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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Was lehrt der erste Tuberkulosekongreß?

Zeitpunkt, wo die Heilbestrebungen einsetzen müssen, um Erfolg zu erzielen,
verpaßt ist. Die Sorge für die Familie ist für den Arbeiter der Trieb, sich,
so lange es nur irgend geht, nicht krank zu melden; deshalb soll sie ihm ab¬
genommen werden. Nach Stabsarzt Pannwitz ist diese Familienfürsorge ein
integrierender Teil der ganzen Heilstättenfrage. Ohne die Lösung dieser Frage
wird die Kur entweder zu spät begonnen oder zu früh abgebrochen. Ohne
die Sicherung der Existenz der Familie des in der Heilstätte verpflegten Kranken
kann aber die Kur kaum einen Erfolg haben, weil seelisches Wohlbefinden, so¬
zusagen eine psychische Hygiene, zu den Bestandteilen des Heilapparats gehört,
weil Sorgen um Frau und Kinder gewiß nicht den so notwendigen Appetit
günstig beeinflussen, eine Überernährung aber, die in den meisten Fällen not¬
wendig ist, ganz unmöglich machen. Nach Stabsarzt Pannwitz sollen die
Mittel der Krankenkassenfürsorge der Unterstützung der Angehörigen erhalten
bleiben. Alle öffentliche Fürsorge indes, sagt er, wird das Fürsorgebedürfnis
in seiner Gesamtheit zu decken nicht imstande sein. Ein Teil davon wird immer
der Wohlfahrts- und Wohlthätigkeitspslege überlassen bleiben.

Also nicht nur der Bau und die Erhaltung der Heilstätten, sondern auch
die Familienfürsorge wird wesentlich von der werkthätigen Nächstenliebe, von
der Wohlthätigkeit erwartet. Man braucht kein Pessimist zu sein, und man
wird doch voraussage" können, daß die Wirklichkeit hinter diesen Erwartungen
zurückbleiben wird. Andrerseits muß auch berücksichtigt werden, daß es gar
viele Arbeiter in den großen Städten giebt, deren Selbstbewußtsein zu groß
ist, als daß sie Wohlthaten annähmen, und die es deshalb vorziehn, so lange
als nur irgend möglich zu arbeiten, selbst auf die Gefahr hin, keine Heilung
mehr zu finden, eine Gefahr, deren sich die Schwindsüchtigen selten bewußt
werden, da gerade sie der Erfahrung nach von einem fast unbegreiflichen Opti¬
mismus wegen ihres Zustandes befangen sind.

So sehen wir, wie sich Schwierigkeiten ans Schwierigkeiten türmen, wenn
man an das Problem herangeht, die große Zahl der Lungenschwindsüchtigeu
zu heilen oder wenigstens bis zur Erwerbsfähigkeit zu bessern. Deshalb
muß das Hauptgewicht auf die Prophylaxe, auf die Verhütung der Tuber¬
kulose gelegt werden. Jeder erreichbare Tuberkelbazillus muß unschädlich ge¬
macht werden. Das wird sicher gelingen, soweit dieser Mikroorganismus vom
Tiere und von der tierischen Nahrung her droht. Es ist wohl zu erreichen,
daß alle Milch nur in gekochtem Zustande genossen, daß alles tuberkulöse
Fleisch vernichtet wird. Das Reichsfleischschaugesetz wird in der Richtung
segensreich wirken.

Schwieriger dagegen ist die Vernichtung der Tuberkelbazillen, die von den
kranken Menschen aus in die Öffentlichkeit gelangen und die Atmungsorgane
der durch ihren Körperbau usw. disponierten Mitmenschen bedrohen. Das
wichtigste Vorbeugungsmittel gegen die Tuberkulose, sagt Medizinalrat Noth


Was lehrt der erste Tuberkulosekongreß?

Zeitpunkt, wo die Heilbestrebungen einsetzen müssen, um Erfolg zu erzielen,
verpaßt ist. Die Sorge für die Familie ist für den Arbeiter der Trieb, sich,
so lange es nur irgend geht, nicht krank zu melden; deshalb soll sie ihm ab¬
genommen werden. Nach Stabsarzt Pannwitz ist diese Familienfürsorge ein
integrierender Teil der ganzen Heilstättenfrage. Ohne die Lösung dieser Frage
wird die Kur entweder zu spät begonnen oder zu früh abgebrochen. Ohne
die Sicherung der Existenz der Familie des in der Heilstätte verpflegten Kranken
kann aber die Kur kaum einen Erfolg haben, weil seelisches Wohlbefinden, so¬
zusagen eine psychische Hygiene, zu den Bestandteilen des Heilapparats gehört,
weil Sorgen um Frau und Kinder gewiß nicht den so notwendigen Appetit
günstig beeinflussen, eine Überernährung aber, die in den meisten Fällen not¬
wendig ist, ganz unmöglich machen. Nach Stabsarzt Pannwitz sollen die
Mittel der Krankenkassenfürsorge der Unterstützung der Angehörigen erhalten
bleiben. Alle öffentliche Fürsorge indes, sagt er, wird das Fürsorgebedürfnis
in seiner Gesamtheit zu decken nicht imstande sein. Ein Teil davon wird immer
der Wohlfahrts- und Wohlthätigkeitspslege überlassen bleiben.

Also nicht nur der Bau und die Erhaltung der Heilstätten, sondern auch
die Familienfürsorge wird wesentlich von der werkthätigen Nächstenliebe, von
der Wohlthätigkeit erwartet. Man braucht kein Pessimist zu sein, und man
wird doch voraussage» können, daß die Wirklichkeit hinter diesen Erwartungen
zurückbleiben wird. Andrerseits muß auch berücksichtigt werden, daß es gar
viele Arbeiter in den großen Städten giebt, deren Selbstbewußtsein zu groß
ist, als daß sie Wohlthaten annähmen, und die es deshalb vorziehn, so lange
als nur irgend möglich zu arbeiten, selbst auf die Gefahr hin, keine Heilung
mehr zu finden, eine Gefahr, deren sich die Schwindsüchtigen selten bewußt
werden, da gerade sie der Erfahrung nach von einem fast unbegreiflichen Opti¬
mismus wegen ihres Zustandes befangen sind.

So sehen wir, wie sich Schwierigkeiten ans Schwierigkeiten türmen, wenn
man an das Problem herangeht, die große Zahl der Lungenschwindsüchtigeu
zu heilen oder wenigstens bis zur Erwerbsfähigkeit zu bessern. Deshalb
muß das Hauptgewicht auf die Prophylaxe, auf die Verhütung der Tuber¬
kulose gelegt werden. Jeder erreichbare Tuberkelbazillus muß unschädlich ge¬
macht werden. Das wird sicher gelingen, soweit dieser Mikroorganismus vom
Tiere und von der tierischen Nahrung her droht. Es ist wohl zu erreichen,
daß alle Milch nur in gekochtem Zustande genossen, daß alles tuberkulöse
Fleisch vernichtet wird. Das Reichsfleischschaugesetz wird in der Richtung
segensreich wirken.

Schwieriger dagegen ist die Vernichtung der Tuberkelbazillen, die von den
kranken Menschen aus in die Öffentlichkeit gelangen und die Atmungsorgane
der durch ihren Körperbau usw. disponierten Mitmenschen bedrohen. Das
wichtigste Vorbeugungsmittel gegen die Tuberkulose, sagt Medizinalrat Noth


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[0108] Was lehrt der erste Tuberkulosekongreß? Zeitpunkt, wo die Heilbestrebungen einsetzen müssen, um Erfolg zu erzielen, verpaßt ist. Die Sorge für die Familie ist für den Arbeiter der Trieb, sich, so lange es nur irgend geht, nicht krank zu melden; deshalb soll sie ihm ab¬ genommen werden. Nach Stabsarzt Pannwitz ist diese Familienfürsorge ein integrierender Teil der ganzen Heilstättenfrage. Ohne die Lösung dieser Frage wird die Kur entweder zu spät begonnen oder zu früh abgebrochen. Ohne die Sicherung der Existenz der Familie des in der Heilstätte verpflegten Kranken kann aber die Kur kaum einen Erfolg haben, weil seelisches Wohlbefinden, so¬ zusagen eine psychische Hygiene, zu den Bestandteilen des Heilapparats gehört, weil Sorgen um Frau und Kinder gewiß nicht den so notwendigen Appetit günstig beeinflussen, eine Überernährung aber, die in den meisten Fällen not¬ wendig ist, ganz unmöglich machen. Nach Stabsarzt Pannwitz sollen die Mittel der Krankenkassenfürsorge der Unterstützung der Angehörigen erhalten bleiben. Alle öffentliche Fürsorge indes, sagt er, wird das Fürsorgebedürfnis in seiner Gesamtheit zu decken nicht imstande sein. Ein Teil davon wird immer der Wohlfahrts- und Wohlthätigkeitspslege überlassen bleiben. Also nicht nur der Bau und die Erhaltung der Heilstätten, sondern auch die Familienfürsorge wird wesentlich von der werkthätigen Nächstenliebe, von der Wohlthätigkeit erwartet. Man braucht kein Pessimist zu sein, und man wird doch voraussage» können, daß die Wirklichkeit hinter diesen Erwartungen zurückbleiben wird. Andrerseits muß auch berücksichtigt werden, daß es gar viele Arbeiter in den großen Städten giebt, deren Selbstbewußtsein zu groß ist, als daß sie Wohlthaten annähmen, und die es deshalb vorziehn, so lange als nur irgend möglich zu arbeiten, selbst auf die Gefahr hin, keine Heilung mehr zu finden, eine Gefahr, deren sich die Schwindsüchtigen selten bewußt werden, da gerade sie der Erfahrung nach von einem fast unbegreiflichen Opti¬ mismus wegen ihres Zustandes befangen sind. So sehen wir, wie sich Schwierigkeiten ans Schwierigkeiten türmen, wenn man an das Problem herangeht, die große Zahl der Lungenschwindsüchtigeu zu heilen oder wenigstens bis zur Erwerbsfähigkeit zu bessern. Deshalb muß das Hauptgewicht auf die Prophylaxe, auf die Verhütung der Tuber¬ kulose gelegt werden. Jeder erreichbare Tuberkelbazillus muß unschädlich ge¬ macht werden. Das wird sicher gelingen, soweit dieser Mikroorganismus vom Tiere und von der tierischen Nahrung her droht. Es ist wohl zu erreichen, daß alle Milch nur in gekochtem Zustande genossen, daß alles tuberkulöse Fleisch vernichtet wird. Das Reichsfleischschaugesetz wird in der Richtung segensreich wirken. Schwieriger dagegen ist die Vernichtung der Tuberkelbazillen, die von den kranken Menschen aus in die Öffentlichkeit gelangen und die Atmungsorgane der durch ihren Körperbau usw. disponierten Mitmenschen bedrohen. Das wichtigste Vorbeugungsmittel gegen die Tuberkulose, sagt Medizinalrat Noth

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/108>, abgerufen am 15.01.2025.