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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Was lehrt der erste Tuberkulosekongreß?

achten die medizinische Statistik und die öffentliche Gesundheits¬
pflege aus dem Rahmen der Gesamtmedizin herausgetreten
waren und angefangen hatten, ein Gegenstand der Forschung
auch für den Volkswirt zu sein, war es nicht mehr schwierig,
die Erkenntnis, daß die Tuberkulose eine Volksseuche sei, zum
Gemeingut weiter Schichten der Bevölkerung zu machen. Um die Bedeutung
der Thatsache, daß jeder siebente Mensch an Tuberkulose stirbt, zu erfassen,
ist wahrlich keine besondre medizinische Bildung, kaum eine höhere allgemeine
Bildung erforderlich; jeder mit gesundem Denkvermögen Begabte ist in der
Lage, einzusehen, welche Verheerungen eine so wütende Krankheit im Volke und
im Volkswohlstande anrichten muß; jeder Beobachter seiner Umgebung steht
Teile dieser Verheerungen, auch wenn er nicht unmittelbar von ihnen in Mit¬
leidenschaft gezogen wird.

So ist es erklärlich, daß der Tuberkulvsekongreß, der jüngst in der Reichs¬
hauptstadt versammelt war, ein Interesse erweckt hat, wie kaum irgend einer
unter den vielen frühern Kongressen der verschiedensten Art. Das hervor¬
stechendste Merkmal dieses Kongresses ist die Vereinigung von medizinischen
Fachleuten mit Vertretern der Behörden und der Selbstverwaltungskörper, mit
Abgesandten von Jnvaliditätsversicherungsanstalten und Krankenkassen. War
es auch nicht im Sinne einer gewissen medizinischen Orthodoxie, zu deren Vor¬
kämpfern sich sogar Organe der Tagespresse, wie das "Berliner Tageblatt,"
gemacht haben, daß volkswirtschaftlich arbeitende Männer mit Ärzten über eine
Krankheit beraten, deren Pathologie noch immer in einigen Spezialfragen fach¬
männischer Arbeit bedarf, so haben doch gerade die Erfahrungen der erwähnten
Nichtmediziner, die Ergebnisse ihres volkswirtschaftlichen Anschauens die Be-


Grenzboten III 189S 13


Was lehrt der erste Tuberkulosekongreß?

achten die medizinische Statistik und die öffentliche Gesundheits¬
pflege aus dem Rahmen der Gesamtmedizin herausgetreten
waren und angefangen hatten, ein Gegenstand der Forschung
auch für den Volkswirt zu sein, war es nicht mehr schwierig,
die Erkenntnis, daß die Tuberkulose eine Volksseuche sei, zum
Gemeingut weiter Schichten der Bevölkerung zu machen. Um die Bedeutung
der Thatsache, daß jeder siebente Mensch an Tuberkulose stirbt, zu erfassen,
ist wahrlich keine besondre medizinische Bildung, kaum eine höhere allgemeine
Bildung erforderlich; jeder mit gesundem Denkvermögen Begabte ist in der
Lage, einzusehen, welche Verheerungen eine so wütende Krankheit im Volke und
im Volkswohlstande anrichten muß; jeder Beobachter seiner Umgebung steht
Teile dieser Verheerungen, auch wenn er nicht unmittelbar von ihnen in Mit¬
leidenschaft gezogen wird.

So ist es erklärlich, daß der Tuberkulvsekongreß, der jüngst in der Reichs¬
hauptstadt versammelt war, ein Interesse erweckt hat, wie kaum irgend einer
unter den vielen frühern Kongressen der verschiedensten Art. Das hervor¬
stechendste Merkmal dieses Kongresses ist die Vereinigung von medizinischen
Fachleuten mit Vertretern der Behörden und der Selbstverwaltungskörper, mit
Abgesandten von Jnvaliditätsversicherungsanstalten und Krankenkassen. War
es auch nicht im Sinne einer gewissen medizinischen Orthodoxie, zu deren Vor¬
kämpfern sich sogar Organe der Tagespresse, wie das „Berliner Tageblatt,"
gemacht haben, daß volkswirtschaftlich arbeitende Männer mit Ärzten über eine
Krankheit beraten, deren Pathologie noch immer in einigen Spezialfragen fach¬
männischer Arbeit bedarf, so haben doch gerade die Erfahrungen der erwähnten
Nichtmediziner, die Ergebnisse ihres volkswirtschaftlichen Anschauens die Be-


Grenzboten III 189S 13
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[0105] [Abbildung] Was lehrt der erste Tuberkulosekongreß? achten die medizinische Statistik und die öffentliche Gesundheits¬ pflege aus dem Rahmen der Gesamtmedizin herausgetreten waren und angefangen hatten, ein Gegenstand der Forschung auch für den Volkswirt zu sein, war es nicht mehr schwierig, die Erkenntnis, daß die Tuberkulose eine Volksseuche sei, zum Gemeingut weiter Schichten der Bevölkerung zu machen. Um die Bedeutung der Thatsache, daß jeder siebente Mensch an Tuberkulose stirbt, zu erfassen, ist wahrlich keine besondre medizinische Bildung, kaum eine höhere allgemeine Bildung erforderlich; jeder mit gesundem Denkvermögen Begabte ist in der Lage, einzusehen, welche Verheerungen eine so wütende Krankheit im Volke und im Volkswohlstande anrichten muß; jeder Beobachter seiner Umgebung steht Teile dieser Verheerungen, auch wenn er nicht unmittelbar von ihnen in Mit¬ leidenschaft gezogen wird. So ist es erklärlich, daß der Tuberkulvsekongreß, der jüngst in der Reichs¬ hauptstadt versammelt war, ein Interesse erweckt hat, wie kaum irgend einer unter den vielen frühern Kongressen der verschiedensten Art. Das hervor¬ stechendste Merkmal dieses Kongresses ist die Vereinigung von medizinischen Fachleuten mit Vertretern der Behörden und der Selbstverwaltungskörper, mit Abgesandten von Jnvaliditätsversicherungsanstalten und Krankenkassen. War es auch nicht im Sinne einer gewissen medizinischen Orthodoxie, zu deren Vor¬ kämpfern sich sogar Organe der Tagespresse, wie das „Berliner Tageblatt," gemacht haben, daß volkswirtschaftlich arbeitende Männer mit Ärzten über eine Krankheit beraten, deren Pathologie noch immer in einigen Spezialfragen fach¬ männischer Arbeit bedarf, so haben doch gerade die Erfahrungen der erwähnten Nichtmediziner, die Ergebnisse ihres volkswirtschaftlichen Anschauens die Be- Grenzboten III 189S 13

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/105>, abgerufen am 15.01.2025.