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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Briefe eines Zurückgekehrten

ihrer Geschichte, ist man den Polen, den Litauern gegenüber sehr rücksichtsvoll
verfahren. Man ist nur mit Anforderungen der Kultur, nicht der Politik
an sie herangetreten. Die Masuren, die Litauer, die protestantischen Polen
Schlesiens haben sich zu einem guten Teil selbst germanisiert. Auf die preußische
Germanisation hätten sie lange warten können.

Laß mich zur Gegenwart zurückkehren und entschuldige, wenn ich hier
von Dingen geredet habe, die, ich vielleicht in einigen Monaten anders, wenn
auch vielleicht nicht besser verstehn werde. Die Gedanken fliegen voraus, wie
die Seevögel, die mit ihren langen weißen Sichelschwingen den Schaum der
Wettertanne aufflattern machen. Gestern versank die atlantische Küste Nord¬
amerikas. Nun noch eine Woche Wasser und Himmel, und eine andre Küste
wird auftauchen. Ihre ferne flache Linie wird uns dann gerade so fremd vor¬
kommen wie die so wohlbekannte amerikanische, die schon im Nebel entschwindet.
Was sind denn diese Linien überhaupt anders als schattenhafte Ausdrücke für
den allgemeinen Begriff "Land"? Kein Haus, kein Baum, kein Tier, nnr ein
welliger graulicher Saum am Horizont. Es ist wie eben gebornes Land, das
gerade hervortaucht, noch feucht, wie es im Schoß des Meeres lag, von un¬
bestimmten Umrissen, noch nicht aus- und durchgebildet. Was daraus zu uns
spricht, das ist von uns erst hineingelegt worden. Es ist nicht Amerika und
nicht Europa, es ist Land überhaupt. Genau so war das Land lange, ehe
menschliche Angen es erblickten. Es ist in seiner Wesenlosigkeit eines der ältesten
Landschaftsbilder überhaupt. Nur das Meer selbst ist noch älter, die Urmutter
der Erde und des Lebens. Darum verlange auch niemand vom Meere die
Schönheit der Wiese oder des Waldes. Das Meer ist eine große, stille Quelle,
aber was sie ununterbrochen ergießt, das sieht nur ein geistiges Auge. Das
Meer ist ein gewaltiges Gefäß voll Möglichkeiten, aber was sich daraus ver¬
wirklicht hat und verwirklichen wird, sieht wieder nur ein geistiges Auge.
Das Meer ist ein riesiges Grab, worin Millionen Generationen ruhen, aber
nur Lot und Fangnetz dringen in seine Tiefe. Das Meer ist eine gewaltige
Kraft, von deren Größe Sturm und Vrandnngswelle nnr eine Ahnung geben.
Das durchsichtige Grün des Wellengipfels, die Ringe der Schaumstreifen, das
nächtliche Leuchten in der Kielfurche, das alles ist nur ein Träumen von der
Wirklichkeit dieses gewaltigen, ewig an die Erde gefesselten, sich ewig auf¬
bäumenden Niesen.

Ich las vor einiger Zeit in Darwins "Reise um die Welt" kleinliche
Bemerkungen über den Eindruck der Meeresbilder: "Und welches sind die so
gerühmten Herrlichkeiten des unendliche" Ozeans? Eine langweilige Öde, eine
Wnsserwüste, wie der Araber ihn nennt. Es giebt allerdings einige entzückende
Szenen. Eine Mondnacht mit dem klaren Himmel und dem dunkeln glitzernden
Meere, und die weißen Segel mit der weichen Luft eines sanft wehenden
Passatwindes gefüllt; eine Windstille, wo sich nur die spiegelglatte Oberfläche


Briefe eines Zurückgekehrten

ihrer Geschichte, ist man den Polen, den Litauern gegenüber sehr rücksichtsvoll
verfahren. Man ist nur mit Anforderungen der Kultur, nicht der Politik
an sie herangetreten. Die Masuren, die Litauer, die protestantischen Polen
Schlesiens haben sich zu einem guten Teil selbst germanisiert. Auf die preußische
Germanisation hätten sie lange warten können.

Laß mich zur Gegenwart zurückkehren und entschuldige, wenn ich hier
von Dingen geredet habe, die, ich vielleicht in einigen Monaten anders, wenn
auch vielleicht nicht besser verstehn werde. Die Gedanken fliegen voraus, wie
die Seevögel, die mit ihren langen weißen Sichelschwingen den Schaum der
Wettertanne aufflattern machen. Gestern versank die atlantische Küste Nord¬
amerikas. Nun noch eine Woche Wasser und Himmel, und eine andre Küste
wird auftauchen. Ihre ferne flache Linie wird uns dann gerade so fremd vor¬
kommen wie die so wohlbekannte amerikanische, die schon im Nebel entschwindet.
Was sind denn diese Linien überhaupt anders als schattenhafte Ausdrücke für
den allgemeinen Begriff „Land"? Kein Haus, kein Baum, kein Tier, nnr ein
welliger graulicher Saum am Horizont. Es ist wie eben gebornes Land, das
gerade hervortaucht, noch feucht, wie es im Schoß des Meeres lag, von un¬
bestimmten Umrissen, noch nicht aus- und durchgebildet. Was daraus zu uns
spricht, das ist von uns erst hineingelegt worden. Es ist nicht Amerika und
nicht Europa, es ist Land überhaupt. Genau so war das Land lange, ehe
menschliche Angen es erblickten. Es ist in seiner Wesenlosigkeit eines der ältesten
Landschaftsbilder überhaupt. Nur das Meer selbst ist noch älter, die Urmutter
der Erde und des Lebens. Darum verlange auch niemand vom Meere die
Schönheit der Wiese oder des Waldes. Das Meer ist eine große, stille Quelle,
aber was sie ununterbrochen ergießt, das sieht nur ein geistiges Auge. Das
Meer ist ein gewaltiges Gefäß voll Möglichkeiten, aber was sich daraus ver¬
wirklicht hat und verwirklichen wird, sieht wieder nur ein geistiges Auge.
Das Meer ist ein riesiges Grab, worin Millionen Generationen ruhen, aber
nur Lot und Fangnetz dringen in seine Tiefe. Das Meer ist eine gewaltige
Kraft, von deren Größe Sturm und Vrandnngswelle nnr eine Ahnung geben.
Das durchsichtige Grün des Wellengipfels, die Ringe der Schaumstreifen, das
nächtliche Leuchten in der Kielfurche, das alles ist nur ein Träumen von der
Wirklichkeit dieses gewaltigen, ewig an die Erde gefesselten, sich ewig auf¬
bäumenden Niesen.

Ich las vor einiger Zeit in Darwins „Reise um die Welt" kleinliche
Bemerkungen über den Eindruck der Meeresbilder: „Und welches sind die so
gerühmten Herrlichkeiten des unendliche» Ozeans? Eine langweilige Öde, eine
Wnsserwüste, wie der Araber ihn nennt. Es giebt allerdings einige entzückende
Szenen. Eine Mondnacht mit dem klaren Himmel und dem dunkeln glitzernden
Meere, und die weißen Segel mit der weichen Luft eines sanft wehenden
Passatwindes gefüllt; eine Windstille, wo sich nur die spiegelglatte Oberfläche


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[0349] Briefe eines Zurückgekehrten ihrer Geschichte, ist man den Polen, den Litauern gegenüber sehr rücksichtsvoll verfahren. Man ist nur mit Anforderungen der Kultur, nicht der Politik an sie herangetreten. Die Masuren, die Litauer, die protestantischen Polen Schlesiens haben sich zu einem guten Teil selbst germanisiert. Auf die preußische Germanisation hätten sie lange warten können. Laß mich zur Gegenwart zurückkehren und entschuldige, wenn ich hier von Dingen geredet habe, die, ich vielleicht in einigen Monaten anders, wenn auch vielleicht nicht besser verstehn werde. Die Gedanken fliegen voraus, wie die Seevögel, die mit ihren langen weißen Sichelschwingen den Schaum der Wettertanne aufflattern machen. Gestern versank die atlantische Küste Nord¬ amerikas. Nun noch eine Woche Wasser und Himmel, und eine andre Küste wird auftauchen. Ihre ferne flache Linie wird uns dann gerade so fremd vor¬ kommen wie die so wohlbekannte amerikanische, die schon im Nebel entschwindet. Was sind denn diese Linien überhaupt anders als schattenhafte Ausdrücke für den allgemeinen Begriff „Land"? Kein Haus, kein Baum, kein Tier, nnr ein welliger graulicher Saum am Horizont. Es ist wie eben gebornes Land, das gerade hervortaucht, noch feucht, wie es im Schoß des Meeres lag, von un¬ bestimmten Umrissen, noch nicht aus- und durchgebildet. Was daraus zu uns spricht, das ist von uns erst hineingelegt worden. Es ist nicht Amerika und nicht Europa, es ist Land überhaupt. Genau so war das Land lange, ehe menschliche Angen es erblickten. Es ist in seiner Wesenlosigkeit eines der ältesten Landschaftsbilder überhaupt. Nur das Meer selbst ist noch älter, die Urmutter der Erde und des Lebens. Darum verlange auch niemand vom Meere die Schönheit der Wiese oder des Waldes. Das Meer ist eine große, stille Quelle, aber was sie ununterbrochen ergießt, das sieht nur ein geistiges Auge. Das Meer ist ein gewaltiges Gefäß voll Möglichkeiten, aber was sich daraus ver¬ wirklicht hat und verwirklichen wird, sieht wieder nur ein geistiges Auge. Das Meer ist ein riesiges Grab, worin Millionen Generationen ruhen, aber nur Lot und Fangnetz dringen in seine Tiefe. Das Meer ist eine gewaltige Kraft, von deren Größe Sturm und Vrandnngswelle nnr eine Ahnung geben. Das durchsichtige Grün des Wellengipfels, die Ringe der Schaumstreifen, das nächtliche Leuchten in der Kielfurche, das alles ist nur ein Träumen von der Wirklichkeit dieses gewaltigen, ewig an die Erde gefesselten, sich ewig auf¬ bäumenden Niesen. Ich las vor einiger Zeit in Darwins „Reise um die Welt" kleinliche Bemerkungen über den Eindruck der Meeresbilder: „Und welches sind die so gerühmten Herrlichkeiten des unendliche» Ozeans? Eine langweilige Öde, eine Wnsserwüste, wie der Araber ihn nennt. Es giebt allerdings einige entzückende Szenen. Eine Mondnacht mit dem klaren Himmel und dem dunkeln glitzernden Meere, und die weißen Segel mit der weichen Luft eines sanft wehenden Passatwindes gefüllt; eine Windstille, wo sich nur die spiegelglatte Oberfläche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/349>, abgerufen am 15.01.2025.