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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Eduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie

Herrn der Industrie machen, wenn es teils überhaupt keine Neigung dazu
verspürt, teils aber auch sich den damit verbundnen Aufgaben nicht oder noch
nicht gewachsen fühlt." Noch weniger wäre das in Ländern wie Italien
möglich, wo das ganze Volk so unreif ist, daß auch der gute Wille eines
absoluten Herrschers wenig ausrichten würde; "gegenüber der zur Tradition
gewordnen Korruption des Beamtentums und der Leichtlebigkeit der Volks¬
masse versagen häusig die bestgemeinten Gesetze und Verordnungen."

Das Ziel der Sozialdemokratie könne demnach uur erstrebt werden auf
dem Wege einer sehr langsamen materiellen Hebung und sittlichen Erziehung
des Volkes, die einander gegenseitig fördern müßten. Man könne von einer
Menschenklasse, die so elend zu leben gezwungen sei wie jetzt noch ein großer
Teil der Arbeiter, unmöglich die Intelligenz und die Moralität verlangen, die
ein sozialistisches Gemeinwesen voraussetzt. Eben deswegen aber sei es sehr
unrecht, daß der unter den sozialistischen Litteraten verbreitete Carl den jetzigen
Arbeitern die edeln sittlichen Eigenschaften schon andichte, die ihnen erst anerzogen
werden sollten, oder die sie sich selbst anzuerziehen hätten, wie so viele eng¬
lische Arbeiter als Mitglieder der Mäßigkeitsvereine gethan hätten. Noch ver¬
werflicher sei es, wenn die geistigen Führer der Sozialisten eine Thätigkeit
entfalteten, die das Gegenteil von Erziehung sei. "Gerade weil ich von der
Arbeiterklasse viel erwarte, beurteile ich alles, was auf Korruption ihres mo¬
ralischen Urteils abzielt, sehr viel strenger, als was in dieser Hinsicht in den
obern Klassen geschieht, und ich sehe mit dem größten Bedauern, wie sich in
der Arbeiterpresse hie und da ein Ton des litterarischen Dekadententums breit
macht, der nur verwirrend und schließlich korrumpierend wirken kann. Eine
aufstrebende Klasse braucht eine gesunde Moral und keine Verfallsblasiertheit."

Am meiste" ist dem so "tief gesunknen" Bernstein von seinen Freunden
das Wort übel genommen worden: "Das, was man gemeinhin als Endziel
des Sozialismus nennt, ist mir nichts, die Bewegung alles." Er antwortet
auf die Vorwürfe, die ihm dieses Wort zugezogen hat, daß die englischen
Sozialisten danach gehandelt haben, eben dadurch aus einer utopistisch-revolu¬
tionären Sekte eine Reformpartei geworden siud, die in den Municipalitäten
und andern Selbstverwaltungskörpern nützliche Arbeit leistet und sowohl mit
den früher gering geachteten Gewerkschaften wie mit den Genossenschaften engere
Fühlung gewonnen hat. Einer seiner Kritiker hat ihn einen kritiklosen Nach¬
beter des Sozialreformers Schulze-Gävernitz genannt, weil dieser geschrieben
habe, nur der revolutionäre Sozialismus müsse die Verstaatlichung aller
Produktionsmittel als Endziel aufstellen; der praktische fasse nur die nähern
Ziele ins Auge. Darauf erwidert Bernstein, er erkenne an, daß er von
Männern der Schule Brentanos auf viele Thatsachen aufmerksam gemacht
worden sei, die er vorher uicht oder ganz unzulänglich gewürdigt habe, und
er schäme sich sogar nicht, zu gestehn, daß er auch aus dem bekannten Buche


Eduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie

Herrn der Industrie machen, wenn es teils überhaupt keine Neigung dazu
verspürt, teils aber auch sich den damit verbundnen Aufgaben nicht oder noch
nicht gewachsen fühlt." Noch weniger wäre das in Ländern wie Italien
möglich, wo das ganze Volk so unreif ist, daß auch der gute Wille eines
absoluten Herrschers wenig ausrichten würde; „gegenüber der zur Tradition
gewordnen Korruption des Beamtentums und der Leichtlebigkeit der Volks¬
masse versagen häusig die bestgemeinten Gesetze und Verordnungen."

Das Ziel der Sozialdemokratie könne demnach uur erstrebt werden auf
dem Wege einer sehr langsamen materiellen Hebung und sittlichen Erziehung
des Volkes, die einander gegenseitig fördern müßten. Man könne von einer
Menschenklasse, die so elend zu leben gezwungen sei wie jetzt noch ein großer
Teil der Arbeiter, unmöglich die Intelligenz und die Moralität verlangen, die
ein sozialistisches Gemeinwesen voraussetzt. Eben deswegen aber sei es sehr
unrecht, daß der unter den sozialistischen Litteraten verbreitete Carl den jetzigen
Arbeitern die edeln sittlichen Eigenschaften schon andichte, die ihnen erst anerzogen
werden sollten, oder die sie sich selbst anzuerziehen hätten, wie so viele eng¬
lische Arbeiter als Mitglieder der Mäßigkeitsvereine gethan hätten. Noch ver¬
werflicher sei es, wenn die geistigen Führer der Sozialisten eine Thätigkeit
entfalteten, die das Gegenteil von Erziehung sei. „Gerade weil ich von der
Arbeiterklasse viel erwarte, beurteile ich alles, was auf Korruption ihres mo¬
ralischen Urteils abzielt, sehr viel strenger, als was in dieser Hinsicht in den
obern Klassen geschieht, und ich sehe mit dem größten Bedauern, wie sich in
der Arbeiterpresse hie und da ein Ton des litterarischen Dekadententums breit
macht, der nur verwirrend und schließlich korrumpierend wirken kann. Eine
aufstrebende Klasse braucht eine gesunde Moral und keine Verfallsblasiertheit."

Am meiste« ist dem so „tief gesunknen" Bernstein von seinen Freunden
das Wort übel genommen worden: „Das, was man gemeinhin als Endziel
des Sozialismus nennt, ist mir nichts, die Bewegung alles." Er antwortet
auf die Vorwürfe, die ihm dieses Wort zugezogen hat, daß die englischen
Sozialisten danach gehandelt haben, eben dadurch aus einer utopistisch-revolu¬
tionären Sekte eine Reformpartei geworden siud, die in den Municipalitäten
und andern Selbstverwaltungskörpern nützliche Arbeit leistet und sowohl mit
den früher gering geachteten Gewerkschaften wie mit den Genossenschaften engere
Fühlung gewonnen hat. Einer seiner Kritiker hat ihn einen kritiklosen Nach¬
beter des Sozialreformers Schulze-Gävernitz genannt, weil dieser geschrieben
habe, nur der revolutionäre Sozialismus müsse die Verstaatlichung aller
Produktionsmittel als Endziel aufstellen; der praktische fasse nur die nähern
Ziele ins Auge. Darauf erwidert Bernstein, er erkenne an, daß er von
Männern der Schule Brentanos auf viele Thatsachen aufmerksam gemacht
worden sei, die er vorher uicht oder ganz unzulänglich gewürdigt habe, und
er schäme sich sogar nicht, zu gestehn, daß er auch aus dem bekannten Buche


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[0410] Eduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie Herrn der Industrie machen, wenn es teils überhaupt keine Neigung dazu verspürt, teils aber auch sich den damit verbundnen Aufgaben nicht oder noch nicht gewachsen fühlt." Noch weniger wäre das in Ländern wie Italien möglich, wo das ganze Volk so unreif ist, daß auch der gute Wille eines absoluten Herrschers wenig ausrichten würde; „gegenüber der zur Tradition gewordnen Korruption des Beamtentums und der Leichtlebigkeit der Volks¬ masse versagen häusig die bestgemeinten Gesetze und Verordnungen." Das Ziel der Sozialdemokratie könne demnach uur erstrebt werden auf dem Wege einer sehr langsamen materiellen Hebung und sittlichen Erziehung des Volkes, die einander gegenseitig fördern müßten. Man könne von einer Menschenklasse, die so elend zu leben gezwungen sei wie jetzt noch ein großer Teil der Arbeiter, unmöglich die Intelligenz und die Moralität verlangen, die ein sozialistisches Gemeinwesen voraussetzt. Eben deswegen aber sei es sehr unrecht, daß der unter den sozialistischen Litteraten verbreitete Carl den jetzigen Arbeitern die edeln sittlichen Eigenschaften schon andichte, die ihnen erst anerzogen werden sollten, oder die sie sich selbst anzuerziehen hätten, wie so viele eng¬ lische Arbeiter als Mitglieder der Mäßigkeitsvereine gethan hätten. Noch ver¬ werflicher sei es, wenn die geistigen Führer der Sozialisten eine Thätigkeit entfalteten, die das Gegenteil von Erziehung sei. „Gerade weil ich von der Arbeiterklasse viel erwarte, beurteile ich alles, was auf Korruption ihres mo¬ ralischen Urteils abzielt, sehr viel strenger, als was in dieser Hinsicht in den obern Klassen geschieht, und ich sehe mit dem größten Bedauern, wie sich in der Arbeiterpresse hie und da ein Ton des litterarischen Dekadententums breit macht, der nur verwirrend und schließlich korrumpierend wirken kann. Eine aufstrebende Klasse braucht eine gesunde Moral und keine Verfallsblasiertheit." Am meiste« ist dem so „tief gesunknen" Bernstein von seinen Freunden das Wort übel genommen worden: „Das, was man gemeinhin als Endziel des Sozialismus nennt, ist mir nichts, die Bewegung alles." Er antwortet auf die Vorwürfe, die ihm dieses Wort zugezogen hat, daß die englischen Sozialisten danach gehandelt haben, eben dadurch aus einer utopistisch-revolu¬ tionären Sekte eine Reformpartei geworden siud, die in den Municipalitäten und andern Selbstverwaltungskörpern nützliche Arbeit leistet und sowohl mit den früher gering geachteten Gewerkschaften wie mit den Genossenschaften engere Fühlung gewonnen hat. Einer seiner Kritiker hat ihn einen kritiklosen Nach¬ beter des Sozialreformers Schulze-Gävernitz genannt, weil dieser geschrieben habe, nur der revolutionäre Sozialismus müsse die Verstaatlichung aller Produktionsmittel als Endziel aufstellen; der praktische fasse nur die nähern Ziele ins Auge. Darauf erwidert Bernstein, er erkenne an, daß er von Männern der Schule Brentanos auf viele Thatsachen aufmerksam gemacht worden sei, die er vorher uicht oder ganz unzulänglich gewürdigt habe, und er schäme sich sogar nicht, zu gestehn, daß er auch aus dem bekannten Buche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/410>, abgerufen am 28.09.2024.