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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Lriefe eines Zurückgekehrten

aus Verzweiflung an der Fremde, die ihnen nicht erlauben will, in die schöne
Heimat zurückzukehren, sind bei Franzosen häufiger als bei jeder andern Nation.
Als ich in einem kleinen Gasthaus eines verfallnen Nestes in den Dünen des
Stillen Ozeans lebte -- es war eine Oase von Behagen inmitten von Öde
nud Armut --, trat der Wirt, ein kleiner Franzose, am ersten Vormittag mit
zwei Schnapsgläschen und einer Flasche Mezcalbranntwein auf gläsernen Brett
in mein Zimmer und bat mich, ein Gläschen mit mir trinken zu dürfen. Er
plauderte eine Viertelstunde und zog sich dann mit der feinen Höflichkeit zurück,
die dem weichen, allzu weichen Gemüt des Franzosen entstammt, weshalb sie
anch an keine Stufe von Bildung oder gar Besitz gebunden ist. Die kurzen
Sitzungen wiederholten sich jeden Tag. Der Mann erzählte mir aus seinem
Leben und dem Leben seiner Gefährten, alles, was er erzählte, endete unglück¬
lich, kaum einem Franzosen war es in diesem Staate gelungen, sein Leben "zu
machen," und viele hatten mit Selbstmord geendet. Jetzt stand er allein im
Kampf ums Brot und, was für ihn mehr war, um ein anständiges Leben,
mit Italienern, deren Wettbewerb ihn hart bedrängte. Ich war noch nicht
vier Wochen wieder in meine Stadt zurückgekehrt, als ich die Nachricht erhielt,
daß mein französischer Gastfreund sich erhängt habe. Und diese Nachricht lief
bei mir an demselben Tage ein, an dem die Washingtoner Zeitungen den
Selbstmord des französischen Botschafters bei der Regierung der Vereinigten
Staaten meldeten.

So verzehrt von Heimatsehnsucht wie Franzosen, und so leidenschaftlich
die Heimat umfassend wie Iren habe ich Deutsche selten gefunden, fast nie.
Der Deutsche läßt sich selten von eiuer Empfindung ganz erfassen, er brennt
selten lichterloh, er hat immer einen Vorrat von abkühlenden Reflexionen, mit
denen er unzeitgemäße Entflammungen zu löschen weiß. Es sind darunter
Eigenschaften, die ich nicht lieben und nicht loben kann, und die ich übrigens
jetzt auch uicht cmscinanderfasern möchte. Es sind darunter auch Eigenschaften
von der größten Bedeutung für Deutschland und für andre Länder, Im
Deutschen lebt eine erstaunlich starke Teilnahme für Dinge, Menschen, Vor¬
gänge um ihn her. Es kostet ihn gar nichts, jeden Augenblick so objektiv zu
werden, daß er mit dem, was ihn gerade fesselt, völlig verschmilzt. Daher
seine Wanderlust, seine Forschbegier, sein Grübeln und sein Verbohren, seine
Einwurzelung im fremdesten Boden. Darum ist er ja der geborne Kolonist,
der den Russen Sibirien, den Amerikanern Amerika, den Holländern Indien
erwerben hilft. Etwas hat das neue Reich daran geändert. Ich merke es
an der jungen Generation der Landsleute. daß ihr Blut in vollem Wellen
durch die Adern pulst und nicht mehr so dünn wie früher, wo es viel Raum
für die Transfusion fremdester Säfte ließ. Ich sehe in den letzten dreißig
Jahren nicht mehr soviel grüne blühende Schosse des alten Patriotismus ab¬
welken, die nicht weiterleben konnten, weil sie dem Kirchturm-, Hütten-, Gräber-,


Lriefe eines Zurückgekehrten

aus Verzweiflung an der Fremde, die ihnen nicht erlauben will, in die schöne
Heimat zurückzukehren, sind bei Franzosen häufiger als bei jeder andern Nation.
Als ich in einem kleinen Gasthaus eines verfallnen Nestes in den Dünen des
Stillen Ozeans lebte — es war eine Oase von Behagen inmitten von Öde
nud Armut —, trat der Wirt, ein kleiner Franzose, am ersten Vormittag mit
zwei Schnapsgläschen und einer Flasche Mezcalbranntwein auf gläsernen Brett
in mein Zimmer und bat mich, ein Gläschen mit mir trinken zu dürfen. Er
plauderte eine Viertelstunde und zog sich dann mit der feinen Höflichkeit zurück,
die dem weichen, allzu weichen Gemüt des Franzosen entstammt, weshalb sie
anch an keine Stufe von Bildung oder gar Besitz gebunden ist. Die kurzen
Sitzungen wiederholten sich jeden Tag. Der Mann erzählte mir aus seinem
Leben und dem Leben seiner Gefährten, alles, was er erzählte, endete unglück¬
lich, kaum einem Franzosen war es in diesem Staate gelungen, sein Leben „zu
machen," und viele hatten mit Selbstmord geendet. Jetzt stand er allein im
Kampf ums Brot und, was für ihn mehr war, um ein anständiges Leben,
mit Italienern, deren Wettbewerb ihn hart bedrängte. Ich war noch nicht
vier Wochen wieder in meine Stadt zurückgekehrt, als ich die Nachricht erhielt,
daß mein französischer Gastfreund sich erhängt habe. Und diese Nachricht lief
bei mir an demselben Tage ein, an dem die Washingtoner Zeitungen den
Selbstmord des französischen Botschafters bei der Regierung der Vereinigten
Staaten meldeten.

So verzehrt von Heimatsehnsucht wie Franzosen, und so leidenschaftlich
die Heimat umfassend wie Iren habe ich Deutsche selten gefunden, fast nie.
Der Deutsche läßt sich selten von eiuer Empfindung ganz erfassen, er brennt
selten lichterloh, er hat immer einen Vorrat von abkühlenden Reflexionen, mit
denen er unzeitgemäße Entflammungen zu löschen weiß. Es sind darunter
Eigenschaften, die ich nicht lieben und nicht loben kann, und die ich übrigens
jetzt auch uicht cmscinanderfasern möchte. Es sind darunter auch Eigenschaften
von der größten Bedeutung für Deutschland und für andre Länder, Im
Deutschen lebt eine erstaunlich starke Teilnahme für Dinge, Menschen, Vor¬
gänge um ihn her. Es kostet ihn gar nichts, jeden Augenblick so objektiv zu
werden, daß er mit dem, was ihn gerade fesselt, völlig verschmilzt. Daher
seine Wanderlust, seine Forschbegier, sein Grübeln und sein Verbohren, seine
Einwurzelung im fremdesten Boden. Darum ist er ja der geborne Kolonist,
der den Russen Sibirien, den Amerikanern Amerika, den Holländern Indien
erwerben hilft. Etwas hat das neue Reich daran geändert. Ich merke es
an der jungen Generation der Landsleute. daß ihr Blut in vollem Wellen
durch die Adern pulst und nicht mehr so dünn wie früher, wo es viel Raum
für die Transfusion fremdester Säfte ließ. Ich sehe in den letzten dreißig
Jahren nicht mehr soviel grüne blühende Schosse des alten Patriotismus ab¬
welken, die nicht weiterleben konnten, weil sie dem Kirchturm-, Hütten-, Gräber-,


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[0347] Lriefe eines Zurückgekehrten aus Verzweiflung an der Fremde, die ihnen nicht erlauben will, in die schöne Heimat zurückzukehren, sind bei Franzosen häufiger als bei jeder andern Nation. Als ich in einem kleinen Gasthaus eines verfallnen Nestes in den Dünen des Stillen Ozeans lebte — es war eine Oase von Behagen inmitten von Öde nud Armut —, trat der Wirt, ein kleiner Franzose, am ersten Vormittag mit zwei Schnapsgläschen und einer Flasche Mezcalbranntwein auf gläsernen Brett in mein Zimmer und bat mich, ein Gläschen mit mir trinken zu dürfen. Er plauderte eine Viertelstunde und zog sich dann mit der feinen Höflichkeit zurück, die dem weichen, allzu weichen Gemüt des Franzosen entstammt, weshalb sie anch an keine Stufe von Bildung oder gar Besitz gebunden ist. Die kurzen Sitzungen wiederholten sich jeden Tag. Der Mann erzählte mir aus seinem Leben und dem Leben seiner Gefährten, alles, was er erzählte, endete unglück¬ lich, kaum einem Franzosen war es in diesem Staate gelungen, sein Leben „zu machen," und viele hatten mit Selbstmord geendet. Jetzt stand er allein im Kampf ums Brot und, was für ihn mehr war, um ein anständiges Leben, mit Italienern, deren Wettbewerb ihn hart bedrängte. Ich war noch nicht vier Wochen wieder in meine Stadt zurückgekehrt, als ich die Nachricht erhielt, daß mein französischer Gastfreund sich erhängt habe. Und diese Nachricht lief bei mir an demselben Tage ein, an dem die Washingtoner Zeitungen den Selbstmord des französischen Botschafters bei der Regierung der Vereinigten Staaten meldeten. So verzehrt von Heimatsehnsucht wie Franzosen, und so leidenschaftlich die Heimat umfassend wie Iren habe ich Deutsche selten gefunden, fast nie. Der Deutsche läßt sich selten von eiuer Empfindung ganz erfassen, er brennt selten lichterloh, er hat immer einen Vorrat von abkühlenden Reflexionen, mit denen er unzeitgemäße Entflammungen zu löschen weiß. Es sind darunter Eigenschaften, die ich nicht lieben und nicht loben kann, und die ich übrigens jetzt auch uicht cmscinanderfasern möchte. Es sind darunter auch Eigenschaften von der größten Bedeutung für Deutschland und für andre Länder, Im Deutschen lebt eine erstaunlich starke Teilnahme für Dinge, Menschen, Vor¬ gänge um ihn her. Es kostet ihn gar nichts, jeden Augenblick so objektiv zu werden, daß er mit dem, was ihn gerade fesselt, völlig verschmilzt. Daher seine Wanderlust, seine Forschbegier, sein Grübeln und sein Verbohren, seine Einwurzelung im fremdesten Boden. Darum ist er ja der geborne Kolonist, der den Russen Sibirien, den Amerikanern Amerika, den Holländern Indien erwerben hilft. Etwas hat das neue Reich daran geändert. Ich merke es an der jungen Generation der Landsleute. daß ihr Blut in vollem Wellen durch die Adern pulst und nicht mehr so dünn wie früher, wo es viel Raum für die Transfusion fremdester Säfte ließ. Ich sehe in den letzten dreißig Jahren nicht mehr soviel grüne blühende Schosse des alten Patriotismus ab¬ welken, die nicht weiterleben konnten, weil sie dem Kirchturm-, Hütten-, Gräber-,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/347>, abgerufen am 15.01.2025.