ein Parlament ist
überhaupt von Natur keine Regierung, sondern eine Kontrollbehörde einer
Regierung, und wo immer es, durch historische Verhältnisse gezwungen, einst
als Notbehelf jene andre Natur angenommen hat, sind die staatlichen Verhält¬
nisse ebenso wenig regelrecht als da, wo ihm eine durchaus wirksame und
unbestreitbare Kontrolle über alle Staatsangelegenheiten erschwert wird. Der
Streit zwischen Parlament und Regierungsgewalt (oder Autorität und Majo¬
rität, wie Stahl sich seiner Zeit ausdrückte) ist immer ein Beweis, daß es
mit einem dieser Faktoren, gewöhnlich aber mit beiden, nicht richtig bestellt ist.
Infolge dessen bildet er auch ein charakteristisches Merkmal und eine Schwäche
der monarchischen Staatsverfassungen, in denen eben, einer Fiktion zuliebe, die
Autorität über das natürliche Maß hinaus gesteigert zu sein pflegt und man
auf allerlei Gegenmaßregeln Bedacht nehmen muß.*) In der Republik haben



Nicht bloß in den Monarchien ist das der Fall, sondern auch in den Republiken, wenn
sie Großstaaten sind, was die Schweiz zu ihrem Glück nicht ist.
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[0597] Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert könne. Theoretisch betrachtet unterliege die Schweiz allen Gefahren und Be¬ denken der extremen Demokratie; „praktisch genommen aber befindet sich dennoch die schweizerische Eidgenossenschaft jetzt in dem gut equilibrierten Zustand, auf den es bei Staaten wie bei einzelnen Personen sür ihr Wohlbefinden am meisten ankommt." Die Verfassung sei so unlogisch wie möglich, aber es lebe sich in einem vielfach geflickten und dem jeweiligen Bedürfnis angepaßten Staatsbäu gemütlicher als in einer oassrns prit08opniciue. Das fakultative Referendum habe einigermaßen deprimierend auf den schweizerischen Parla¬ mentarismus gewirkt, doch könne man in der Schweiz überhaupt uur in sehr beschränktem Sinne von Parlamentarismus sprechen. „Die Bundesversamm¬ lung steht weder in einem Gegensatze zu dem Volke, aus dessen Schoße sie hervorgeht, und dessen Stimmung sie in der Regel richtig interpretiert und vollständig respektiert, noch zu dem Bundesrate, der thatsächlich ausnahmslos aus ihren Mitgliedern hervorgeht. Ebenso wenig als ein solcher Gegensatz besteht eine Verpflichtung oder auch nur ein Usus, wonach irgend eine eid¬ genössische Behörde nach Verwerfung einer Vorlage durch die Volksabstimmung ihr Amt niederlegen oder Neuwahlen anordnen müßte. Einzig wenn durch einen Volksentscheid eine Totalrevision der Verfassung beschlossen worden ist, findet eine Neuwahl der Räte statt, ein Fall, der übrigens noch niemals vor¬ gekommen ist. Sonst mag das Volk ganze Reihen von Bundesgesetzen zur Abstimmung begehren und mit einer gewissen tendenziösen Opposition ver¬ werfen, oder es mögen die Vorlagen des Bundesrath eine noch so geringe Stimmenzahl in der Rundesversammlung erhalten, niemals fällt es deshalb weder der einen noch der andern Behörde ein, ihr Amt niederzulegen, und eine Parlamentsauflösuug vollends wäre, anders als durch freiwilligen und indi¬ viduellen Rücktritt aller einzelnen Mitglieder, nicht möglich. An einen solchen Parlamentarismus denkt auch in der Schweiz niemand. Ein Parlament ist überhaupt von Natur keine Regierung, sondern eine Kontrollbehörde einer Regierung, und wo immer es, durch historische Verhältnisse gezwungen, einst als Notbehelf jene andre Natur angenommen hat, sind die staatlichen Verhält¬ nisse ebenso wenig regelrecht als da, wo ihm eine durchaus wirksame und unbestreitbare Kontrolle über alle Staatsangelegenheiten erschwert wird. Der Streit zwischen Parlament und Regierungsgewalt (oder Autorität und Majo¬ rität, wie Stahl sich seiner Zeit ausdrückte) ist immer ein Beweis, daß es mit einem dieser Faktoren, gewöhnlich aber mit beiden, nicht richtig bestellt ist. Infolge dessen bildet er auch ein charakteristisches Merkmal und eine Schwäche der monarchischen Staatsverfassungen, in denen eben, einer Fiktion zuliebe, die Autorität über das natürliche Maß hinaus gesteigert zu sein pflegt und man auf allerlei Gegenmaßregeln Bedacht nehmen muß.*) In der Republik haben Nicht bloß in den Monarchien ist das der Fall, sondern auch in den Republiken, wenn sie Großstaaten sind, was die Schweiz zu ihrem Glück nicht ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/597>, abgerufen am 15.01.2025.