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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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U)as lehrt der erste Tuberkulosekongresz?

deutung der Tuberkulose als Volksseuche ins hellste Licht gesetzt und zu einer
so vielseitigen und anregenden Betrachtung geführt, daß es für einen sozial¬
politisch interessierten Leserkreis von höchster Wichtigkeit sein muß, zu erfahren,
welche Lehren uns der Tuberkulosekongreß gebracht hat.

Erfreulich und tröstlich war zunächst die Übereinstimmung der referierenden
Ärzte in Bezug auf die Heilbarkeit der Lungentuberkulose oder Lungenschwind¬
sucht. Gar nicht dringend genug kann diese feststehende Thatsache immer
wieder betont werden; denn nichts beeinträchtigt die Vemühnngcn des Arztes
so sehr, wie die Annahme der UnHeilbarkeit der Krankheit, weil diese die für
die Heilung so notwendige seelische Kraft des Patienten untergräbt, und weil sie
auch den Erkrankten zurückhält, frühzeitig ärztliche Hilfe zu suchen und ärzt¬
liche Verordnungen streng zu befolgen. Die Hauptbedingung für die Heilung
besteht aber in der Frühdiagnose, die wieder von der frühzeitigen Beratung
durch einen Arzt abhängt.

Einig waren die Autoritäten auch darin, daß es unmöglich ist, auf den
Erreger der Lungenschwindsucht, den Tuberkelbazillus, im Sinne der Heilung
einzuwirken, daß vielmehr der von ihm befallne Mensch physikalisch, d. h. durch
die Einwirkung der Luft und des Wassers, und diätetisch, d. h. durch eine be¬
stimmte Lebensweise, insbesondre eine vorzügliche Ernährung, endlich auch mit
Arznei je nach den hervortretenden Symptomen behandelt werden muß. Einig
war man darin, daß ein Zusammenwirken dieser Heilmittel nur in Heilstätten
möglich ist, die von einem gut vorgebildeten Arzt geleitet werden, sür deren
Lage aber durchaus kein besondres Klima, wie man früher glaubte, erforderlich
ist. Einig war man leider auch darin, daß sich diese Heilbarkeit nur auf die
Anfangsstadien der Krankheit bezieht.

. Will man ungefähr ein Bild von den Erfolgen des Kampfes der Ärzte
gegen die Lungenschwindsucht gewinnen, so geben dazu die vortrefflichen Aus¬
führungen des ärztlichen Vertreters der Militärverwaltung die beste Anleitung.
Man erzielte im Heere, bei dessen Ausmusterung selbstverständlich alle als
krank Befundnen zurückgewiesen wurden, endgiltige Heilungen in 1,3 Prozent
und günstige Erfolge in 22 Prozent. Diesen 23,3 Prozent stehn 76,6 Prozent
gegenüber, die durch die ärztliche Behandlung nicht beeinflußt waren. 16 Pro¬
zent starben noch vor der Entlassung.

Das ist gewiß kein erfreuliches Bild, zumal wenn man weiß, mit welcher
Sorgfalt die ersten Anfänge der Krankheit hier beobachtet wurden. Ein
duftender Soldat ist in der Front unmöglich und wird vom Vorgesetzten sofort
zum Arzt geschickt, wodurch die Diagnose so früh wie kaum bei einem reichen
Zivilisten ergründet werden kann. Alle Mittel, die zur Heilung erforderlich
sind, stehn den Militärärzten zur Verfügung; denn unsre Militärverwaltung
hat, wie jeder weiß, sehr viel Geld, und auch in den Lazaretten wird nichts
gespart, was ihrem Zweck entspricht. Endlich das dritte für die Heilung der


U)as lehrt der erste Tuberkulosekongresz?

deutung der Tuberkulose als Volksseuche ins hellste Licht gesetzt und zu einer
so vielseitigen und anregenden Betrachtung geführt, daß es für einen sozial¬
politisch interessierten Leserkreis von höchster Wichtigkeit sein muß, zu erfahren,
welche Lehren uns der Tuberkulosekongreß gebracht hat.

Erfreulich und tröstlich war zunächst die Übereinstimmung der referierenden
Ärzte in Bezug auf die Heilbarkeit der Lungentuberkulose oder Lungenschwind¬
sucht. Gar nicht dringend genug kann diese feststehende Thatsache immer
wieder betont werden; denn nichts beeinträchtigt die Vemühnngcn des Arztes
so sehr, wie die Annahme der UnHeilbarkeit der Krankheit, weil diese die für
die Heilung so notwendige seelische Kraft des Patienten untergräbt, und weil sie
auch den Erkrankten zurückhält, frühzeitig ärztliche Hilfe zu suchen und ärzt¬
liche Verordnungen streng zu befolgen. Die Hauptbedingung für die Heilung
besteht aber in der Frühdiagnose, die wieder von der frühzeitigen Beratung
durch einen Arzt abhängt.

Einig waren die Autoritäten auch darin, daß es unmöglich ist, auf den
Erreger der Lungenschwindsucht, den Tuberkelbazillus, im Sinne der Heilung
einzuwirken, daß vielmehr der von ihm befallne Mensch physikalisch, d. h. durch
die Einwirkung der Luft und des Wassers, und diätetisch, d. h. durch eine be¬
stimmte Lebensweise, insbesondre eine vorzügliche Ernährung, endlich auch mit
Arznei je nach den hervortretenden Symptomen behandelt werden muß. Einig
war man darin, daß ein Zusammenwirken dieser Heilmittel nur in Heilstätten
möglich ist, die von einem gut vorgebildeten Arzt geleitet werden, sür deren
Lage aber durchaus kein besondres Klima, wie man früher glaubte, erforderlich
ist. Einig war man leider auch darin, daß sich diese Heilbarkeit nur auf die
Anfangsstadien der Krankheit bezieht.

. Will man ungefähr ein Bild von den Erfolgen des Kampfes der Ärzte
gegen die Lungenschwindsucht gewinnen, so geben dazu die vortrefflichen Aus¬
führungen des ärztlichen Vertreters der Militärverwaltung die beste Anleitung.
Man erzielte im Heere, bei dessen Ausmusterung selbstverständlich alle als
krank Befundnen zurückgewiesen wurden, endgiltige Heilungen in 1,3 Prozent
und günstige Erfolge in 22 Prozent. Diesen 23,3 Prozent stehn 76,6 Prozent
gegenüber, die durch die ärztliche Behandlung nicht beeinflußt waren. 16 Pro¬
zent starben noch vor der Entlassung.

Das ist gewiß kein erfreuliches Bild, zumal wenn man weiß, mit welcher
Sorgfalt die ersten Anfänge der Krankheit hier beobachtet wurden. Ein
duftender Soldat ist in der Front unmöglich und wird vom Vorgesetzten sofort
zum Arzt geschickt, wodurch die Diagnose so früh wie kaum bei einem reichen
Zivilisten ergründet werden kann. Alle Mittel, die zur Heilung erforderlich
sind, stehn den Militärärzten zur Verfügung; denn unsre Militärverwaltung
hat, wie jeder weiß, sehr viel Geld, und auch in den Lazaretten wird nichts
gespart, was ihrem Zweck entspricht. Endlich das dritte für die Heilung der


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[0106] U)as lehrt der erste Tuberkulosekongresz? deutung der Tuberkulose als Volksseuche ins hellste Licht gesetzt und zu einer so vielseitigen und anregenden Betrachtung geführt, daß es für einen sozial¬ politisch interessierten Leserkreis von höchster Wichtigkeit sein muß, zu erfahren, welche Lehren uns der Tuberkulosekongreß gebracht hat. Erfreulich und tröstlich war zunächst die Übereinstimmung der referierenden Ärzte in Bezug auf die Heilbarkeit der Lungentuberkulose oder Lungenschwind¬ sucht. Gar nicht dringend genug kann diese feststehende Thatsache immer wieder betont werden; denn nichts beeinträchtigt die Vemühnngcn des Arztes so sehr, wie die Annahme der UnHeilbarkeit der Krankheit, weil diese die für die Heilung so notwendige seelische Kraft des Patienten untergräbt, und weil sie auch den Erkrankten zurückhält, frühzeitig ärztliche Hilfe zu suchen und ärzt¬ liche Verordnungen streng zu befolgen. Die Hauptbedingung für die Heilung besteht aber in der Frühdiagnose, die wieder von der frühzeitigen Beratung durch einen Arzt abhängt. Einig waren die Autoritäten auch darin, daß es unmöglich ist, auf den Erreger der Lungenschwindsucht, den Tuberkelbazillus, im Sinne der Heilung einzuwirken, daß vielmehr der von ihm befallne Mensch physikalisch, d. h. durch die Einwirkung der Luft und des Wassers, und diätetisch, d. h. durch eine be¬ stimmte Lebensweise, insbesondre eine vorzügliche Ernährung, endlich auch mit Arznei je nach den hervortretenden Symptomen behandelt werden muß. Einig war man darin, daß ein Zusammenwirken dieser Heilmittel nur in Heilstätten möglich ist, die von einem gut vorgebildeten Arzt geleitet werden, sür deren Lage aber durchaus kein besondres Klima, wie man früher glaubte, erforderlich ist. Einig war man leider auch darin, daß sich diese Heilbarkeit nur auf die Anfangsstadien der Krankheit bezieht. . Will man ungefähr ein Bild von den Erfolgen des Kampfes der Ärzte gegen die Lungenschwindsucht gewinnen, so geben dazu die vortrefflichen Aus¬ führungen des ärztlichen Vertreters der Militärverwaltung die beste Anleitung. Man erzielte im Heere, bei dessen Ausmusterung selbstverständlich alle als krank Befundnen zurückgewiesen wurden, endgiltige Heilungen in 1,3 Prozent und günstige Erfolge in 22 Prozent. Diesen 23,3 Prozent stehn 76,6 Prozent gegenüber, die durch die ärztliche Behandlung nicht beeinflußt waren. 16 Pro¬ zent starben noch vor der Entlassung. Das ist gewiß kein erfreuliches Bild, zumal wenn man weiß, mit welcher Sorgfalt die ersten Anfänge der Krankheit hier beobachtet wurden. Ein duftender Soldat ist in der Front unmöglich und wird vom Vorgesetzten sofort zum Arzt geschickt, wodurch die Diagnose so früh wie kaum bei einem reichen Zivilisten ergründet werden kann. Alle Mittel, die zur Heilung erforderlich sind, stehn den Militärärzten zur Verfügung; denn unsre Militärverwaltung hat, wie jeder weiß, sehr viel Geld, und auch in den Lazaretten wird nichts gespart, was ihrem Zweck entspricht. Endlich das dritte für die Heilung der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/106>, abgerufen am 15.01.2025.