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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Italien und die Italiener

unproduktiv oder zählt kaum für die wirtschaftlichen Zwecke. Italien ist arm
an Kohlen; sein Bergbau liefert nur etwa des Ertrags des preußischen.
Die Nutzbarmachung der Wasserkräfte erschwert südlich vom Po überall die
klimatischen Verhältnisse, d. h. die Trockenheit der Sommer. Wenn trotzdem
die Industrie sich aufrecht erhalten und in einzelnen Gebieten einen großen
Aufschwung genommen hat, so ist es nur möglich gewesen mit Hilfe der un¬
gemein geringen Löhne der Arbeiter und durch die Hausindustrie, die in Italien
einen viel größern Anteil an der Gesamtleistung hat als in andern Ländern
Europas. Es ist aber auch nicht zu übersehen, daß nicht bloß ausländisches Ka¬
pital in großem Maße daran mitgearbeitet hat, sondern auch fremde Intelligenz.
Nicht bloß Leiter, sondern auch Werkmeister und Vorarbeiter industrieller
Unternehmungen sind noch sehr häufig Fremde. Der Übergang zum Schutzzoll
hat seit 1887 die italienische Industrie entschieden gefördert und in manchen
Zweigen ausfuhrfähig gemacht, wo man es nicht erwartet hatte. Aber man
übersehe nicht die Gefahr der Entwicklung einer sich besonders auf niedrige
Löhne stützenden und damit die sozialen Verhältnisse in ungesunder Weise be¬
einflussenden Großindustrie. Die soziale Frage ist immer in Italien wesentlich
eine Landfrage gewesen; die Mailänder Ereignisse von 1898 haben aber gezeigt,
daß die Industrie dort auch schon eine starke großstädtische, aktionslustige
Arbeiterpartei großgezogen hat. Noch ist kein ernstlicher Versuch gemacht
worden, die Lage der Landarbeiter zu bessern, die ein schweres inneres Leiden
und vielleicht das Haupthindernis des Gedeihens Italiens ist, und schon thut
man alles, um eine neue soziale Gefahr heraufzubeschwören.

"Die Finanzgeschichte Italiens bildet die Kehrseite der schnellen und leichten
Erfolge, dnrch welche die Einheit und Unabhängigkeit der Nation in ungeahnt
kurzer Zeit erreicht wurden." Ein wahres Wort. Die Einnahmen Italiens
haben sich seit 1361 fast vervierfacht, die Ausgaben verdoppelt, die Staatsschulden
fast verfünffacht. Die Verzinsung der Staatsschulden verschlingt ein Drittel
der Einnahmen. Die Steuern, an und für sich schwer, belasten und belästigen
die Armen dnrch ein künstliches System von Verzehrungs- und Verkehrs¬
abgaben. Das Salz wird vom Staate zum Siebensachen der Erzeugungskosten
verkauft. Aus dem Lotto zieht der Staat sechzig bis siebzig Millionen Lire.
Provinzen und Kommunen bleiben mit ihren Steuern nicht hinter dem Staate
zurück. Die Kommnnalschulden erreichten 1896 die Höhe von 1200 Millionen.
Ich teile nicht die Ansicht des Verfassers, daß die Besserung der italienischen
Finanzen nur durch die Kräftigung der Erwerbsfähigkeit der Nation zu er¬
reichen sei, denn die Besteuerung gerade hindert die Landwirtschaft und das
Gewerbe an kräftigeren Aufschwung. Schon ist das Heer auf das Notwendigste
beschränkt; aber auch Flotte und Verwaltung, diese mit ihrer Masse unnützer
Beamten und einer unglaublichen Zahl von Pensionierten, werden ihre An¬
sprüche noch mehr einschränken müssen.


Italien und die Italiener

unproduktiv oder zählt kaum für die wirtschaftlichen Zwecke. Italien ist arm
an Kohlen; sein Bergbau liefert nur etwa des Ertrags des preußischen.
Die Nutzbarmachung der Wasserkräfte erschwert südlich vom Po überall die
klimatischen Verhältnisse, d. h. die Trockenheit der Sommer. Wenn trotzdem
die Industrie sich aufrecht erhalten und in einzelnen Gebieten einen großen
Aufschwung genommen hat, so ist es nur möglich gewesen mit Hilfe der un¬
gemein geringen Löhne der Arbeiter und durch die Hausindustrie, die in Italien
einen viel größern Anteil an der Gesamtleistung hat als in andern Ländern
Europas. Es ist aber auch nicht zu übersehen, daß nicht bloß ausländisches Ka¬
pital in großem Maße daran mitgearbeitet hat, sondern auch fremde Intelligenz.
Nicht bloß Leiter, sondern auch Werkmeister und Vorarbeiter industrieller
Unternehmungen sind noch sehr häufig Fremde. Der Übergang zum Schutzzoll
hat seit 1887 die italienische Industrie entschieden gefördert und in manchen
Zweigen ausfuhrfähig gemacht, wo man es nicht erwartet hatte. Aber man
übersehe nicht die Gefahr der Entwicklung einer sich besonders auf niedrige
Löhne stützenden und damit die sozialen Verhältnisse in ungesunder Weise be¬
einflussenden Großindustrie. Die soziale Frage ist immer in Italien wesentlich
eine Landfrage gewesen; die Mailänder Ereignisse von 1898 haben aber gezeigt,
daß die Industrie dort auch schon eine starke großstädtische, aktionslustige
Arbeiterpartei großgezogen hat. Noch ist kein ernstlicher Versuch gemacht
worden, die Lage der Landarbeiter zu bessern, die ein schweres inneres Leiden
und vielleicht das Haupthindernis des Gedeihens Italiens ist, und schon thut
man alles, um eine neue soziale Gefahr heraufzubeschwören.

„Die Finanzgeschichte Italiens bildet die Kehrseite der schnellen und leichten
Erfolge, dnrch welche die Einheit und Unabhängigkeit der Nation in ungeahnt
kurzer Zeit erreicht wurden." Ein wahres Wort. Die Einnahmen Italiens
haben sich seit 1361 fast vervierfacht, die Ausgaben verdoppelt, die Staatsschulden
fast verfünffacht. Die Verzinsung der Staatsschulden verschlingt ein Drittel
der Einnahmen. Die Steuern, an und für sich schwer, belasten und belästigen
die Armen dnrch ein künstliches System von Verzehrungs- und Verkehrs¬
abgaben. Das Salz wird vom Staate zum Siebensachen der Erzeugungskosten
verkauft. Aus dem Lotto zieht der Staat sechzig bis siebzig Millionen Lire.
Provinzen und Kommunen bleiben mit ihren Steuern nicht hinter dem Staate
zurück. Die Kommnnalschulden erreichten 1896 die Höhe von 1200 Millionen.
Ich teile nicht die Ansicht des Verfassers, daß die Besserung der italienischen
Finanzen nur durch die Kräftigung der Erwerbsfähigkeit der Nation zu er¬
reichen sei, denn die Besteuerung gerade hindert die Landwirtschaft und das
Gewerbe an kräftigeren Aufschwung. Schon ist das Heer auf das Notwendigste
beschränkt; aber auch Flotte und Verwaltung, diese mit ihrer Masse unnützer
Beamten und einer unglaublichen Zahl von Pensionierten, werden ihre An¬
sprüche noch mehr einschränken müssen.


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[0426] Italien und die Italiener unproduktiv oder zählt kaum für die wirtschaftlichen Zwecke. Italien ist arm an Kohlen; sein Bergbau liefert nur etwa des Ertrags des preußischen. Die Nutzbarmachung der Wasserkräfte erschwert südlich vom Po überall die klimatischen Verhältnisse, d. h. die Trockenheit der Sommer. Wenn trotzdem die Industrie sich aufrecht erhalten und in einzelnen Gebieten einen großen Aufschwung genommen hat, so ist es nur möglich gewesen mit Hilfe der un¬ gemein geringen Löhne der Arbeiter und durch die Hausindustrie, die in Italien einen viel größern Anteil an der Gesamtleistung hat als in andern Ländern Europas. Es ist aber auch nicht zu übersehen, daß nicht bloß ausländisches Ka¬ pital in großem Maße daran mitgearbeitet hat, sondern auch fremde Intelligenz. Nicht bloß Leiter, sondern auch Werkmeister und Vorarbeiter industrieller Unternehmungen sind noch sehr häufig Fremde. Der Übergang zum Schutzzoll hat seit 1887 die italienische Industrie entschieden gefördert und in manchen Zweigen ausfuhrfähig gemacht, wo man es nicht erwartet hatte. Aber man übersehe nicht die Gefahr der Entwicklung einer sich besonders auf niedrige Löhne stützenden und damit die sozialen Verhältnisse in ungesunder Weise be¬ einflussenden Großindustrie. Die soziale Frage ist immer in Italien wesentlich eine Landfrage gewesen; die Mailänder Ereignisse von 1898 haben aber gezeigt, daß die Industrie dort auch schon eine starke großstädtische, aktionslustige Arbeiterpartei großgezogen hat. Noch ist kein ernstlicher Versuch gemacht worden, die Lage der Landarbeiter zu bessern, die ein schweres inneres Leiden und vielleicht das Haupthindernis des Gedeihens Italiens ist, und schon thut man alles, um eine neue soziale Gefahr heraufzubeschwören. „Die Finanzgeschichte Italiens bildet die Kehrseite der schnellen und leichten Erfolge, dnrch welche die Einheit und Unabhängigkeit der Nation in ungeahnt kurzer Zeit erreicht wurden." Ein wahres Wort. Die Einnahmen Italiens haben sich seit 1361 fast vervierfacht, die Ausgaben verdoppelt, die Staatsschulden fast verfünffacht. Die Verzinsung der Staatsschulden verschlingt ein Drittel der Einnahmen. Die Steuern, an und für sich schwer, belasten und belästigen die Armen dnrch ein künstliches System von Verzehrungs- und Verkehrs¬ abgaben. Das Salz wird vom Staate zum Siebensachen der Erzeugungskosten verkauft. Aus dem Lotto zieht der Staat sechzig bis siebzig Millionen Lire. Provinzen und Kommunen bleiben mit ihren Steuern nicht hinter dem Staate zurück. Die Kommnnalschulden erreichten 1896 die Höhe von 1200 Millionen. Ich teile nicht die Ansicht des Verfassers, daß die Besserung der italienischen Finanzen nur durch die Kräftigung der Erwerbsfähigkeit der Nation zu er¬ reichen sei, denn die Besteuerung gerade hindert die Landwirtschaft und das Gewerbe an kräftigeren Aufschwung. Schon ist das Heer auf das Notwendigste beschränkt; aber auch Flotte und Verwaltung, diese mit ihrer Masse unnützer Beamten und einer unglaublichen Zahl von Pensionierten, werden ihre An¬ sprüche noch mehr einschränken müssen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/426>, abgerufen am 28.09.2024.