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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Lduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie

andre Staaten erwachsen könnten. Endlich bedauert er auch die Landflucht
der bäuerlichen Bevölkerung, obgleich sie den Bataillonen der Sozialdemokratie
frische Rekruten zuführt; er sieht ein, daß es viel leichter ist, Landvolk in die
Stadt zu ziehen, als Stadtvolk ans Land und an Landarbeit zu gewöhnen,
und daß es einer rein städtischen Arbeiterdemokratie, wenn eine solche zu stände
käme, an Material für die landwirtschaftlichen Genossenschaften fehlen würde,
die doch die Grundlage des sozialistischen Staats bilden müßten.

In seinen Ansprüchen an den demokratischen Charakter des Staats ist
Bernstein sehr bescheiden; dieser scheint ihm mit dem allgemeinen Wahlrecht
und mit der gesetzlichen Aufhebung der Standesvorrechte schon gegeben zu sein,
wenn auch thatsächliche Unterschiede und Privilegien noch fortbesteht". Er
findet, daß die englische Gesetzgebung seit der Wahlreform von 1867 ganz
stetig in der Richtung auf den Sozialismus fortgeschritten sei. "Und wenn in
einzelnen Fragen die Gesetzgebung der politisch fortgeschrittensten Länder nicht
so rasch vorgeht, als es in politisch verhältnismäßig rückständigen Ländern
unter dem Einfluß thatendurstiger Monarchen oder ihrer Minister gelegentlich
der Fall ist, so giebt es dafür in Ländern eingewurzelter Demokratie in diesen
Dingen kein Rückwärts." Die Demokratie sei eben konservativ. Der Abso¬
lutismus täusche seine Träger wie seine Gegner über den Umfang ihres Könnens.
"Daher in Ländern, wo er herrscht, oder feine Traditionen noch bestehn, die
überfliegenden Pläne, die forcierte Sprache, die Zickzackpolitik, die Furcht vor
Umsturz und die Hoffnung auf Unterdrückung. In der Demokratie lernen die
Parteien und die hinter ihnen stehenden Klaffen bald die Grenzen ihrer Macht
kennen und sich jedesmal nur so viel vornehmen, als sie nach Lage der Um¬
stände vernünftigerweise hoffen können durchzusetzen." Eine solche Demokratie,
wie sie Bernstein fordert, ist offenbar das gerade Gegenteil einer "Diktatur
des Proletariats," die nur dort noch als Ideal rachsüchtiger Herzen gehegt
wird, wo sich die Arbeiter bedrückt fühlen. Es ist bezeichnend, schreibt er in
einer Anmerkung auf Seite 124, "daß die heftigsten Angriffe gegen meine
Versündigungen an dem Gedanken von der Diktatur des Proletariats von Au¬
gehörigen des despotischst regierten europäischen Staatswesens -- Rußlands --
kamen und am meisten Anklang in Sachsen fanden, wo die Regierenden im
Interesse der Ordnung ein leidlich demokratisches Wahlrecht zur Landesver¬
tretung dem Dreiklasfenunrecht aufgeopfert haben, wogegen bei Sozialisten mehr
demokratischer Länder die >in der "Neuen Zeit" veröffentlichten> angegriffnen
Artikel teils rückhaltloser Zustimmung, teils weitgehender Anerkennung be¬
gegneten." Wunder könne die Demokratie freilich nicht thun; "sie kann nicht
in einem Lande, wie die Schweiz, wo das industrielle Proletariat eine Minder¬
heit der Bevölkerung bildet, diesem Proletariat die politische Herrschaft in die
Hand spielen; sie kann auch nicht in einem Lande wie England, wo das Pro¬
letariat die zahlreichste Klasse der Bevölkerung ist, dieses Proletariat zum


Grenzboten II 1399 S1
Lduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie

andre Staaten erwachsen könnten. Endlich bedauert er auch die Landflucht
der bäuerlichen Bevölkerung, obgleich sie den Bataillonen der Sozialdemokratie
frische Rekruten zuführt; er sieht ein, daß es viel leichter ist, Landvolk in die
Stadt zu ziehen, als Stadtvolk ans Land und an Landarbeit zu gewöhnen,
und daß es einer rein städtischen Arbeiterdemokratie, wenn eine solche zu stände
käme, an Material für die landwirtschaftlichen Genossenschaften fehlen würde,
die doch die Grundlage des sozialistischen Staats bilden müßten.

In seinen Ansprüchen an den demokratischen Charakter des Staats ist
Bernstein sehr bescheiden; dieser scheint ihm mit dem allgemeinen Wahlrecht
und mit der gesetzlichen Aufhebung der Standesvorrechte schon gegeben zu sein,
wenn auch thatsächliche Unterschiede und Privilegien noch fortbesteht«. Er
findet, daß die englische Gesetzgebung seit der Wahlreform von 1867 ganz
stetig in der Richtung auf den Sozialismus fortgeschritten sei. „Und wenn in
einzelnen Fragen die Gesetzgebung der politisch fortgeschrittensten Länder nicht
so rasch vorgeht, als es in politisch verhältnismäßig rückständigen Ländern
unter dem Einfluß thatendurstiger Monarchen oder ihrer Minister gelegentlich
der Fall ist, so giebt es dafür in Ländern eingewurzelter Demokratie in diesen
Dingen kein Rückwärts." Die Demokratie sei eben konservativ. Der Abso¬
lutismus täusche seine Träger wie seine Gegner über den Umfang ihres Könnens.
„Daher in Ländern, wo er herrscht, oder feine Traditionen noch bestehn, die
überfliegenden Pläne, die forcierte Sprache, die Zickzackpolitik, die Furcht vor
Umsturz und die Hoffnung auf Unterdrückung. In der Demokratie lernen die
Parteien und die hinter ihnen stehenden Klaffen bald die Grenzen ihrer Macht
kennen und sich jedesmal nur so viel vornehmen, als sie nach Lage der Um¬
stände vernünftigerweise hoffen können durchzusetzen." Eine solche Demokratie,
wie sie Bernstein fordert, ist offenbar das gerade Gegenteil einer „Diktatur
des Proletariats," die nur dort noch als Ideal rachsüchtiger Herzen gehegt
wird, wo sich die Arbeiter bedrückt fühlen. Es ist bezeichnend, schreibt er in
einer Anmerkung auf Seite 124, „daß die heftigsten Angriffe gegen meine
Versündigungen an dem Gedanken von der Diktatur des Proletariats von Au¬
gehörigen des despotischst regierten europäischen Staatswesens — Rußlands —
kamen und am meisten Anklang in Sachsen fanden, wo die Regierenden im
Interesse der Ordnung ein leidlich demokratisches Wahlrecht zur Landesver¬
tretung dem Dreiklasfenunrecht aufgeopfert haben, wogegen bei Sozialisten mehr
demokratischer Länder die >in der »Neuen Zeit« veröffentlichten> angegriffnen
Artikel teils rückhaltloser Zustimmung, teils weitgehender Anerkennung be¬
gegneten." Wunder könne die Demokratie freilich nicht thun; „sie kann nicht
in einem Lande, wie die Schweiz, wo das industrielle Proletariat eine Minder¬
heit der Bevölkerung bildet, diesem Proletariat die politische Herrschaft in die
Hand spielen; sie kann auch nicht in einem Lande wie England, wo das Pro¬
letariat die zahlreichste Klasse der Bevölkerung ist, dieses Proletariat zum


Grenzboten II 1399 S1
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[0409] Lduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie andre Staaten erwachsen könnten. Endlich bedauert er auch die Landflucht der bäuerlichen Bevölkerung, obgleich sie den Bataillonen der Sozialdemokratie frische Rekruten zuführt; er sieht ein, daß es viel leichter ist, Landvolk in die Stadt zu ziehen, als Stadtvolk ans Land und an Landarbeit zu gewöhnen, und daß es einer rein städtischen Arbeiterdemokratie, wenn eine solche zu stände käme, an Material für die landwirtschaftlichen Genossenschaften fehlen würde, die doch die Grundlage des sozialistischen Staats bilden müßten. In seinen Ansprüchen an den demokratischen Charakter des Staats ist Bernstein sehr bescheiden; dieser scheint ihm mit dem allgemeinen Wahlrecht und mit der gesetzlichen Aufhebung der Standesvorrechte schon gegeben zu sein, wenn auch thatsächliche Unterschiede und Privilegien noch fortbesteht«. Er findet, daß die englische Gesetzgebung seit der Wahlreform von 1867 ganz stetig in der Richtung auf den Sozialismus fortgeschritten sei. „Und wenn in einzelnen Fragen die Gesetzgebung der politisch fortgeschrittensten Länder nicht so rasch vorgeht, als es in politisch verhältnismäßig rückständigen Ländern unter dem Einfluß thatendurstiger Monarchen oder ihrer Minister gelegentlich der Fall ist, so giebt es dafür in Ländern eingewurzelter Demokratie in diesen Dingen kein Rückwärts." Die Demokratie sei eben konservativ. Der Abso¬ lutismus täusche seine Träger wie seine Gegner über den Umfang ihres Könnens. „Daher in Ländern, wo er herrscht, oder feine Traditionen noch bestehn, die überfliegenden Pläne, die forcierte Sprache, die Zickzackpolitik, die Furcht vor Umsturz und die Hoffnung auf Unterdrückung. In der Demokratie lernen die Parteien und die hinter ihnen stehenden Klaffen bald die Grenzen ihrer Macht kennen und sich jedesmal nur so viel vornehmen, als sie nach Lage der Um¬ stände vernünftigerweise hoffen können durchzusetzen." Eine solche Demokratie, wie sie Bernstein fordert, ist offenbar das gerade Gegenteil einer „Diktatur des Proletariats," die nur dort noch als Ideal rachsüchtiger Herzen gehegt wird, wo sich die Arbeiter bedrückt fühlen. Es ist bezeichnend, schreibt er in einer Anmerkung auf Seite 124, „daß die heftigsten Angriffe gegen meine Versündigungen an dem Gedanken von der Diktatur des Proletariats von Au¬ gehörigen des despotischst regierten europäischen Staatswesens — Rußlands — kamen und am meisten Anklang in Sachsen fanden, wo die Regierenden im Interesse der Ordnung ein leidlich demokratisches Wahlrecht zur Landesver¬ tretung dem Dreiklasfenunrecht aufgeopfert haben, wogegen bei Sozialisten mehr demokratischer Länder die >in der »Neuen Zeit« veröffentlichten> angegriffnen Artikel teils rückhaltloser Zustimmung, teils weitgehender Anerkennung be¬ gegneten." Wunder könne die Demokratie freilich nicht thun; „sie kann nicht in einem Lande, wie die Schweiz, wo das industrielle Proletariat eine Minder¬ heit der Bevölkerung bildet, diesem Proletariat die politische Herrschaft in die Hand spielen; sie kann auch nicht in einem Lande wie England, wo das Pro¬ letariat die zahlreichste Klasse der Bevölkerung ist, dieses Proletariat zum Grenzboten II 1399 S1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/409>, abgerufen am 28.09.2024.