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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Die Rechtscmwaltschaft bei den Amtsgerichten

das Notariat in Preußen weit eher dem Amtsgerichtsanwalt als dem Land¬
gerichtsanwalt übertragen wird. Überdies hängt die erwähnte Vorschrift der
Rechtsanwaltsvrdnung auf das engste zusammen mit den Vorschriften der
Zivilprozeßordnung; denn Mündlichkeit des Verfahrens und Parteitrieb er¬
fordern, daß der Anwalt, sollen Störungen und Schwierigkeiten aller Art ver¬
mieden werden, möglichst am Sitz des Prozeßgerichts wohnt. Die geschil¬
derten Mißstände einer auf den Einzelrichter beschränkten Nechtsauwaltschaft
sind vielmehr die notwendige Folge der heutige" Gerichtsverfassung mit ihrer
doppelköpfigen ersten Instanz von Landgerichten und Amtsgerichten. Während
der Geltung der altpreußischen Gerichtsverfassung waren solche Mißstände nicht
vorhanden. Die Gerichtsbarkeit erster Instanz wurde gehandhabt durch die
"Kreisgerichte"; es waren dies Kollegialgerichte von mindestens fünf Richtern,
an deren Spitze ein Direktor stand. Drei dieser Richter hatten als sogenannte
"erste Abteilung" die Obliegenheiten der heutigen Zivil- und Strafkammern;
sie arbeiteten also als Kollegium. Dieselben oder andre Richter bearbeiteten
andre Rechtsangelegenheiten (z. B. Prozesse bis 150 Mark, Grundbuch- und
Vormundschaftssachen) auch wieder als Einzelrichter; ein solches Kreisgericht
war fast in jeder Kreisstadt, also fast ausnahmslos in jedem Städtchen von
2000 Einwohnern; bei jedem solchen Kreisgericht waren mindestens zwei
Rechtsanwültc "angestellt." Die Vorzüge dieser Gerichtsverfassung liegen auf
der Hand. Fast jede einzige Stadt hatte ihr Kollegialgericht, sodaß schon
durch Ersparung von Reisen zum auswärtigen Gerichtssitz die Rechtspflege
viel billiger war als heute; der preußische Kreisrichter war zugleich Einzel-
richter und Mitglied des Kollegialgerichts, vereinigte also die Vorzüge beider
Stellungen; am Sitze jedes Gerichts war in der Person des Kreisgerichts¬
direktors zugleich der Aufsichtsbeamte, der Vorgesetzte der Richter und aller
übrigen Beamten, eine zweifellos zur Beförderung der Amtszucht und Ab¬
stellung von Mängeln sehr geeignete Einrichtung; endlich übten die Rechts-
anwälte die Praxis jederzeit bei einem Kollegialgericht aus, waren also niemals
auf die Thätigkeit vor dem Einzelrichter beschränkt. Eine Aussicht, daß die
Reichsgesetzgebung zu den bewährten Grundsätzen der preußischen Gerichtsver¬
fassung zurückkehrt, ist anscheinend nicht vorhanden; und so werden die ge¬
schilderten Mißstände in der Rechtsanwaltschaft, wie sie durch die heutige
Gerichtsverfassung verursacht sind, dauernd beibehalten werden müssen.




Die Rechtscmwaltschaft bei den Amtsgerichten

das Notariat in Preußen weit eher dem Amtsgerichtsanwalt als dem Land¬
gerichtsanwalt übertragen wird. Überdies hängt die erwähnte Vorschrift der
Rechtsanwaltsvrdnung auf das engste zusammen mit den Vorschriften der
Zivilprozeßordnung; denn Mündlichkeit des Verfahrens und Parteitrieb er¬
fordern, daß der Anwalt, sollen Störungen und Schwierigkeiten aller Art ver¬
mieden werden, möglichst am Sitz des Prozeßgerichts wohnt. Die geschil¬
derten Mißstände einer auf den Einzelrichter beschränkten Nechtsauwaltschaft
sind vielmehr die notwendige Folge der heutige» Gerichtsverfassung mit ihrer
doppelköpfigen ersten Instanz von Landgerichten und Amtsgerichten. Während
der Geltung der altpreußischen Gerichtsverfassung waren solche Mißstände nicht
vorhanden. Die Gerichtsbarkeit erster Instanz wurde gehandhabt durch die
„Kreisgerichte"; es waren dies Kollegialgerichte von mindestens fünf Richtern,
an deren Spitze ein Direktor stand. Drei dieser Richter hatten als sogenannte
„erste Abteilung" die Obliegenheiten der heutigen Zivil- und Strafkammern;
sie arbeiteten also als Kollegium. Dieselben oder andre Richter bearbeiteten
andre Rechtsangelegenheiten (z. B. Prozesse bis 150 Mark, Grundbuch- und
Vormundschaftssachen) auch wieder als Einzelrichter; ein solches Kreisgericht
war fast in jeder Kreisstadt, also fast ausnahmslos in jedem Städtchen von
2000 Einwohnern; bei jedem solchen Kreisgericht waren mindestens zwei
Rechtsanwültc „angestellt." Die Vorzüge dieser Gerichtsverfassung liegen auf
der Hand. Fast jede einzige Stadt hatte ihr Kollegialgericht, sodaß schon
durch Ersparung von Reisen zum auswärtigen Gerichtssitz die Rechtspflege
viel billiger war als heute; der preußische Kreisrichter war zugleich Einzel-
richter und Mitglied des Kollegialgerichts, vereinigte also die Vorzüge beider
Stellungen; am Sitze jedes Gerichts war in der Person des Kreisgerichts¬
direktors zugleich der Aufsichtsbeamte, der Vorgesetzte der Richter und aller
übrigen Beamten, eine zweifellos zur Beförderung der Amtszucht und Ab¬
stellung von Mängeln sehr geeignete Einrichtung; endlich übten die Rechts-
anwälte die Praxis jederzeit bei einem Kollegialgericht aus, waren also niemals
auf die Thätigkeit vor dem Einzelrichter beschränkt. Eine Aussicht, daß die
Reichsgesetzgebung zu den bewährten Grundsätzen der preußischen Gerichtsver¬
fassung zurückkehrt, ist anscheinend nicht vorhanden; und so werden die ge¬
schilderten Mißstände in der Rechtsanwaltschaft, wie sie durch die heutige
Gerichtsverfassung verursacht sind, dauernd beibehalten werden müssen.




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[0544] Die Rechtscmwaltschaft bei den Amtsgerichten das Notariat in Preußen weit eher dem Amtsgerichtsanwalt als dem Land¬ gerichtsanwalt übertragen wird. Überdies hängt die erwähnte Vorschrift der Rechtsanwaltsvrdnung auf das engste zusammen mit den Vorschriften der Zivilprozeßordnung; denn Mündlichkeit des Verfahrens und Parteitrieb er¬ fordern, daß der Anwalt, sollen Störungen und Schwierigkeiten aller Art ver¬ mieden werden, möglichst am Sitz des Prozeßgerichts wohnt. Die geschil¬ derten Mißstände einer auf den Einzelrichter beschränkten Nechtsauwaltschaft sind vielmehr die notwendige Folge der heutige» Gerichtsverfassung mit ihrer doppelköpfigen ersten Instanz von Landgerichten und Amtsgerichten. Während der Geltung der altpreußischen Gerichtsverfassung waren solche Mißstände nicht vorhanden. Die Gerichtsbarkeit erster Instanz wurde gehandhabt durch die „Kreisgerichte"; es waren dies Kollegialgerichte von mindestens fünf Richtern, an deren Spitze ein Direktor stand. Drei dieser Richter hatten als sogenannte „erste Abteilung" die Obliegenheiten der heutigen Zivil- und Strafkammern; sie arbeiteten also als Kollegium. Dieselben oder andre Richter bearbeiteten andre Rechtsangelegenheiten (z. B. Prozesse bis 150 Mark, Grundbuch- und Vormundschaftssachen) auch wieder als Einzelrichter; ein solches Kreisgericht war fast in jeder Kreisstadt, also fast ausnahmslos in jedem Städtchen von 2000 Einwohnern; bei jedem solchen Kreisgericht waren mindestens zwei Rechtsanwültc „angestellt." Die Vorzüge dieser Gerichtsverfassung liegen auf der Hand. Fast jede einzige Stadt hatte ihr Kollegialgericht, sodaß schon durch Ersparung von Reisen zum auswärtigen Gerichtssitz die Rechtspflege viel billiger war als heute; der preußische Kreisrichter war zugleich Einzel- richter und Mitglied des Kollegialgerichts, vereinigte also die Vorzüge beider Stellungen; am Sitze jedes Gerichts war in der Person des Kreisgerichts¬ direktors zugleich der Aufsichtsbeamte, der Vorgesetzte der Richter und aller übrigen Beamten, eine zweifellos zur Beförderung der Amtszucht und Ab¬ stellung von Mängeln sehr geeignete Einrichtung; endlich übten die Rechts- anwälte die Praxis jederzeit bei einem Kollegialgericht aus, waren also niemals auf die Thätigkeit vor dem Einzelrichter beschränkt. Eine Aussicht, daß die Reichsgesetzgebung zu den bewährten Grundsätzen der preußischen Gerichtsver¬ fassung zurückkehrt, ist anscheinend nicht vorhanden; und so werden die ge¬ schilderten Mißstände in der Rechtsanwaltschaft, wie sie durch die heutige Gerichtsverfassung verursacht sind, dauernd beibehalten werden müssen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/544>, abgerufen am 15.01.2025.