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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Über griechische und römische verfluchuiigstafel"

entziffert; andre, im Jahre 1889 in Patissia bei Athen gefundne hat B. Graf
für das Berliner Museum erworben, wo sie jetzt liegen; der Rest findet sich
in Athen. Nur diese letzten Täfelchen sind schon früher publiziert worden; für
die übrigen hat Wünsch die nicht geringe Mühe der Entzifferung auf sich
genommen und die Aufgabe mit großem Geschick gelöst, sodaß wir seiner Publi¬
kation nun einen genauen Einblick in dieses Gebiet des Aberglaubens verdanken.
Wünsch hat aber noch mehr gethan: er hat seiner Sammlung eine ausführliche
Einleitung vorangeschickt, in der er alles auf diesen Tafeln in religiöser und
antiquarischer Hinsicht Bemerkenswerte bespricht und auch die außerhalb Attikas
gefundnen Defixionen, griechische und lateinische, zusammenstellt, soweit sie bis
zur Ausgabe jenes Buches bekannt geworden waren. Von dieser Sammlung
und der ihr vorangeschickten Einleitung geht die Darstellung ans, die wir im
folgenden von dieser höchst merkwürdigen Klasse von Denkmälern geben.

Was das Äußere dieser Bleitäfelchen anlangt, so haben sie meist vier¬
eckige, in der Regel oblonge Form. Nach dem Beschreiben wurden sie ent¬
weder zusammengerollt oder gefaltet, und dann wurde meist ein Nagel hindurch¬
geschlagen. Denn der Nagel ist das Symbol des "Festmachens," was ja der
Zweck dieser Beschwörungen ist; er ist darum auch das Attribut der Göttin
der Notwendigkeit, der Areale, der 8Äöva UsosssitW, wie sie Horaz nennt.
Man bediente sich dabei in der Regel keines eisernen, sondern eines bronzenen
Nagels; denn von jener alten Zeit her, wo man noch kein Eisen im Gebrauch
hatte und Erz das allein verwandte Metall war, verblieb diesem eine geheiligte
Bedeutung, die besonders im Kultus vielfach uoch zum Ausdruck kommt.

Die Schrift geht auf den attischen Bleitafeln häufig verkehrt, d. h. von
rechts nach links; wie die Schrift verkehrt ist, so soll auch dem Verfluchten
alles verkehrt gehn, heißt es einmal ausdrücklich auf so einer Tafel. Ja man
ging mitunter noch weiter und änderte selbst die ganze Ordnung der Zeilen,
schrieb die unterste zu oberst hin u. s. f.; oder man löste die Reihenfolge ganz
auf und schrieb Worte und Zeilen bunt durch einander, sodaß das Entziffern
solcher Tafeln nicht geringe Schwierigkeiten macht. In den Buchstaben ahmte
man wohl altertümliche Schrift nach oder verzerrte sie, daß sie Ähnlichkeit
mit magischen Zeichen bekamen. Die Schreibenden scheinen meist dieselben
Personen zu sein, von denen die Verfluchung ausging, nicht dazu Beauftragte.
Bei der Mehrzahl dieser attischen Tafeln find die Schreiber Leute aus niederm
Stande, vornehmlich Handwerker oder Sklaven; auch die Verfluchten gehören
meist diesem Stande an: wir finden Gerber, Schuster, Krämer, Müller, Zimmer-
leute, Waffenschmiede u. dergl., daneben auch Faustkämpfer, Schauspieler, Lehrer.
Gerichtsbeisitzer (wo es sich um Prozesse handelt) u. a. in. Einige Namen
führen freilich darauf hin, daß sich auch die bessern Stände von diesem aber¬
gläubischen Brauch keineswegs ganz frei hielten.

Wie schon erwähnt worden ist, that man die beschriebnen Tafeln in die


Über griechische und römische verfluchuiigstafel»

entziffert; andre, im Jahre 1889 in Patissia bei Athen gefundne hat B. Graf
für das Berliner Museum erworben, wo sie jetzt liegen; der Rest findet sich
in Athen. Nur diese letzten Täfelchen sind schon früher publiziert worden; für
die übrigen hat Wünsch die nicht geringe Mühe der Entzifferung auf sich
genommen und die Aufgabe mit großem Geschick gelöst, sodaß wir seiner Publi¬
kation nun einen genauen Einblick in dieses Gebiet des Aberglaubens verdanken.
Wünsch hat aber noch mehr gethan: er hat seiner Sammlung eine ausführliche
Einleitung vorangeschickt, in der er alles auf diesen Tafeln in religiöser und
antiquarischer Hinsicht Bemerkenswerte bespricht und auch die außerhalb Attikas
gefundnen Defixionen, griechische und lateinische, zusammenstellt, soweit sie bis
zur Ausgabe jenes Buches bekannt geworden waren. Von dieser Sammlung
und der ihr vorangeschickten Einleitung geht die Darstellung ans, die wir im
folgenden von dieser höchst merkwürdigen Klasse von Denkmälern geben.

Was das Äußere dieser Bleitäfelchen anlangt, so haben sie meist vier¬
eckige, in der Regel oblonge Form. Nach dem Beschreiben wurden sie ent¬
weder zusammengerollt oder gefaltet, und dann wurde meist ein Nagel hindurch¬
geschlagen. Denn der Nagel ist das Symbol des „Festmachens," was ja der
Zweck dieser Beschwörungen ist; er ist darum auch das Attribut der Göttin
der Notwendigkeit, der Areale, der 8Äöva UsosssitW, wie sie Horaz nennt.
Man bediente sich dabei in der Regel keines eisernen, sondern eines bronzenen
Nagels; denn von jener alten Zeit her, wo man noch kein Eisen im Gebrauch
hatte und Erz das allein verwandte Metall war, verblieb diesem eine geheiligte
Bedeutung, die besonders im Kultus vielfach uoch zum Ausdruck kommt.

Die Schrift geht auf den attischen Bleitafeln häufig verkehrt, d. h. von
rechts nach links; wie die Schrift verkehrt ist, so soll auch dem Verfluchten
alles verkehrt gehn, heißt es einmal ausdrücklich auf so einer Tafel. Ja man
ging mitunter noch weiter und änderte selbst die ganze Ordnung der Zeilen,
schrieb die unterste zu oberst hin u. s. f.; oder man löste die Reihenfolge ganz
auf und schrieb Worte und Zeilen bunt durch einander, sodaß das Entziffern
solcher Tafeln nicht geringe Schwierigkeiten macht. In den Buchstaben ahmte
man wohl altertümliche Schrift nach oder verzerrte sie, daß sie Ähnlichkeit
mit magischen Zeichen bekamen. Die Schreibenden scheinen meist dieselben
Personen zu sein, von denen die Verfluchung ausging, nicht dazu Beauftragte.
Bei der Mehrzahl dieser attischen Tafeln find die Schreiber Leute aus niederm
Stande, vornehmlich Handwerker oder Sklaven; auch die Verfluchten gehören
meist diesem Stande an: wir finden Gerber, Schuster, Krämer, Müller, Zimmer-
leute, Waffenschmiede u. dergl., daneben auch Faustkämpfer, Schauspieler, Lehrer.
Gerichtsbeisitzer (wo es sich um Prozesse handelt) u. a. in. Einige Namen
führen freilich darauf hin, daß sich auch die bessern Stände von diesem aber¬
gläubischen Brauch keineswegs ganz frei hielten.

Wie schon erwähnt worden ist, that man die beschriebnen Tafeln in die


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[0490] Über griechische und römische verfluchuiigstafel» entziffert; andre, im Jahre 1889 in Patissia bei Athen gefundne hat B. Graf für das Berliner Museum erworben, wo sie jetzt liegen; der Rest findet sich in Athen. Nur diese letzten Täfelchen sind schon früher publiziert worden; für die übrigen hat Wünsch die nicht geringe Mühe der Entzifferung auf sich genommen und die Aufgabe mit großem Geschick gelöst, sodaß wir seiner Publi¬ kation nun einen genauen Einblick in dieses Gebiet des Aberglaubens verdanken. Wünsch hat aber noch mehr gethan: er hat seiner Sammlung eine ausführliche Einleitung vorangeschickt, in der er alles auf diesen Tafeln in religiöser und antiquarischer Hinsicht Bemerkenswerte bespricht und auch die außerhalb Attikas gefundnen Defixionen, griechische und lateinische, zusammenstellt, soweit sie bis zur Ausgabe jenes Buches bekannt geworden waren. Von dieser Sammlung und der ihr vorangeschickten Einleitung geht die Darstellung ans, die wir im folgenden von dieser höchst merkwürdigen Klasse von Denkmälern geben. Was das Äußere dieser Bleitäfelchen anlangt, so haben sie meist vier¬ eckige, in der Regel oblonge Form. Nach dem Beschreiben wurden sie ent¬ weder zusammengerollt oder gefaltet, und dann wurde meist ein Nagel hindurch¬ geschlagen. Denn der Nagel ist das Symbol des „Festmachens," was ja der Zweck dieser Beschwörungen ist; er ist darum auch das Attribut der Göttin der Notwendigkeit, der Areale, der 8Äöva UsosssitW, wie sie Horaz nennt. Man bediente sich dabei in der Regel keines eisernen, sondern eines bronzenen Nagels; denn von jener alten Zeit her, wo man noch kein Eisen im Gebrauch hatte und Erz das allein verwandte Metall war, verblieb diesem eine geheiligte Bedeutung, die besonders im Kultus vielfach uoch zum Ausdruck kommt. Die Schrift geht auf den attischen Bleitafeln häufig verkehrt, d. h. von rechts nach links; wie die Schrift verkehrt ist, so soll auch dem Verfluchten alles verkehrt gehn, heißt es einmal ausdrücklich auf so einer Tafel. Ja man ging mitunter noch weiter und änderte selbst die ganze Ordnung der Zeilen, schrieb die unterste zu oberst hin u. s. f.; oder man löste die Reihenfolge ganz auf und schrieb Worte und Zeilen bunt durch einander, sodaß das Entziffern solcher Tafeln nicht geringe Schwierigkeiten macht. In den Buchstaben ahmte man wohl altertümliche Schrift nach oder verzerrte sie, daß sie Ähnlichkeit mit magischen Zeichen bekamen. Die Schreibenden scheinen meist dieselben Personen zu sein, von denen die Verfluchung ausging, nicht dazu Beauftragte. Bei der Mehrzahl dieser attischen Tafeln find die Schreiber Leute aus niederm Stande, vornehmlich Handwerker oder Sklaven; auch die Verfluchten gehören meist diesem Stande an: wir finden Gerber, Schuster, Krämer, Müller, Zimmer- leute, Waffenschmiede u. dergl., daneben auch Faustkämpfer, Schauspieler, Lehrer. Gerichtsbeisitzer (wo es sich um Prozesse handelt) u. a. in. Einige Namen führen freilich darauf hin, daß sich auch die bessern Stände von diesem aber¬ gläubischen Brauch keineswegs ganz frei hielten. Wie schon erwähnt worden ist, that man die beschriebnen Tafeln in die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/490>, abgerufen am 21.10.2024.