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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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lvas lehrt der erste Tuberkulosekongreß?

Lungenschwindsucht so wichtige Mittel ist vorhanden: das Fehlen jeder Sorge
für die eigne Existenz und für die seiner Familie.

Wie selten sind nun aber diese für die Heilung der Lungentuberkulose so
notwendigen Vorbedingungen im bürgerlichen Leben vorhanden!

Diese Krankheit befällt die Menschen vorwiegend im erwerbsfähigen Alter,
und nach Gebhardt, dem Direktor der Hanseatischen Versicherungsanstalt für
Invaliden und Alte, überschreitet ihre Verbreitung in den der Verhinderungs-
pflicht auf Grund der sozialpolitischen Gesetzgebung des Deutschen Reichs
unterworfnen Bevvlkeruugskreiseu weit die durchschnittliche Verbreitung der
Krankheit in der Gesamtbevölkerung, In Übereinstimmung damit steht die Angabe
des Vertrauensarztes der Zentralkommission der Krankenkassen Berlins, daß
in diesen jede zweite gebuchte Todesart bei den Arbeitern auf Schwindsucht
lautet, und zwar im besten Mannesalter. Damit darf wohl als bewiesen
gelten, daß die Tuberkulose wesentlich eine Krankheit des Proletariats ist.

Nach diesen Feststellungen muß es jedem, der die wirklichen Verhältnisse
kennt, der nicht Phantasmen nachjagt, klar sein, daß es unmöglich ist, allen be¬
dürftigen Kranken die Heilstättenbehandlnng zu teil werden zu lassen. Brouardel
aus Paris hat dies auch offen ausgesprochen. Landesrat Meyer (Berlin) hat
ausgerechnet, daß etwa sür 50000 Menschen Heilstätten zu schaffen wären,
die eine Bausumme von 100 Millionen und einen Jahresaufwcmd von 72 Mil¬
lionen Mark erfordern würden. Er erwartet nichts vom Reich oder von den
Organen der Selbstverwaltung, vielmehr alles von der freiwilligen Bethätigung
opferwilliger Kreise und von der thatkräftigen Nächstenliebe. Es muß dahin¬
gestellt bleiben, ob dieser Optimismus eine Berechtigung hat.

Die wichtigste Voraussetzung für die erfolgreiche Vehandlung in der Heil¬
stätte ist die rechtzeitige Zuführung des Kranken. Dabei darf der Begriff
der Erwerbsunfähigkeit, sagt der Vertrauensarzt der Berliner Krankenkassen
mit Recht, nicht so ausgelegt werden, daß darunter lediglich die physische Un¬
möglichkeit zur Weiterarbeit oder ein der Gesundheit des Erkrankten unmittel¬
bar drohender wesentlicher Nachteil zu verstehn ist, es muß vielmehr der Fall
der Heilstättcnfürsorge auch dann als vorliegend anerkannt werden, wenn von
dem Weiterarbeiten Beeinträchtigung oder Verlust der Arbeitsfähigkeit in ab¬
sehbarer Zeit zu befürchten ist, dem ebeu durch die rechtzeitige Einleitung des
Heilverfahrens vorgebeugt werdeu soll.

Diese Forderung ist ideal, und wir zweifeln nicht, daß die Kraukenkassen-
ärzte, soviel an ihnen liegt, sie erfüllen werden. Wir fürchten nur, daß der
Arbeiter, selbst nachdem er belehrt und zu hygienischer Denkweise erzogen
worden ist, wie es verschiedne Kongreßredner mit Recht verlangen, trotzdem
nicht bei jedem Hüsteln den Arzt aufsuchen oder vielleicht gerade aus Angst
vor der Entfernung ans der Arbeit und seinem Familienkreise erst wochenlang
mit sogenannten Hausmitteln an sich hernmknrieren wird, bis der günstigste


lvas lehrt der erste Tuberkulosekongreß?

Lungenschwindsucht so wichtige Mittel ist vorhanden: das Fehlen jeder Sorge
für die eigne Existenz und für die seiner Familie.

Wie selten sind nun aber diese für die Heilung der Lungentuberkulose so
notwendigen Vorbedingungen im bürgerlichen Leben vorhanden!

Diese Krankheit befällt die Menschen vorwiegend im erwerbsfähigen Alter,
und nach Gebhardt, dem Direktor der Hanseatischen Versicherungsanstalt für
Invaliden und Alte, überschreitet ihre Verbreitung in den der Verhinderungs-
pflicht auf Grund der sozialpolitischen Gesetzgebung des Deutschen Reichs
unterworfnen Bevvlkeruugskreiseu weit die durchschnittliche Verbreitung der
Krankheit in der Gesamtbevölkerung, In Übereinstimmung damit steht die Angabe
des Vertrauensarztes der Zentralkommission der Krankenkassen Berlins, daß
in diesen jede zweite gebuchte Todesart bei den Arbeitern auf Schwindsucht
lautet, und zwar im besten Mannesalter. Damit darf wohl als bewiesen
gelten, daß die Tuberkulose wesentlich eine Krankheit des Proletariats ist.

Nach diesen Feststellungen muß es jedem, der die wirklichen Verhältnisse
kennt, der nicht Phantasmen nachjagt, klar sein, daß es unmöglich ist, allen be¬
dürftigen Kranken die Heilstättenbehandlnng zu teil werden zu lassen. Brouardel
aus Paris hat dies auch offen ausgesprochen. Landesrat Meyer (Berlin) hat
ausgerechnet, daß etwa sür 50000 Menschen Heilstätten zu schaffen wären,
die eine Bausumme von 100 Millionen und einen Jahresaufwcmd von 72 Mil¬
lionen Mark erfordern würden. Er erwartet nichts vom Reich oder von den
Organen der Selbstverwaltung, vielmehr alles von der freiwilligen Bethätigung
opferwilliger Kreise und von der thatkräftigen Nächstenliebe. Es muß dahin¬
gestellt bleiben, ob dieser Optimismus eine Berechtigung hat.

Die wichtigste Voraussetzung für die erfolgreiche Vehandlung in der Heil¬
stätte ist die rechtzeitige Zuführung des Kranken. Dabei darf der Begriff
der Erwerbsunfähigkeit, sagt der Vertrauensarzt der Berliner Krankenkassen
mit Recht, nicht so ausgelegt werden, daß darunter lediglich die physische Un¬
möglichkeit zur Weiterarbeit oder ein der Gesundheit des Erkrankten unmittel¬
bar drohender wesentlicher Nachteil zu verstehn ist, es muß vielmehr der Fall
der Heilstättcnfürsorge auch dann als vorliegend anerkannt werden, wenn von
dem Weiterarbeiten Beeinträchtigung oder Verlust der Arbeitsfähigkeit in ab¬
sehbarer Zeit zu befürchten ist, dem ebeu durch die rechtzeitige Einleitung des
Heilverfahrens vorgebeugt werdeu soll.

Diese Forderung ist ideal, und wir zweifeln nicht, daß die Kraukenkassen-
ärzte, soviel an ihnen liegt, sie erfüllen werden. Wir fürchten nur, daß der
Arbeiter, selbst nachdem er belehrt und zu hygienischer Denkweise erzogen
worden ist, wie es verschiedne Kongreßredner mit Recht verlangen, trotzdem
nicht bei jedem Hüsteln den Arzt aufsuchen oder vielleicht gerade aus Angst
vor der Entfernung ans der Arbeit und seinem Familienkreise erst wochenlang
mit sogenannten Hausmitteln an sich hernmknrieren wird, bis der günstigste


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/107>, abgerufen am 15.01.2025.