Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Italien und die Italiener

von der Kirche zu trennen, das äivoi'/lo zu verwirklichen, für unpraktisch
und eine Regelung zwischen Staat und Kirche, die jenen fester gewappnet der
Kirche gegenüberstellt, für möglich zu halten. Das Verhältnis zwischen Staat
und Kirche ist in Italien geschichtlich so gründlich anders als irgendwo sonst
in der Welt, daß es nicht nach fremden Mustern zu behandeln ist.

In einem interessanten Abschnitte "Volkstum und Volkscharakter" schildert
der Verfasser die körperlichen und geistigen Anlagen der Italiener. Sehr
richtig weist er die zu weit gehenden Annahmen von Nassenunterschicden
zwischen Nord- und Süditalicnern zurück, die in Italien selbst einem sich oft
geradezu leidenschaftlich äußernden Nassenpartikularismus zur Voraussetzung
dienen müssen. Die starke Vermehrung der Italiener, die infolge des Kampfes
gegen die Malaria, die Pocken, das schlechte Wasser und die Unreinlichkeit der
Städte jährlich sinkende Sterblichkeit, die Ausdauer, Zähigkeit, Bedürfnis¬
losigkeit sind lichte Stellen in diesem Charakterbild; aber auch die schlechte Er¬
nährung wird nicht verschwiegen, die ja zum Teil unmittelbar in der Besitz¬
verteilung und Besteuerung begründet ist. Die Lebensfreudigkeit, der Schönheits¬
sinn, der bis zur lächerlichen Eitelkeit gehende Kultus der Persönlichkeit werden
sehr gut gezeichnet. Aber auch die Hinterhältigkeit, die Lust zum Intrigieren,
der leicht genommne Unterschied zwischen Reden und Handeln, Versprechen und
Halten, das Klientel-, Sekten- und Geheimbnndunwesen, die Geringschätzung
des Menschenlebens endlich, die sich in der gewaltigen Menge der Totschläge
ausspricht, bleiben nicht verschwiegen. Der von Ferrero in Luropg, Aiovimv
(1898) dunkel gezeichneten und als ein Grundfehler des Volkscharakters und
der Sitten hingestellten ungezügelten Sinnlichkeit kann unser Verfasser eine so
große Bedeutung nicht zuerkennen. Wir glauben, daß diese Auffassung eine
der Beobachtungen ist, bei denen er nicht tief genug in das italienische Leben
hineingesehen hat und infolgedessen leicht nimmt, was schwer und folgenreich
ist; die statistischen Zahlen, die er anführt, sind ja sehr lehrreich, sie können
aber unmöglich die Frage entscheiden, wie tief das gesteigerte Geschlechtsleben
auf die Ausbildung des Geistes und Charakters besonders in den Entwicklungs-
jahren einwirkt. Über diesen Punkt glauben wir Italienern mehr als Fremden.
Die unter Italienern weit verbreitete Knabenliebe wird stillschweigend über¬
gangen. Es wäre für das Gesamtbild gerade des politischen Charakters des
Jtalieners günstiger gewesen, wenn manche in den andern Abschnitten zerstreuten
Angaben, die die große Arbeitsamkeit, die Geschicklichkeit, die Erfolge in
künstlerischer und wissenschaftlicher Thätigkeit, die Anpassungsfähigkeit an fremde
Lebensbedingungen und Einrichtungen behandeln, in diesem Abschnitte noch
einmal vereinigt worden wären. Das Charakterbild des italienischen Volkes
hätte dadurch im ganzen noch gewonnen. Aber auch der uralte Stammes-
partikulcirismus und die Kirchturmpolitik, der politische Eigennutz, die Züge
von Härte und Grausamkeit, die im sozialen Leben und selbst in der Be-


Italien und die Italiener

von der Kirche zu trennen, das äivoi'/lo zu verwirklichen, für unpraktisch
und eine Regelung zwischen Staat und Kirche, die jenen fester gewappnet der
Kirche gegenüberstellt, für möglich zu halten. Das Verhältnis zwischen Staat
und Kirche ist in Italien geschichtlich so gründlich anders als irgendwo sonst
in der Welt, daß es nicht nach fremden Mustern zu behandeln ist.

In einem interessanten Abschnitte „Volkstum und Volkscharakter" schildert
der Verfasser die körperlichen und geistigen Anlagen der Italiener. Sehr
richtig weist er die zu weit gehenden Annahmen von Nassenunterschicden
zwischen Nord- und Süditalicnern zurück, die in Italien selbst einem sich oft
geradezu leidenschaftlich äußernden Nassenpartikularismus zur Voraussetzung
dienen müssen. Die starke Vermehrung der Italiener, die infolge des Kampfes
gegen die Malaria, die Pocken, das schlechte Wasser und die Unreinlichkeit der
Städte jährlich sinkende Sterblichkeit, die Ausdauer, Zähigkeit, Bedürfnis¬
losigkeit sind lichte Stellen in diesem Charakterbild; aber auch die schlechte Er¬
nährung wird nicht verschwiegen, die ja zum Teil unmittelbar in der Besitz¬
verteilung und Besteuerung begründet ist. Die Lebensfreudigkeit, der Schönheits¬
sinn, der bis zur lächerlichen Eitelkeit gehende Kultus der Persönlichkeit werden
sehr gut gezeichnet. Aber auch die Hinterhältigkeit, die Lust zum Intrigieren,
der leicht genommne Unterschied zwischen Reden und Handeln, Versprechen und
Halten, das Klientel-, Sekten- und Geheimbnndunwesen, die Geringschätzung
des Menschenlebens endlich, die sich in der gewaltigen Menge der Totschläge
ausspricht, bleiben nicht verschwiegen. Der von Ferrero in Luropg, Aiovimv
(1898) dunkel gezeichneten und als ein Grundfehler des Volkscharakters und
der Sitten hingestellten ungezügelten Sinnlichkeit kann unser Verfasser eine so
große Bedeutung nicht zuerkennen. Wir glauben, daß diese Auffassung eine
der Beobachtungen ist, bei denen er nicht tief genug in das italienische Leben
hineingesehen hat und infolgedessen leicht nimmt, was schwer und folgenreich
ist; die statistischen Zahlen, die er anführt, sind ja sehr lehrreich, sie können
aber unmöglich die Frage entscheiden, wie tief das gesteigerte Geschlechtsleben
auf die Ausbildung des Geistes und Charakters besonders in den Entwicklungs-
jahren einwirkt. Über diesen Punkt glauben wir Italienern mehr als Fremden.
Die unter Italienern weit verbreitete Knabenliebe wird stillschweigend über¬
gangen. Es wäre für das Gesamtbild gerade des politischen Charakters des
Jtalieners günstiger gewesen, wenn manche in den andern Abschnitten zerstreuten
Angaben, die die große Arbeitsamkeit, die Geschicklichkeit, die Erfolge in
künstlerischer und wissenschaftlicher Thätigkeit, die Anpassungsfähigkeit an fremde
Lebensbedingungen und Einrichtungen behandeln, in diesem Abschnitte noch
einmal vereinigt worden wären. Das Charakterbild des italienischen Volkes
hätte dadurch im ganzen noch gewonnen. Aber auch der uralte Stammes-
partikulcirismus und die Kirchturmpolitik, der politische Eigennutz, die Züge
von Härte und Grausamkeit, die im sozialen Leben und selbst in der Be-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0428" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230860"/>
          <fw type="header" place="top"> Italien und die Italiener</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1444" prev="#ID_1443"> von der Kirche zu trennen, das äivoi'/lo zu verwirklichen, für unpraktisch<lb/>
und eine Regelung zwischen Staat und Kirche, die jenen fester gewappnet der<lb/>
Kirche gegenüberstellt, für möglich zu halten. Das Verhältnis zwischen Staat<lb/>
und Kirche ist in Italien geschichtlich so gründlich anders als irgendwo sonst<lb/>
in der Welt, daß es nicht nach fremden Mustern zu behandeln ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1445" next="#ID_1446"> In einem interessanten Abschnitte &#x201E;Volkstum und Volkscharakter" schildert<lb/>
der Verfasser die körperlichen und geistigen Anlagen der Italiener. Sehr<lb/>
richtig weist er die zu weit gehenden Annahmen von Nassenunterschicden<lb/>
zwischen Nord- und Süditalicnern zurück, die in Italien selbst einem sich oft<lb/>
geradezu leidenschaftlich äußernden Nassenpartikularismus zur Voraussetzung<lb/>
dienen müssen. Die starke Vermehrung der Italiener, die infolge des Kampfes<lb/>
gegen die Malaria, die Pocken, das schlechte Wasser und die Unreinlichkeit der<lb/>
Städte jährlich sinkende Sterblichkeit, die Ausdauer, Zähigkeit, Bedürfnis¬<lb/>
losigkeit sind lichte Stellen in diesem Charakterbild; aber auch die schlechte Er¬<lb/>
nährung wird nicht verschwiegen, die ja zum Teil unmittelbar in der Besitz¬<lb/>
verteilung und Besteuerung begründet ist. Die Lebensfreudigkeit, der Schönheits¬<lb/>
sinn, der bis zur lächerlichen Eitelkeit gehende Kultus der Persönlichkeit werden<lb/>
sehr gut gezeichnet. Aber auch die Hinterhältigkeit, die Lust zum Intrigieren,<lb/>
der leicht genommne Unterschied zwischen Reden und Handeln, Versprechen und<lb/>
Halten, das Klientel-, Sekten- und Geheimbnndunwesen, die Geringschätzung<lb/>
des Menschenlebens endlich, die sich in der gewaltigen Menge der Totschläge<lb/>
ausspricht, bleiben nicht verschwiegen. Der von Ferrero in Luropg, Aiovimv<lb/>
(1898) dunkel gezeichneten und als ein Grundfehler des Volkscharakters und<lb/>
der Sitten hingestellten ungezügelten Sinnlichkeit kann unser Verfasser eine so<lb/>
große Bedeutung nicht zuerkennen. Wir glauben, daß diese Auffassung eine<lb/>
der Beobachtungen ist, bei denen er nicht tief genug in das italienische Leben<lb/>
hineingesehen hat und infolgedessen leicht nimmt, was schwer und folgenreich<lb/>
ist; die statistischen Zahlen, die er anführt, sind ja sehr lehrreich, sie können<lb/>
aber unmöglich die Frage entscheiden, wie tief das gesteigerte Geschlechtsleben<lb/>
auf die Ausbildung des Geistes und Charakters besonders in den Entwicklungs-<lb/>
jahren einwirkt. Über diesen Punkt glauben wir Italienern mehr als Fremden.<lb/>
Die unter Italienern weit verbreitete Knabenliebe wird stillschweigend über¬<lb/>
gangen. Es wäre für das Gesamtbild gerade des politischen Charakters des<lb/>
Jtalieners günstiger gewesen, wenn manche in den andern Abschnitten zerstreuten<lb/>
Angaben, die die große Arbeitsamkeit, die Geschicklichkeit, die Erfolge in<lb/>
künstlerischer und wissenschaftlicher Thätigkeit, die Anpassungsfähigkeit an fremde<lb/>
Lebensbedingungen und Einrichtungen behandeln, in diesem Abschnitte noch<lb/>
einmal vereinigt worden wären. Das Charakterbild des italienischen Volkes<lb/>
hätte dadurch im ganzen noch gewonnen. Aber auch der uralte Stammes-<lb/>
partikulcirismus und die Kirchturmpolitik, der politische Eigennutz, die Züge<lb/>
von Härte und Grausamkeit, die im sozialen Leben und selbst in der Be-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0428] Italien und die Italiener von der Kirche zu trennen, das äivoi'/lo zu verwirklichen, für unpraktisch und eine Regelung zwischen Staat und Kirche, die jenen fester gewappnet der Kirche gegenüberstellt, für möglich zu halten. Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche ist in Italien geschichtlich so gründlich anders als irgendwo sonst in der Welt, daß es nicht nach fremden Mustern zu behandeln ist. In einem interessanten Abschnitte „Volkstum und Volkscharakter" schildert der Verfasser die körperlichen und geistigen Anlagen der Italiener. Sehr richtig weist er die zu weit gehenden Annahmen von Nassenunterschicden zwischen Nord- und Süditalicnern zurück, die in Italien selbst einem sich oft geradezu leidenschaftlich äußernden Nassenpartikularismus zur Voraussetzung dienen müssen. Die starke Vermehrung der Italiener, die infolge des Kampfes gegen die Malaria, die Pocken, das schlechte Wasser und die Unreinlichkeit der Städte jährlich sinkende Sterblichkeit, die Ausdauer, Zähigkeit, Bedürfnis¬ losigkeit sind lichte Stellen in diesem Charakterbild; aber auch die schlechte Er¬ nährung wird nicht verschwiegen, die ja zum Teil unmittelbar in der Besitz¬ verteilung und Besteuerung begründet ist. Die Lebensfreudigkeit, der Schönheits¬ sinn, der bis zur lächerlichen Eitelkeit gehende Kultus der Persönlichkeit werden sehr gut gezeichnet. Aber auch die Hinterhältigkeit, die Lust zum Intrigieren, der leicht genommne Unterschied zwischen Reden und Handeln, Versprechen und Halten, das Klientel-, Sekten- und Geheimbnndunwesen, die Geringschätzung des Menschenlebens endlich, die sich in der gewaltigen Menge der Totschläge ausspricht, bleiben nicht verschwiegen. Der von Ferrero in Luropg, Aiovimv (1898) dunkel gezeichneten und als ein Grundfehler des Volkscharakters und der Sitten hingestellten ungezügelten Sinnlichkeit kann unser Verfasser eine so große Bedeutung nicht zuerkennen. Wir glauben, daß diese Auffassung eine der Beobachtungen ist, bei denen er nicht tief genug in das italienische Leben hineingesehen hat und infolgedessen leicht nimmt, was schwer und folgenreich ist; die statistischen Zahlen, die er anführt, sind ja sehr lehrreich, sie können aber unmöglich die Frage entscheiden, wie tief das gesteigerte Geschlechtsleben auf die Ausbildung des Geistes und Charakters besonders in den Entwicklungs- jahren einwirkt. Über diesen Punkt glauben wir Italienern mehr als Fremden. Die unter Italienern weit verbreitete Knabenliebe wird stillschweigend über¬ gangen. Es wäre für das Gesamtbild gerade des politischen Charakters des Jtalieners günstiger gewesen, wenn manche in den andern Abschnitten zerstreuten Angaben, die die große Arbeitsamkeit, die Geschicklichkeit, die Erfolge in künstlerischer und wissenschaftlicher Thätigkeit, die Anpassungsfähigkeit an fremde Lebensbedingungen und Einrichtungen behandeln, in diesem Abschnitte noch einmal vereinigt worden wären. Das Charakterbild des italienischen Volkes hätte dadurch im ganzen noch gewonnen. Aber auch der uralte Stammes- partikulcirismus und die Kirchturmpolitik, der politische Eigennutz, die Züge von Härte und Grausamkeit, die im sozialen Leben und selbst in der Be-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/428
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/428>, abgerufen am 28.09.2024.