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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert

Bündnis gegen Österreich antrug und sie mit der Schmeichelei zu gewinnen
suchte, sie sei die einzige Macht Europas, die achtunggebietend dastehe; mit
einander verbündet würden die Schweiz und Italien beweisen, daß ihre Freiheit
und politische Unabhängigkeit unzerstörbar seien. Wer weiß, was geschehen
wäre, wenn damals das Referendum schon bestanden hätte. Aber die Tag¬
satzung beriet bei verschlossenen Thüren über den Antrag und lehnte ihn ab;
Stämpfli und Ochsenbein trugen mit ihren nüchternen Nützlichkeitserwägungen
den Sieg davon über die Freiheitsschwärmer Druey und Fazy.

Das heutige Staatsrecht der schweizerischen Eidgenossenschaft hat kein ge¬
ringerer als Karl Hilty dargestellt, und die Bedeutung dessen, was er sagt,
geht denn auch weit über den besondern Gegenstand hinaus, der ihn veranlaßt
hat, es zu sagen. "Die schweizerische Eidgenossenschaft, heißt es unter anderm,
ist gleichzeitig ein alter und ein neuer Staat. Sie gleicht einem jener Bäume,
aus deren von Alter und mancherlei Stürmen bis auf die Wurzel zersplitterten
Stamme sich ein neuer Schößling lebenskräftig entwickelt hat, gleich in der
Wurzel, ungleich in der neuen Bildung. Daraus entstehn ihre innern Gegen¬
sätze und die politischen Fragen, die nicht von außen in sie hineingetragen
werden. Die dreizehn alten Kantone, wie sie bis 1798 bestanden, und die
sechs neuen, aus Unterthanenländern und zugewandten Orten willkürlich zu¬
sammengestellten (wozu dann erst 1315 noch die drei letzten, ebenfalls alte zu¬
gewandte Orte kamen), unterscheiden sich noch heute in der Natur der Be¬
völkerung und in der vorherrschenden politischen Denkungsart. Einen Appen-
zeller unterscheidet man auf den ersten Blick schon von dem benachbarten
Se. Galler; Basel-Stadt und -Land sind sich noch bis heute und trotz zeit¬
weisen Zusammenlebens unter annähernd gleichen Bedingungen unähnlich ge¬
blieben. Hier sind es die ehemalige Herrschaft und die ehemalige Unterthanen¬
schaft, welche die Unterscheidung ausmachen. Die andern Gegensätze, die, aus
der alten Zeit herübergenommen, noch bestehn, sind die Differenzen zwischen
lebensvollen handeltreibenden Städten und stillen ländlichen Bevölkerungen und
die konfessionelle Scheidewand. Hierzu kommt nun aber, daß sich die neue Eid¬
genossenschaft seit 1798 nicht durch eine allmähliche Reform, sondern durch
eine Revolution gebildet hat, und dieser revolutionäre Ursprung des neuen
Staatswesens hat ebenfalls seine Spuren in dem seitherigen politischen Leben
zurückgelassen. Von ihm stammt die scharfe Unterscheidung zwischen romanischer
und deutscher Sprachnationalitüt, die lediglich durch den damit seiner Zeit ver-
bundnen politischen Gegensatz entstand, sowie diejenige von Radikalen und
Konservativen im modernen Sinne und die damit teilweise verbundnen Gegen¬
sätze von Zentralismus und Föderalismus, beziehungsweise von historischem
und abstrakt philosophischem Staatsrecht. Das letztere ist ganz und gar ein
Ableger der französischen Prinzipien von 1789. Der damals begonnene Kampf
zwischen dem deutschen, mehr historisch gerichteten Geist und der französischen,
rein systematischen und uniformen Denkungsart ist noch heute vorhanden und


Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert

Bündnis gegen Österreich antrug und sie mit der Schmeichelei zu gewinnen
suchte, sie sei die einzige Macht Europas, die achtunggebietend dastehe; mit
einander verbündet würden die Schweiz und Italien beweisen, daß ihre Freiheit
und politische Unabhängigkeit unzerstörbar seien. Wer weiß, was geschehen
wäre, wenn damals das Referendum schon bestanden hätte. Aber die Tag¬
satzung beriet bei verschlossenen Thüren über den Antrag und lehnte ihn ab;
Stämpfli und Ochsenbein trugen mit ihren nüchternen Nützlichkeitserwägungen
den Sieg davon über die Freiheitsschwärmer Druey und Fazy.

Das heutige Staatsrecht der schweizerischen Eidgenossenschaft hat kein ge¬
ringerer als Karl Hilty dargestellt, und die Bedeutung dessen, was er sagt,
geht denn auch weit über den besondern Gegenstand hinaus, der ihn veranlaßt
hat, es zu sagen. „Die schweizerische Eidgenossenschaft, heißt es unter anderm,
ist gleichzeitig ein alter und ein neuer Staat. Sie gleicht einem jener Bäume,
aus deren von Alter und mancherlei Stürmen bis auf die Wurzel zersplitterten
Stamme sich ein neuer Schößling lebenskräftig entwickelt hat, gleich in der
Wurzel, ungleich in der neuen Bildung. Daraus entstehn ihre innern Gegen¬
sätze und die politischen Fragen, die nicht von außen in sie hineingetragen
werden. Die dreizehn alten Kantone, wie sie bis 1798 bestanden, und die
sechs neuen, aus Unterthanenländern und zugewandten Orten willkürlich zu¬
sammengestellten (wozu dann erst 1315 noch die drei letzten, ebenfalls alte zu¬
gewandte Orte kamen), unterscheiden sich noch heute in der Natur der Be¬
völkerung und in der vorherrschenden politischen Denkungsart. Einen Appen-
zeller unterscheidet man auf den ersten Blick schon von dem benachbarten
Se. Galler; Basel-Stadt und -Land sind sich noch bis heute und trotz zeit¬
weisen Zusammenlebens unter annähernd gleichen Bedingungen unähnlich ge¬
blieben. Hier sind es die ehemalige Herrschaft und die ehemalige Unterthanen¬
schaft, welche die Unterscheidung ausmachen. Die andern Gegensätze, die, aus
der alten Zeit herübergenommen, noch bestehn, sind die Differenzen zwischen
lebensvollen handeltreibenden Städten und stillen ländlichen Bevölkerungen und
die konfessionelle Scheidewand. Hierzu kommt nun aber, daß sich die neue Eid¬
genossenschaft seit 1798 nicht durch eine allmähliche Reform, sondern durch
eine Revolution gebildet hat, und dieser revolutionäre Ursprung des neuen
Staatswesens hat ebenfalls seine Spuren in dem seitherigen politischen Leben
zurückgelassen. Von ihm stammt die scharfe Unterscheidung zwischen romanischer
und deutscher Sprachnationalitüt, die lediglich durch den damit seiner Zeit ver-
bundnen politischen Gegensatz entstand, sowie diejenige von Radikalen und
Konservativen im modernen Sinne und die damit teilweise verbundnen Gegen¬
sätze von Zentralismus und Föderalismus, beziehungsweise von historischem
und abstrakt philosophischem Staatsrecht. Das letztere ist ganz und gar ein
Ableger der französischen Prinzipien von 1789. Der damals begonnene Kampf
zwischen dem deutschen, mehr historisch gerichteten Geist und der französischen,
rein systematischen und uniformen Denkungsart ist noch heute vorhanden und


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[0594] Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert Bündnis gegen Österreich antrug und sie mit der Schmeichelei zu gewinnen suchte, sie sei die einzige Macht Europas, die achtunggebietend dastehe; mit einander verbündet würden die Schweiz und Italien beweisen, daß ihre Freiheit und politische Unabhängigkeit unzerstörbar seien. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn damals das Referendum schon bestanden hätte. Aber die Tag¬ satzung beriet bei verschlossenen Thüren über den Antrag und lehnte ihn ab; Stämpfli und Ochsenbein trugen mit ihren nüchternen Nützlichkeitserwägungen den Sieg davon über die Freiheitsschwärmer Druey und Fazy. Das heutige Staatsrecht der schweizerischen Eidgenossenschaft hat kein ge¬ ringerer als Karl Hilty dargestellt, und die Bedeutung dessen, was er sagt, geht denn auch weit über den besondern Gegenstand hinaus, der ihn veranlaßt hat, es zu sagen. „Die schweizerische Eidgenossenschaft, heißt es unter anderm, ist gleichzeitig ein alter und ein neuer Staat. Sie gleicht einem jener Bäume, aus deren von Alter und mancherlei Stürmen bis auf die Wurzel zersplitterten Stamme sich ein neuer Schößling lebenskräftig entwickelt hat, gleich in der Wurzel, ungleich in der neuen Bildung. Daraus entstehn ihre innern Gegen¬ sätze und die politischen Fragen, die nicht von außen in sie hineingetragen werden. Die dreizehn alten Kantone, wie sie bis 1798 bestanden, und die sechs neuen, aus Unterthanenländern und zugewandten Orten willkürlich zu¬ sammengestellten (wozu dann erst 1315 noch die drei letzten, ebenfalls alte zu¬ gewandte Orte kamen), unterscheiden sich noch heute in der Natur der Be¬ völkerung und in der vorherrschenden politischen Denkungsart. Einen Appen- zeller unterscheidet man auf den ersten Blick schon von dem benachbarten Se. Galler; Basel-Stadt und -Land sind sich noch bis heute und trotz zeit¬ weisen Zusammenlebens unter annähernd gleichen Bedingungen unähnlich ge¬ blieben. Hier sind es die ehemalige Herrschaft und die ehemalige Unterthanen¬ schaft, welche die Unterscheidung ausmachen. Die andern Gegensätze, die, aus der alten Zeit herübergenommen, noch bestehn, sind die Differenzen zwischen lebensvollen handeltreibenden Städten und stillen ländlichen Bevölkerungen und die konfessionelle Scheidewand. Hierzu kommt nun aber, daß sich die neue Eid¬ genossenschaft seit 1798 nicht durch eine allmähliche Reform, sondern durch eine Revolution gebildet hat, und dieser revolutionäre Ursprung des neuen Staatswesens hat ebenfalls seine Spuren in dem seitherigen politischen Leben zurückgelassen. Von ihm stammt die scharfe Unterscheidung zwischen romanischer und deutscher Sprachnationalitüt, die lediglich durch den damit seiner Zeit ver- bundnen politischen Gegensatz entstand, sowie diejenige von Radikalen und Konservativen im modernen Sinne und die damit teilweise verbundnen Gegen¬ sätze von Zentralismus und Föderalismus, beziehungsweise von historischem und abstrakt philosophischem Staatsrecht. Das letztere ist ganz und gar ein Ableger der französischen Prinzipien von 1789. Der damals begonnene Kampf zwischen dem deutschen, mehr historisch gerichteten Geist und der französischen, rein systematischen und uniformen Denkungsart ist noch heute vorhanden und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/594>, abgerufen am 15.01.2025.