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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Vor 1860 gehörten einige der Gebiete des heutigen Königreichs Italien
zu den im Unterricht am meisten zurückgebliebnen Teilen Europas. Noch
1871 hatte Sizilien 87 Prozent Analphabeten. Italien hat gerade auf diesem
Gebiet sehr viel geleistet. Der Form nach ist der Volksschulunterricht geboten
vom sechsten bis neunten Jahre, und es sind zahlreiche Schulen errichtet oder
verbessert worden; aber im Jahre 1895 waren unter den Rekruten der Armee
38, der Flotte 43 Prozent Analphabeten. Es haben also die Pessimisten nicht
ganz unrecht, die da meinen, mit einer dreijährigen Schulpflicht sei doch nur
der Form genügt. Mittel- und Hochschulen giebt es im Verhältnis viel mehr
als Volksschulen: 1039 Gymnasien und Lyceen, 21 Universitäten, und neben
diesen noch eine Anzahl von Anstalten vom Rang der Universitäten. Sie ent¬
lassen ihre Schüler mit Prüfungen, die in der Regel nicht sehr streng sind,
und tragen dadurch viel zu der Überproduktion von klassisch und halb gebildeten
bei, die von einsichtigen Italienern als einer der Schäden des italienische"
Lebens beklagt wird. Die Masse dieser Schulen und Hochschulen und die
zum Teil höchst nachlässige und lückenhafte Art des Unterrichts und der
Prüfungen wirken geradezu gegen die Bestrebungen, praktische, brnnchbarc. sich
der wirtschaftlichen Hebung des Landes widmende Kräfte heranzubilden. Sie
vermehren nur die Zahl der Stellensucher, die vom Staat oder der Gemeinde,
von der Politik, von der Tagesschriftstellerci leben wollen. Rhetoriker und
Phrasenmacher ohne Kenntnis der Arbeit gelten viel zu viel.

Man kann nicht von der Schule Italiens sprechen, ohne der Kirche zu
gedenken. Die feindliche Stellung zur Kirche ist eine der Krankheiten Italiens.
Das Königreich hat nicht bloß den Papst als Haupt des Kirchenstaats entsetzt,
es hat auch die Kirche, um leben zu können, eines großen Teils ihrer Besitz¬
tümer berauben, Klöster aufheben, den Geistlichen den Einfluß auf das Schul¬
wesen entziehen müssen. Was kirchlich ist, steht daher dem modernen Italien
feindlich oder doch abgeneigt gegenüber. Daher auch eine verderbliche Schwäche
der konservativen Elemente. Die Stimmenthaltung der Klerikalen ist eine be¬
ständige Drohung. Das ist ein schwerer Konflikt in einem Volke, bei dem die
Religiosität tiefer geht, als oberflächliche Beobachter meinen. Ich glaube nicht,
daß bloß in den 42 Prozent Wählern, die 1897 nicht abgestimmt haben, die
Klerikalen Italiens stecken, sondern daß, wenn die Losung "Zur Wahl" in einem
günstigen Augenblick gegeben wird, eine viel größere Zahl klerikaler Stimmen
fallen könnte. Mit Recht weist Fischer die seichte Ansicht mancher deutschen
Protestanten zurück, daß eine Protestcintisierung der Italiener möglich sei.
Er schöpft aus seiner eignen Beobachtung die Überzeugung, daß sich der Kirchen¬
besuch in den letzten siebzig Jahren nur vermehrt habe. Er mag recht haben
mit seiner Ansicht, daß die Kirche durch das jetzige Verhältnis mindestens so
sehr geschädigt sei wie der Staat; vielleicht hat er aber nicht recht, die von
so manchem italienischen Staatsmanne vertretne Ansicht, den Staat noch wenn


Vor 1860 gehörten einige der Gebiete des heutigen Königreichs Italien
zu den im Unterricht am meisten zurückgebliebnen Teilen Europas. Noch
1871 hatte Sizilien 87 Prozent Analphabeten. Italien hat gerade auf diesem
Gebiet sehr viel geleistet. Der Form nach ist der Volksschulunterricht geboten
vom sechsten bis neunten Jahre, und es sind zahlreiche Schulen errichtet oder
verbessert worden; aber im Jahre 1895 waren unter den Rekruten der Armee
38, der Flotte 43 Prozent Analphabeten. Es haben also die Pessimisten nicht
ganz unrecht, die da meinen, mit einer dreijährigen Schulpflicht sei doch nur
der Form genügt. Mittel- und Hochschulen giebt es im Verhältnis viel mehr
als Volksschulen: 1039 Gymnasien und Lyceen, 21 Universitäten, und neben
diesen noch eine Anzahl von Anstalten vom Rang der Universitäten. Sie ent¬
lassen ihre Schüler mit Prüfungen, die in der Regel nicht sehr streng sind,
und tragen dadurch viel zu der Überproduktion von klassisch und halb gebildeten
bei, die von einsichtigen Italienern als einer der Schäden des italienische»
Lebens beklagt wird. Die Masse dieser Schulen und Hochschulen und die
zum Teil höchst nachlässige und lückenhafte Art des Unterrichts und der
Prüfungen wirken geradezu gegen die Bestrebungen, praktische, brnnchbarc. sich
der wirtschaftlichen Hebung des Landes widmende Kräfte heranzubilden. Sie
vermehren nur die Zahl der Stellensucher, die vom Staat oder der Gemeinde,
von der Politik, von der Tagesschriftstellerci leben wollen. Rhetoriker und
Phrasenmacher ohne Kenntnis der Arbeit gelten viel zu viel.

Man kann nicht von der Schule Italiens sprechen, ohne der Kirche zu
gedenken. Die feindliche Stellung zur Kirche ist eine der Krankheiten Italiens.
Das Königreich hat nicht bloß den Papst als Haupt des Kirchenstaats entsetzt,
es hat auch die Kirche, um leben zu können, eines großen Teils ihrer Besitz¬
tümer berauben, Klöster aufheben, den Geistlichen den Einfluß auf das Schul¬
wesen entziehen müssen. Was kirchlich ist, steht daher dem modernen Italien
feindlich oder doch abgeneigt gegenüber. Daher auch eine verderbliche Schwäche
der konservativen Elemente. Die Stimmenthaltung der Klerikalen ist eine be¬
ständige Drohung. Das ist ein schwerer Konflikt in einem Volke, bei dem die
Religiosität tiefer geht, als oberflächliche Beobachter meinen. Ich glaube nicht,
daß bloß in den 42 Prozent Wählern, die 1897 nicht abgestimmt haben, die
Klerikalen Italiens stecken, sondern daß, wenn die Losung „Zur Wahl" in einem
günstigen Augenblick gegeben wird, eine viel größere Zahl klerikaler Stimmen
fallen könnte. Mit Recht weist Fischer die seichte Ansicht mancher deutschen
Protestanten zurück, daß eine Protestcintisierung der Italiener möglich sei.
Er schöpft aus seiner eignen Beobachtung die Überzeugung, daß sich der Kirchen¬
besuch in den letzten siebzig Jahren nur vermehrt habe. Er mag recht haben
mit seiner Ansicht, daß die Kirche durch das jetzige Verhältnis mindestens so
sehr geschädigt sei wie der Staat; vielleicht hat er aber nicht recht, die von
so manchem italienischen Staatsmanne vertretne Ansicht, den Staat noch wenn


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[0427] Vor 1860 gehörten einige der Gebiete des heutigen Königreichs Italien zu den im Unterricht am meisten zurückgebliebnen Teilen Europas. Noch 1871 hatte Sizilien 87 Prozent Analphabeten. Italien hat gerade auf diesem Gebiet sehr viel geleistet. Der Form nach ist der Volksschulunterricht geboten vom sechsten bis neunten Jahre, und es sind zahlreiche Schulen errichtet oder verbessert worden; aber im Jahre 1895 waren unter den Rekruten der Armee 38, der Flotte 43 Prozent Analphabeten. Es haben also die Pessimisten nicht ganz unrecht, die da meinen, mit einer dreijährigen Schulpflicht sei doch nur der Form genügt. Mittel- und Hochschulen giebt es im Verhältnis viel mehr als Volksschulen: 1039 Gymnasien und Lyceen, 21 Universitäten, und neben diesen noch eine Anzahl von Anstalten vom Rang der Universitäten. Sie ent¬ lassen ihre Schüler mit Prüfungen, die in der Regel nicht sehr streng sind, und tragen dadurch viel zu der Überproduktion von klassisch und halb gebildeten bei, die von einsichtigen Italienern als einer der Schäden des italienische» Lebens beklagt wird. Die Masse dieser Schulen und Hochschulen und die zum Teil höchst nachlässige und lückenhafte Art des Unterrichts und der Prüfungen wirken geradezu gegen die Bestrebungen, praktische, brnnchbarc. sich der wirtschaftlichen Hebung des Landes widmende Kräfte heranzubilden. Sie vermehren nur die Zahl der Stellensucher, die vom Staat oder der Gemeinde, von der Politik, von der Tagesschriftstellerci leben wollen. Rhetoriker und Phrasenmacher ohne Kenntnis der Arbeit gelten viel zu viel. Man kann nicht von der Schule Italiens sprechen, ohne der Kirche zu gedenken. Die feindliche Stellung zur Kirche ist eine der Krankheiten Italiens. Das Königreich hat nicht bloß den Papst als Haupt des Kirchenstaats entsetzt, es hat auch die Kirche, um leben zu können, eines großen Teils ihrer Besitz¬ tümer berauben, Klöster aufheben, den Geistlichen den Einfluß auf das Schul¬ wesen entziehen müssen. Was kirchlich ist, steht daher dem modernen Italien feindlich oder doch abgeneigt gegenüber. Daher auch eine verderbliche Schwäche der konservativen Elemente. Die Stimmenthaltung der Klerikalen ist eine be¬ ständige Drohung. Das ist ein schwerer Konflikt in einem Volke, bei dem die Religiosität tiefer geht, als oberflächliche Beobachter meinen. Ich glaube nicht, daß bloß in den 42 Prozent Wählern, die 1897 nicht abgestimmt haben, die Klerikalen Italiens stecken, sondern daß, wenn die Losung „Zur Wahl" in einem günstigen Augenblick gegeben wird, eine viel größere Zahl klerikaler Stimmen fallen könnte. Mit Recht weist Fischer die seichte Ansicht mancher deutschen Protestanten zurück, daß eine Protestcintisierung der Italiener möglich sei. Er schöpft aus seiner eignen Beobachtung die Überzeugung, daß sich der Kirchen¬ besuch in den letzten siebzig Jahren nur vermehrt habe. Er mag recht haben mit seiner Ansicht, daß die Kirche durch das jetzige Verhältnis mindestens so sehr geschädigt sei wie der Staat; vielleicht hat er aber nicht recht, die von so manchem italienischen Staatsmanne vertretne Ansicht, den Staat noch wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/427>, abgerufen am 28.09.2024.