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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert

scheinlich den Schweizern selbst ebenso dunkel bleiben wie das finsterste Mittel¬
alter. Man versuche es, diese Kantönligeschichte kurz zusammenzufassen und
so darzustellen, daß sie ein Schüler behalten kann, und man wird eingestehn
müssen: das ist unmöglich. Wahrscheinlich würde es uns mit der griechischen
ebenso gehn, wenn wir mitten drin stünden. Aber von dieser hat die schul¬
mäßige Behandlung ein konventionelles Bild geschaffen, das gleich einem aus
weiter Entfernung gesehenen Gebirgszuge nur die Hauptumrisse zeigt, alle ver¬
wirrenden Einzelheiten aber ausschließt. Schon wenn sich einer ein wenig mit
den Quellen der griechischen Geschichte beschäftigt, die doch alle zusammen
gewiß nicht ein Zehntel aller wirklichen Geschehnisse enthalten, während dem
Erforscher mittelalterlicher Geschichten wenig, dem der neuern gar nichts ge¬
schenkt bleibt, schon also wenn wir einige Blicke in die spärlichen Quellen der
alten Geschichte thun, wird uns die Sache bedeutend unklarer, als sie uns in
der Schulzeit war. Aus diesem Grunde wird man die alte Geschichte nicht
entbehren können, wenn man die Schüler über die Hauptverfassungsformen und
ihre Wandlungen belehren will.

Das eine wird dem Leser dieser schweizerischen Verfassungskämpfe klar,
wenn er vorher noch daran gezweifelt hatte, daß die Politik das Grab der
Moral ist, und daß im Parteikämpfe jeder der Kämpfenden schlechthin alles
für erlaubt hält, was Erfolg verspricht. Besonders wild und rücksichtslos
haben einander im italienischen Tessin die beiden Parteien: die Klerikalen und
Radikalen, verfolgt; von 1872 bis 1891 hat in diesem Kanton ein förmlicher
Kriegszustand geherrscht. Als Probe der Energie der Parteien mag angeführt
werden, daß 1839 für die Wahl in den Großen Rat die auswärtigen Partei¬
genossen aus allen Weltteilen herbeigerufen und z. B. Schiffe gemietet wurden,
um die nach Argentinien ausgewanderten Tessiner heimzuholen. Übrigens
haben sich auch die Deutschschweizer in ihren zahllosen Parteikämpfen nicht als
Lämmer benommen, und auf ein paar Tröpflein Blut ist es ihnen meistens
nicht angekommen. Abgesehen von den Tessiner Unruhen haben die Verfassungs-
kümpfe ihren Abschluß gefunden mit der Bundesrevision, die am 19. April 1874
vom Volke mit 340199 gegen 198013 Stimmen und mit 14gegen
7 Standesvoten angenommen worden ist. Dem Auslande gegenüber haben
die schweizerischen Staatsmänner meistens kaltes Blut bewahrt und haben ihr
Schifflein von den Zeiten der heiligen Allianz bis auf die Wohlgemuthperiode
zwischen allen Klippen geschickt hindurch gesteuert. An schwierigen Lagen hat
es nicht gefehlt, z. B. 1848, als Mazzini die Schweiz zum Hauptquartier der
europäischen Revolution*) machte, König Karl Albert von Sardinien ihr ein



*) Eine Geschichte der deutschen Revolutionäre in der Schweiz in einer etwas frühern
Periode hat soeben I)r, Heinrich Schmidt herausgegeben unter dem Titel: Die deutschen
Flüchtlinge in der Schweiz und die erste deutsche Arbeiterbewegung 1833 bis 1836 (Zürich,
Buchhandlung des Grütlivereins, 1899),
Grcnzbo-e" III 1899 74
Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert

scheinlich den Schweizern selbst ebenso dunkel bleiben wie das finsterste Mittel¬
alter. Man versuche es, diese Kantönligeschichte kurz zusammenzufassen und
so darzustellen, daß sie ein Schüler behalten kann, und man wird eingestehn
müssen: das ist unmöglich. Wahrscheinlich würde es uns mit der griechischen
ebenso gehn, wenn wir mitten drin stünden. Aber von dieser hat die schul¬
mäßige Behandlung ein konventionelles Bild geschaffen, das gleich einem aus
weiter Entfernung gesehenen Gebirgszuge nur die Hauptumrisse zeigt, alle ver¬
wirrenden Einzelheiten aber ausschließt. Schon wenn sich einer ein wenig mit
den Quellen der griechischen Geschichte beschäftigt, die doch alle zusammen
gewiß nicht ein Zehntel aller wirklichen Geschehnisse enthalten, während dem
Erforscher mittelalterlicher Geschichten wenig, dem der neuern gar nichts ge¬
schenkt bleibt, schon also wenn wir einige Blicke in die spärlichen Quellen der
alten Geschichte thun, wird uns die Sache bedeutend unklarer, als sie uns in
der Schulzeit war. Aus diesem Grunde wird man die alte Geschichte nicht
entbehren können, wenn man die Schüler über die Hauptverfassungsformen und
ihre Wandlungen belehren will.

Das eine wird dem Leser dieser schweizerischen Verfassungskämpfe klar,
wenn er vorher noch daran gezweifelt hatte, daß die Politik das Grab der
Moral ist, und daß im Parteikämpfe jeder der Kämpfenden schlechthin alles
für erlaubt hält, was Erfolg verspricht. Besonders wild und rücksichtslos
haben einander im italienischen Tessin die beiden Parteien: die Klerikalen und
Radikalen, verfolgt; von 1872 bis 1891 hat in diesem Kanton ein förmlicher
Kriegszustand geherrscht. Als Probe der Energie der Parteien mag angeführt
werden, daß 1839 für die Wahl in den Großen Rat die auswärtigen Partei¬
genossen aus allen Weltteilen herbeigerufen und z. B. Schiffe gemietet wurden,
um die nach Argentinien ausgewanderten Tessiner heimzuholen. Übrigens
haben sich auch die Deutschschweizer in ihren zahllosen Parteikämpfen nicht als
Lämmer benommen, und auf ein paar Tröpflein Blut ist es ihnen meistens
nicht angekommen. Abgesehen von den Tessiner Unruhen haben die Verfassungs-
kümpfe ihren Abschluß gefunden mit der Bundesrevision, die am 19. April 1874
vom Volke mit 340199 gegen 198013 Stimmen und mit 14gegen
7 Standesvoten angenommen worden ist. Dem Auslande gegenüber haben
die schweizerischen Staatsmänner meistens kaltes Blut bewahrt und haben ihr
Schifflein von den Zeiten der heiligen Allianz bis auf die Wohlgemuthperiode
zwischen allen Klippen geschickt hindurch gesteuert. An schwierigen Lagen hat
es nicht gefehlt, z. B. 1848, als Mazzini die Schweiz zum Hauptquartier der
europäischen Revolution*) machte, König Karl Albert von Sardinien ihr ein



*) Eine Geschichte der deutschen Revolutionäre in der Schweiz in einer etwas frühern
Periode hat soeben I)r, Heinrich Schmidt herausgegeben unter dem Titel: Die deutschen
Flüchtlinge in der Schweiz und die erste deutsche Arbeiterbewegung 1833 bis 1836 (Zürich,
Buchhandlung des Grütlivereins, 1899),
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[0593] Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert scheinlich den Schweizern selbst ebenso dunkel bleiben wie das finsterste Mittel¬ alter. Man versuche es, diese Kantönligeschichte kurz zusammenzufassen und so darzustellen, daß sie ein Schüler behalten kann, und man wird eingestehn müssen: das ist unmöglich. Wahrscheinlich würde es uns mit der griechischen ebenso gehn, wenn wir mitten drin stünden. Aber von dieser hat die schul¬ mäßige Behandlung ein konventionelles Bild geschaffen, das gleich einem aus weiter Entfernung gesehenen Gebirgszuge nur die Hauptumrisse zeigt, alle ver¬ wirrenden Einzelheiten aber ausschließt. Schon wenn sich einer ein wenig mit den Quellen der griechischen Geschichte beschäftigt, die doch alle zusammen gewiß nicht ein Zehntel aller wirklichen Geschehnisse enthalten, während dem Erforscher mittelalterlicher Geschichten wenig, dem der neuern gar nichts ge¬ schenkt bleibt, schon also wenn wir einige Blicke in die spärlichen Quellen der alten Geschichte thun, wird uns die Sache bedeutend unklarer, als sie uns in der Schulzeit war. Aus diesem Grunde wird man die alte Geschichte nicht entbehren können, wenn man die Schüler über die Hauptverfassungsformen und ihre Wandlungen belehren will. Das eine wird dem Leser dieser schweizerischen Verfassungskämpfe klar, wenn er vorher noch daran gezweifelt hatte, daß die Politik das Grab der Moral ist, und daß im Parteikämpfe jeder der Kämpfenden schlechthin alles für erlaubt hält, was Erfolg verspricht. Besonders wild und rücksichtslos haben einander im italienischen Tessin die beiden Parteien: die Klerikalen und Radikalen, verfolgt; von 1872 bis 1891 hat in diesem Kanton ein förmlicher Kriegszustand geherrscht. Als Probe der Energie der Parteien mag angeführt werden, daß 1839 für die Wahl in den Großen Rat die auswärtigen Partei¬ genossen aus allen Weltteilen herbeigerufen und z. B. Schiffe gemietet wurden, um die nach Argentinien ausgewanderten Tessiner heimzuholen. Übrigens haben sich auch die Deutschschweizer in ihren zahllosen Parteikämpfen nicht als Lämmer benommen, und auf ein paar Tröpflein Blut ist es ihnen meistens nicht angekommen. Abgesehen von den Tessiner Unruhen haben die Verfassungs- kümpfe ihren Abschluß gefunden mit der Bundesrevision, die am 19. April 1874 vom Volke mit 340199 gegen 198013 Stimmen und mit 14gegen 7 Standesvoten angenommen worden ist. Dem Auslande gegenüber haben die schweizerischen Staatsmänner meistens kaltes Blut bewahrt und haben ihr Schifflein von den Zeiten der heiligen Allianz bis auf die Wohlgemuthperiode zwischen allen Klippen geschickt hindurch gesteuert. An schwierigen Lagen hat es nicht gefehlt, z. B. 1848, als Mazzini die Schweiz zum Hauptquartier der europäischen Revolution*) machte, König Karl Albert von Sardinien ihr ein *) Eine Geschichte der deutschen Revolutionäre in der Schweiz in einer etwas frühern Periode hat soeben I)r, Heinrich Schmidt herausgegeben unter dem Titel: Die deutschen Flüchtlinge in der Schweiz und die erste deutsche Arbeiterbewegung 1833 bis 1836 (Zürich, Buchhandlung des Grütlivereins, 1899), Grcnzbo-e» III 1899 74

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/593>, abgerufen am 15.01.2025.